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Ausgabe:

1987

Spalte:

62-65

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Spieckermann, Ingrid

Titel/Untertitel:

Gotteserkenntnis 1987

Rezensent:

Stoevesandt, Hinrich

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Seite 1, Seite 2, Seite 3

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Theologische Literaturzeitung 112. Jahrgang 1987 Nr. I

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menschlichen Selbstverständnisses im 18. Jh. nie übersehen werden
sollten. Das Ganze wird abgeschlossen mit Erörterungen über ..Das
Datum: Zwischen den Zeiten". Die Rahmenthemen sind vielleicht
ein wenig weit, haben vielleicht etwas zu wenig vom Hamannschen
„Biß" und vom Zentralen seiner Aussageabsicht. Aber sie müssen vieles
fassen. Darum ist schon verständlich, warum Bayer sie so formuliert
hat.

Es scheint kaum möglich, dem Bayerschen Interpretations-Kommentar
hier nun noch einmal einen zusammenfassenden Kommentar
hinterherzuschicken. Ebensowenig ist es möglich, sich diskutierend in
Einzelfragen der Interpretation zu verlieren, bei denen durchaus auch
kontroverse Gesichtspunkte geltend gemacht werden könnten. Bayers
Hamanndeutung ist von den Hamannschriften „Schriftsteller und
Kunstrichter" (I 762) und „Leser und Kunstrichter" (1 762) bestimmt.
Sie orientiert sich - kritisch gegen Hegel - am Begriff des Partikularen:
„Halten sich diese Schriften in konkreten Bezügen, sind sie daraufhin
angelegt, aufgenommen zu werden. Anstoß zu bereiten, wollen sie zu
denken geben. Mut machen oder erschüttern, stiften sie Beziehungen,
sind sie ollen für das Eingreifen dos Lesers, schneiden sie ein Weiterspinnen
nicht durch eine systematische Entfaltung im Sinne eines perfekten
.Ausdenkens' ab. dann haben sie ihre kommunikative Kraft
gerade durch ihre .Partikularität'" (S. 4). Bayer steht mit diesem Deutungsansatz
ein wenig anders da als die ältere, nach 1945 ansetzende
Forschungsgeneration, die - vielleicht zu sehr von Kierkegaard mitbestimmt
- die kerygmatische Autorabsicht Hamanns etwas stärker ins
Spiel brachte. Bayer nimmt das auch auf. Aber er dämmt es auch hin
und wieder zurück (s. etwa zu „Seminiverbius". S. 128-131. bei dem
die Assoziation „Samenredner" jedenfalls im „Letzten Blatt" partout
keine Rolle spielen soll).

Fragt man. wie Bayers Deutungsansatz bei der Interpretation des
„Letzten Blattes" fruchtbar wird, so muß man den Schritten der Interpretation
der ein/einen Abschnitte nachgehen. Zum ersten Abschnitt
zeigt Bayer, wie Hamann in Auseinandersetzung mit Entwürfen wie
dem der «Etudes de la Nature» den Apostel Paulusnach 1 Kor 13 und
1 Kor I zur Geltung bringt: Man sieht da bestenfalls „durch einen
Spiegel in einem dunklen Wort", aber die „Menschlichkeil" der göttlichen
Kraft und Weisheit findet sich in den „Urkunden" des Evangeliums
: sie ist den Juden Ärgernis und den Griechen Torheit. Nach diesem
Hinweis auf das wahre Erkenntnis erst ermöglichende Konkre-
tum der göttlichen Kondeszendenz folgt der zweite Abschnitt, der der
Kulturkritik des Rousseauschülers St. Pierre eine „zugespitzt ehristo-
logisch gefaßte Eschatologie" (S. 82) gegenüberstellt. Bayer hebt aus'«
dem vielschichtigen Hamannschen Text einen eschatologisch bestimmten
Zeit- und Cieschichtsgcdanken im Sinne der „Dualität eines
qualifizierten Vergehens (des Alten) und Werdens dies Neuen)"
(S. 86) heraus und konzentriert die Deutung dann auf Hamanns Zita)
von Gal 3,28: „Die Vollendung der Welt besteht in der Einung aller,
ihrer durch Jesus Christus gestifteten Einheit und Gemeinschaft"
(S. 88). Diese einende Vollendung will Bayer nun - seiner Ansicht
nach mit Hamann - auf keinen Fall „neutrisch, zeitlos und monistisch
" verstanden wissen, sondern „christologisch personal,
geschichtlich und in sich relational" (S. 93), womit wir beim Grundgedanken
wären: Eschatologisch aufgehoben wird nicht das Konkrete
und Partikulare, sondern das Kontliktbereitende und Schmerzmachende
, also die „Quelle des Leides" (S. 93). Bei der Interpretation
des dritten Abschnittes schließen sich die Deutungsspitzen der
beiden vorangegangenen Abschnitte eng zusammen: Die göttliche
Kondeszendenz geht zum Kreuz, die „Magna Moralia" geschieht
dort, wo mit Hcbr 5,8 im Leiden gelernt wird und „die Leiden die
wahren Lehren" (Hamann) sind. Das Konkrctissimum also ist das
lehrende Leid, und Hamanns „Letztes Blatt" stellt sich als das
Bekenntnis eines Mannes dar. der sagen will, daß man „Metakritik"
seiner Zeit nur treiben kann in der Bereitschaft christlicher Lcidcns-
nachfolgc: „Keine Kritik ohne Kreuz ... die Wahrnehmung der Welt
und meiner selbst in der Erfahrung Gottes geschieht als Lernen durch
Leiden" (S. III).

