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Ausgabe:

1987

Spalte:

59-62

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Bayer, Oswald

Titel/Untertitel:

Kreuz und Kritik 1987

Rezensent:

Seils, Martin

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S9

Theologische Literaturzeitung I 12. Jahrgang 1987 Nr. I

(.0

schichtliches Verstehen. Dazu kommt, daß auch Stoa und Epikur
zweifellos in ahnliehen Fragestellungen gründen wie Pyrrhon, so daß
auch sie dem Verstehenshorizont eines „Pyrrhonisten" nicht unmöglich
fern liegen. Hossenfelder umreißt die Problematik dieser ganzen
Epoche damit, daß es /wischen dem Verfügbaren und dem Unverfügbaren
richtig zu unterscheiden gilt: Das Verfügbare kann der Mensch
ethisch gestaltendem Unverfügbaren muß er mit größtmöglicher Unerschütterlichkeit
, Ataraxie begegnen; seine Lebenskunst besteht nun
darin, das eine vom anderen auseinanderzuhalten, um seine Kräfte
nicht an Unmögliches zu vergeuden und so zum größtmöglichen
Lebensgenuß zu kommen. Zwar ist nach Hossenfelder die Skepsis
diesem Ziel am nächsten gekommen, aber Stoa und Epikur haben es
nicht völlig verfehlt, sondern eben nur unvollkommen erreicht. Deshalb
hat Hossenfelder Verständnis auch für sie. Auch hier wird also
Philosophiegeschichte vom eigenen Standpunkt her beurteilt, aber
das ist kein Standpunkt, der den zu besprechenden Denkern völlig
fremd wäre und ihnen deshalb nicht gerecht werden könnte. Wenn so
das Vorhaben, eine Philosophiegeschichte vom eigenen philosophischen
Standort her zu schreiben, ein lür Schreiber und Beschriebenen
einigermaßen sinnvolles Resultat zeitigen soll, dann in der Art dieses
Bandes III. Deshalb kann - unter den oben genannten Voraussetzungen
- Band III auch gut empfohlen werden.

Es bleibt nun abzuwarten, was uns die folgenden neun Bände darzubieten
haben werden. Auf alle Fälle ist hier eine Philosophiegeschichte
zu schreiben begonnen worden, die sich mit der denkerischen
Vergangenheit einmal vom eigenen philosophischen Denken
aus (hier von dem des Kritischen Rationalismus) auseinandersetzen
will. Wieweit das gelingt und gelingen kann, wird sieh auch in den
noch zu erwartenden Teilen nur von Band zu Band entscheiden
lassen. Das Begonnene - so scheint mir - kann in dieser Hinsicht bereits
die Möglichkeiten, aber auch die Gefahren eines solchen Unternehmens
deutlich werden lassen.

Marburg(Lahn) Günther Keil

Bayer, Oswald, u. Christian Knudsen: Kreuz und Kritik. Johann
Georg Hamanns Letztes Blatt. Text und Interpretation. Tübingen:
Mohr 19X3. X. 174 S.. I Falttaf. gr. 8° = Beiträge zur historischen
Theologie. 66. Kart. DM 69.-.

Die Geschichte ist verwickelt. Aufseiner „Reise in die Ewigkeif'
(Hans Franck) zum ..Kreis von Münster" mit Friedrich Heinrich
Jacobi und Amalia Fürstin v. Gallitzin im Jahre 1787/88 wird
Johann Georg Hamann (1730-1788) das Stammbuch der Tochter der
Fürstin. Marianne, zur Eintragung vorgelegt. Die letzte Eintragung
stammt von Sophie v. La Roche („Geschichte des Fräuleins v. Slern-
heim". 1771). Hamann, der seine (erste) Eintragung am 17. 10. 1787
in Pempelfort macht, bezieht sich darauf und schreibt in das Stammbuch
vier Sätze aus den «Etudes de la Nalure» (1784) von Jaques
Henri Bcrnardin de St. Pierre, die er gerade gelesen hat. Sic ergeben
eine leicht-tiefsinnige Kritik an der La Roche-Eintragung. Dann aber
bekommt Hamann das Stammbuch der Marianne v. Gallitzin (auch
Goethe hat später darin geschrieben) im Mai 1788. kurz vor seinem
Tod. noch einmal in die Hand. Inzwischen ist er zum geistlichen
Berater aus lutherischer Frömmigkeit heraus für die katholisch konvertierte
Amalia v. Gallitzin geworden. Er will nun in das Stammbuch
hinein davon etwas sagen, will mehr sagen, will eigentlich alles
sagen. Am 17. 5. 1788 schreibt er in Französisch. Vulgatalatein und
etwas Griechisch sein Lebensbekenntnis, einen Text, der im Hinblick
auf Lebens- und Zeitbedeutung manchmal mit Blaisc Pascals
«Memorial» verglichen worden ist.

