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Ausgabe:

1987

Spalte:

821-823

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Titel/Untertitel:

Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus 1987

Rezensent:

Meier, Kurt

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Theologische Literaturzeitung 112. Jahrgang 1987 Nr. 11

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und zwar Tür Dresden im Jahre 1917. (408) Siegfried Bräuer wendet
sich der Analyse des „Deutschen Luthertages 1933" zu (423) und legt
dar, wie wenig Luther damals am Tage war. Der für französische und
deutsche Kulturgeschichtsschreibung exzellent ausgewiesene Sorbonne
-Professor Frederic G. Hartweg untersucht das von Bewunderung
erfüllte Lutherbild des französischen Sozialistenführers Jean
Jaures. (444 f)

Das Kaleidoskop der neuen Fragestellungen und -richtungen ist
noch mannigfaltiger, als hier dargetan werden konnte. Vieles ist
zusammengetragen in dem hier angezeigten Band, alles deutet daraufhin
, daß wir mit Luther nicht fertig waren und sind. Der Rez. müßte
sich bei jedem einzelnen Referenten entschuldigen, der nicht genannt
worden ist. Und auch die Genannten sind mit ihren Thesen nicht
eigentlich recht vorgestellt. So kann man zugunsten des aufschlußreichen
Bandes nurdazu auffordern: Nimm und lies!

Görlitz Joachim Roggc

Kirchengeschichte: Neuzeit

Schmädeke. Jürgen, u. Peter Steinbach [Hg.]: Der Widerstand gegen
den Nationalsozialismus. Die deutsche Gesellschaft und der Widerstand
gegen Hitler. Mit einem Vorwort von W. Treue. Im Auftrag
der Historischen Kommission zu Berlin in Zusammenarb. mit der
Ciedenkstättc Deutscher Widerstand. München-Zürich: Piper
1985. XXXVIII, 1185 S. 8°. Kart. DM 29.80.

Dieser stattliche Band, der über 60 Beiträge aus dem Bereich der
Widerstandsforschung enthält, ist das Ergebnis der „Internationalen
Konferenz zum 40. Jahrestag des 20. Juli 1944" in Westberlin.
Unter dem Konferenzthema „Die deutsche Gesellschaft und der
Widerstand gegen Hitler-eine Bilanz nach 40 Jahren" stand ein breites
Spektrum von widerstandsrelevanten Forschungsthemen zur Diskussion
- in neun Problcmkomplexe gegliedert. Der antifaschistische
Widerstand im Dritten Reich wird unter partei-, gewerkschafts-,
kirchen-, presse- und vor allem militärpolitischen Grundaspekten
ereignis- und handlungsspczifisch unter den jeweiligen Zielperspektiven
vorgestellt. Dabei kommen Einzelthemen in differenter Weise
problcmbezogen oft sogar mehrfach zur Sprache. Auch der kommunistische
und sozialdemokratische Widerstand ist nicht ganz ausgespart,
sondern neben dem allerdings dominierenden „nationalkonservati-
vcn". bürgerlich-zivilen wie auch militärischen Oppositionsvcrhalten
eigens thematisiert. Für die Spannweite der Betrachtung ist charakteristisch
, daß Aktivitäten des Nationalkomitees „Freies Deutschland"
(954-976) ebenso erörtert werden wie die Frage nach „Selbstbehauptung
und Widerstand in nationalsozialistischen Konzentrationslagern
" (938-953).

Neben Themen unter der Rubrik „Der Widerstand und die deutsche
Gesellschaft" tritt etappenspezifisch der „Widerstand in der
Konsolidierungsphase des NS-Rcgimes" ins Blickfeld (KPD, SPD,
Zentrumspartei. Situation der konservativen Elite, der nationalrevolutionären
Gegner, der Bündischen Jugend, der nichtkonformen
Publizistik). Verhandelt werden die Entwicklungsphasen und Ambivalenzen
der nationalkonservativen und militärischen Opposition
insbesondere während der Kriegszeit, auch in ihrer Zuordnung, ihren
Zielvorstellungen und Motivationsbereichen. Die Auslandsbeziehungen
des politischen Widerstands und die Frage nach seiner Inlands-
resonanz, Umsturzchancen und ihre objektiven Voraussetzungen
werden ausgiebig erörtert. Ein umfassendes Tagungsresümec der
Hgg.. das Probleme und Ergebnisse der Diskussion konkret vermittelt,
bildet den Abschluß (1119-1 158). Der Tagungsband, dem ein Vorwort
von Wolfgang Treue und eine längere Einleitung der Hgg. vorausgeschickt
ist, enthält ein Personenregister sowie ein Autorenverzeichnis
(mit Kurzvitcn und Publikationsangaben). Alle Beiträge sind
mit einem auch bibliographisch brauchbaren Anmerkungsapparat
ausgestattet.