Hierüber wird weiter nachzudenken sein. Bayer hat zweifelsohne
die Aussagezuspitzung des „Letzten Blattes" erfaßt. Es scheint nur, als
habe er vielleicht ein wenig aus dem Auge verloren, daß der konkrete
„Leser", den Hamann hier anredet, Amalia v. Gallitzin war. Das
„Blatt" ist - darin wird ja mit Bayer Einverständnis herrschen - nicht
nur Selbstaussage, sondern auch kerygmatische Selbstdarlegung, die
kurz vor dem wohl erahnten Lebensende ganz und gar durchwirkt ist
vom Ausblick auf eschatologische Vollendung. Der Rcz. hätte diese
Spannung einer in nichts kokettierenden, sondern der Kreuzesnachfolge
entstammenden Demutsaussage und eines fast unendlich ausgreifenden
Hoffnungs- und Vollendungsausblicks neben dem Leidensthema
gerne etwas mehr akzentuiert gesehen. Also vielleicht
doch auch noch stärker: Entkleidung und Verklärung. Aber darüber
kann man reden, und das läßt sich nun, nachdem Bayers Interpretation
vorliegt, von einer hervorragend zubereiteten Grundlage aus
tun.

O. Bayer und Ch. Knudsen haben zweierlei getan: Sie haben die
Forschung zum „Letzten Blatt" Johann Georg Hamanns gültig
zusammengefaßt und neu grundgelegl; und sie haben eine Interpretation
verfaßt, an deren Kenntnisreichtum. Weite und Intensität niemand
vorbeikommt, der sich mit Hamanns „Letztem Blatt", das nun
wohl endgültig als ein Schlüsseltext des 18. Jh. erwiesen ist. beschäftigen
wird.

Jena Martin Seils

Systematische Theologie: Dogmatik

Spieekermann, Ingrid: Gottescrkenntnis. Ein Beitrag zur Grundfrage
der neuen Theologie Karl Barths. München: Kaiser 1985. 236 S. 8"
= Beiträge zur evang. Theologie, 97. Kart. DM 78.-.

Ende 1985. drei Jahre nach ihrer Annahme als Göttinger Dissertation
(bei H.-Ci. Geyer), erschien diese Arbeit: am Vorabend des Jubiläumsjahres
von Barths 100. Geburtstag und wahrscheinlich gewichtigster
Beitrag zur Beantwortung der durch das Jubiläum erneut nahegelegten
Frage, was dem Jubilar im entscheidenden zu verdanken ist.
Der zielsichere Griff nach dem. was da in der diffusen Rezeptions- und
Wirkungsgeschichte des Barthschen Werkes zu erfragen ist, dokumentiert
sich bereits in dem doppelt bestimmten Artikel des Untertitels:
Barths Werk stellt gegenüber der liberal-theologischen Tradition, aus
der es entspringt und sich herausarbeitet, weiter zurück, aber gegenüber
den „christlich-abendländischen Denktraditionen" überhaupt
(177), als „ein auf ein prinzipiell Neues hinzielendes Denken" (ebd.)
so grundsätzlich ein Novum dar. daß man sie angemessen als die neue
Theologie bezeichnen darf. Und ihre Neuheit liegt so zentral in dem
rigorosen Aufwcrfen der Frage nach der Gotteserkenntnis, daß diese
mit Recht du Grundfrage dieser Theologie heißen kann. Zutreffender
als mit dieser Fragestellung kann der Impetus Barths nicht erfaßt,
kann die Kontur seines Werkes - die unter dessen Breite und der Vielfalt
seiner Wandlungen dem Blick so leicht entgleitet - nicht nachgezeichnet
werden.

Die Konzentration auf den dergestalt fixierten springenden Punkt
wird durch das gahze Buch hindurch streng durchgehalten. Das
bedingt, daß der Gegenstand der Untersuchung wie in einer Röntgenaufnahme
erscheint: Das Skelett tritt in einer Genauigkeit, die in der
Barth-Literatur ihresgleichen sucht, hervor: das Fleisch ist zu einem
guten Teil ausgeblendet. (Daß die Vfn. doch auch für dieses einen
Blick hat. erweist sich an der sicheren Hand, mit der sie mitunter auch
biographische Züge in ihre Argumentation einordnet. Es ist aber
sicher auch etwas dran an ihrer Feststellung, daß Barths Theologie vor
1930 - aus guten Gründen! - eine Tendenz zur „Entleerung" der
„konkreten Inhaltlichkeit . . . zur bloßen Form dieses eigentlichen
Inhalts" [229] innewohnt - so daß die „Röntgen"-Mcthodc auch als
durch den Stoff nahegelegt erscheint.) Der stets auf den Kern gerichtete
Blick macht die Lektüre hochgradig anspruchsvoll: doch gewinnt