Der Text bleibt in verborgener Weise aufbewahrt. Auf den verschlungenen
Wegen des Hamann-Nachlasses wird ein Entwurfsblatt
Hamanns mittransportiert, das den La Roche-Text, den Hamanntext
vom 17. 10. 1787 und zwei Entwürfe für den Hamanntext vom
17. 5. I 788 enthält. Außerdem gibt es eine Abschrift der vollzogenen
Eintragung vom 17. 5. 1788 in einem Brief Hamanns an Jacobi vom

nächsten Tage (erstmals gedruckt 1868). Im Jahre 1949 stellt Josef
Nadler, der an der „historisch-kritischen" Hamann-Ausgabe arbeitet
und die Nachlaßpapiere in Fotokopie gerettet hat (jetzt UB Münster),
in seiner Hamann-Biographie die Eintragung von Münster als „Letztes
Blatt" groß heraus. Aber die Ausgabe zerlegt das Entwurfsblatt in
Bd. III (1951), IV (1952) und V (1953) derart in Einzelsplitter, daß
eigentlich jede Hoffnung auf Einsicht in die ursprünglichen Text- und
Lebens/usammenhänge verstellt ist. Es kommt aber anders. 1953
beginnt Wilhelm Koepp aufgrund des Jacobi-Briefes die Textzusammenhänge
zu ahnen. Ebenfalls 1953, dann noch einmal 1955 legt
Martin Seils die Textzusammenhänge des Nachlaßblattes (immernoch
ohne Kenntnis des Blattes selbst, das sich bei Nadler befindet)
und die Lebensverflechtungen mit dem Stammbuch (er meint zuerst,
es habe der Fürstin selber gehört) genauer dar. Nachdem dies geschehen
ist, spricht sich herum, daß das Stammbuch auch noch anders
vorhanden ist, und zwar im Nachlaß von Annette v. Droste-HülshotV.
Die Goethe-Forschung wußte das schon. Bei der Hamann-Forschung
droht zunächst tiefe Enttäuschung: die Hamann-Texte stehen nicht
drin. Aber dann entsteht Licht: ü. Bayer und Ch. Knudsen können -
was inzwischen bereits vermutet worden war - zweifelsfrei nachweisen
, daß an einer Stelle des Stammbuches eine ganze und an anderer
Stelle eine halbe Seite fehlen und daß genau hier die beiden Hamann-
Eintragungen gestanden haben müssen. Die Fürstin war offenbar die
erste, die die Bedeutung des „Blattes" erkannte. Sie hat die Texte nach
Hamanns Tod aus dem Stammbuch ihrer Tochter herausgetrennt und
bei sich behalten.

Das Buch von O, Bayer und Ch. Knudsen - in dem Knudsen vorwiegend
die Entstehungs- und Forschungsgeschichte sowie die Textkritik
. Bayer vorwiegend die Interpretation bearbeitet hat. wobei beide
sich aber gegenseitig ergänzten - setzt den auf lange Zeit wahrscheinlich
unüberbietbaren Schlußstein der Forschungs- und Interpretationsgeschichte
. Die Forschungsgeschichte wird eingehend nacherzählt
. Die Entstehungsgeschichte 1787/88 wird minutiös und nun
sicher endgültig nachkonstruiert. Der Text vor allem des Nachlaßblattes
, aber auch des Jacobi-Briefes (inzwischen auch von Arthur
Henkel in der Hamann-Briefausgabe. Bd. 7. 1979. noch einmal ediert)
wird exakt gesichert und hergestellt, wobei insbesondere Knudsen in
bewunderungswürdiger Weise versucht hat. aus dem Textbestand des
Entwurfsblattes die Gedanken- und Arbeitsschritte Hamanns bis ins
Einzelne hinein nachzuweisen. Schließlich gibt Bayer aufgrund der
nun aufgeschlüsselten Entstehungs- und Textgeschichte und des nunmehr
genau gelesenen Textes eine umfassende Textinterpretation, die
sich bemüht, die Aussage des „Letzten Blattes" ausderGesamtgcdan-
kcnwelt Hamanns, besonders aber derjenigen seiner Spätschriften,
und deren Bezug zum Geist des 18. Jahrhunderts zu erfassen und verständlich
zu machen.

Die Textrekonstruktion ist im ganzen gelungen. Ein Vergleich mit den dem
Rez. in Kopie vorliegenden Hamann-Texten zeigt aber immer noch ein paar
Unsicherheiten und Versehen: S. 52. /. 2 statt dabei = dabey; S. 52. Z. I 3 doch
wohl besser stall virtus = vertu (wie S. 53 zu Z. 13 für möglieh erklärt): S. 54,
Z. 21 statt Sinu doch wohl besser sinu; S. 55 zu Z. 20 steht das ..cum wird gestriehen
" doppelt, es müßte wohl am Zeilenanl'ang weggenommen werden; S. 58.
Z. 35 fehlt die Unterstreichung bei etymologiques; S. 58, Z. 36 statt DEUS =
D1EU. so dann auch S. 59 zu Z. 36: S. 58. Z. 36 fehlt die Unterstreichung bei
Judaeis scandalum: S. 63. Z. 20 statt filiis = filiis -: S. 63. Z. 21 steht eindeutig
ein großes Pi. was sich im Vergleich zu S. 60. Z. 43 erhärten läßt und auch sinnvoll
ist. da Hamann zuletzt das Eius weggelassen hat. - Wer weiß, wie schwer die
Texte zu lesen sind, wird diese kleine Liste nicht überbewerten; für die Fragen
der Textinterpretation hat sie keine Bedeutung.

O. Bayers Interpretation geht der erkennbaren Gliederung des
„Blattes" nach. Im ersten Abschnitt sieht er Hamann zu den Themen
„Metaphysik und Offenbarung", im zweiten zum Thema „Alte Welt
und neue Welt", im dritten, entscheidenden zum Thema „Offenbarung
und Passion", im vierten, überleitenden zum Thema „Kritik und
Politik" sprechen. Der letzte Abschnitt behandelt unter dem Thema
„Die Unterschrift: Selbstbezeichnungen" die erregende Reihe der
knappen Hamannschen Selbstaussagen, die bei der Ortung des