In Teil III: „Kirchen und Konfessionen zwischen Kooperation und
Teilwiderstand" wird die kirchenhistorische Problematik des Einstellungsverhaltens
von katholischer und evangelischer Kirche zum NS-
Regime vorgestellt. Hier gelingt es vornehmlich der katholischen
Seite, die Resistenzkraft der kirchlichen Institution herauszuarbeiten.
Auch die religiöse Volksopposition wird benannt, wie sie u. a. Heinz
Boberach editorisch aufgewiesen hat. Klaus Scholder (gest. 1985)
weist darauf hin, daß das Widerstandspotential in beiden Kirchen
nicht wirklich aktiviert worden sei (261). Im Protestantismus
herrschte bei den Bekenntniskräften nur ein Minimalkonsens in der
Negation der faschistoid-orientierten Deutschen Christen, aber weithin
keine Konformität in der Beurteilung des Nationalsozialismus.

Daß ein breiter Widerstandsbegriff nötig sei, um die Bekennende
Kirche als Widerstandspotential zu erfassen, ist richtig. In diesem
Zusammenhang gewinnt die Diskussion um das auch allgemeinhistorisch
relevante Resistenzproblem zentrale Bedeutung. Der ältere, auf
Staatsstreich, Attentat und Umsturz bezogene Widerstandsbegriff
dominiert. Vertreter sozialgcschichtlicher Verhaltensforschung im
Blick auf das Dritte Reich kommen gleichwohl zu Wort (vgl. bes. den
Beitrag: „Soziale Grundlagen von Resistenz und Widerstand";
799-812). Auf den Resistenzbegriff, der-auch bei Fehlen einer politischen
Widerstandsmotivation im engeren Sinne - Widerständigkeit
und Nonkonformität, Dissens und Dissidenz zum NS-System umschreibt
, wird auch sonst verschiedentlich Bezug genommen (248,
799ff, 825, 1101, 1119, 11430. Da im außerdeutschen Bereich
«resistance» der terminus technicus für den politischen Widerstand
ist und dessen Organisationsform einschließt, wird Resistenz als
Bezeichnung der politischen Widerstandsbewegung gegen den Faschismus
und die deutsche Okkupation schlechthin verstanden; Resistenz
und Widerstand können also als Synonyme betrachtet werden.
Die sozialgeschichtlich differente Bedeutung von Resistenz als Beschreibung
von widerständigem, resistentem Verhalten einzelner wie
von Bevölkerungsschichten im Dritten Reich (milieubedingt, interessenbezogen
, traditions- und mentalitätsbestimmt) ist indes - ebenso
wie der Kampf der Kirchen als solcher - als „objektiver Störfaktor"
im Gefüge des NS-Systems zu würdigen. Auch außen- wie innenpolitische
Konstellationen können eine solche antifaschistische Störfunktion
bewirken. Der Resistenzbegriff versteht sich transsubjektiv ausgreifend
, schließt nicht notwendig eine bestimmte Motivation ein,
fragt nicht durchweg moralisch-legitimativ, sondern ist vielmehr
effektiv orientiert. Daß gesellschaftliche Voraussetzungen als potentielle
Bedingungen für die Realisierung von Widerstand im engeren
Sinne der gezielten Regimebckämplüng gelten müssen, steht außer
Frage.

Daß der Kirchenkampf Widerstandsmotivation für die nationalkonservative
Opposition war (7540. ist bekannt, noch mehr aber die
Judenverfolgung und -Vernichtung. Auch zum Problem Judenfrage
und Widerstand wird differenzierend Stellung genommen (598-616).
Für die oft konträre Sichtweise der Widerstandsbedeutung der Kirchen
im Dritten Reich ist es charakteristisch, daß teils die Widerstandsqualität
des institutionellen Kirchentums rundweg negiert wird
(soC. Dipper, 599), wennschon die kirchlich-religiöse Motivation bei
vielen Verschwörern des 20. Juli 1944 feststeht (so auch bei Oster).
Andererseits gilt die unpolitische Opposition der Kirchen funktional
als Politicum (besonders eindrücklich bei Heinz Hürten. 240f0. Was
Kirchenkampf als Widerstandsproblem betrifft, so habe ich mich
dazu in Band 3 meiner Gesamtdarstellung „Der evangelische Kirchenkampf
" (Halle/S. und Göttingen 1984) ausführlich geäußert.
Realhistorische Betrachtungsweise wird die antifaschistische Störfunktion
des Kirchenkampfes nicht in Abrede stellen.

Die weitere Entwicklung der Forschung wird sich der Frage einer
wirklichkeitsadäquaten, heute noch etwas kontroversen Zuordnung
des an sich schon pluriformen politischen Widerstands zu den funktionalen
Resistenzfaktoren stellen müssen und damit einer sozialgeschichtlich
vermittelten integrativen Geschichtsschreibung im
Blick auf das Widerstandsproblem Rechnung tragen. Die in diesem