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Ausgabe:

1987

Spalte:

744-746

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Hagner, Donald A.

Titel/Untertitel:

The Jewish reclamation of Jesus 1987

Rezensent:

Wiefel, Wolfgang

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Theologische Literaturzeitung 112. Jahrgang 1987 Nr. 10

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Verbrennung der Rolle (601), 7,21 -28 in das Jahr 594, 7,29-34 um
600 oder kurz danach, so daß die Verse 21 -28, die die chronologische
Abfolge stören, in den älteren Zusammenhang eingesetzt erscheinen.
Ziemlich knapp geht die Auslegung über die in 7,31 erwähnten Kinderopfer
„für Molech" im Hinnomtal hinweg. Letzteres identifiziert
H. mit dem Tyropoion-Tal. Die enge, fast wörtliche Übereinstimmung
zwischen 7,30-34 und 19,5-7 veranlaßt H., eine alte Hypothese
von A. Kuenen neu zu beleben: 19,1-15 sei die von Baruch
stammende narrative Version zu dem Wort 7,30-34 (vergleichbar
dem Verhältnis von Kap. 26 zu 7.1-15). Diese Erklärung, die - gegen
alle Indizien - die Einheitlichkeit von 19,1-20,6 voraussetzt, ist
äußerst unwahrscheinlich und nimmt das dritte Vorkommen der Thematik
in 32,34f nicht zur Kenntnis. Hingegen trennt H. 8,1-3,
wenn auch etwas zögernd, von dem jer. Textmaterial und rechnet mit
exilischer Entstehung. Ebenso beurteilt er 9,1 1-15, setzt den Text
jedoch in nachexilischer Zeit an. Andererseits schreibt er den fast allgemein
als spät betrachteten Text 10,1-16 (einschließlich des aramäischen
Verses 11) Jeremia zu.

Die „Konfessionen", die vor 11,18-12,6 eine einleitende Behandlung
erfahren, rechnet H. mit Recht zum unzweifelhaft jer. Material.
Der Prophet gebraucht hier die Form der individuellen Klage, die er
dadurch aus ihrem gottesdienstlichen Bereich löst.

Die Gerichtsbegründungen in 5,19 und 16,10-13 werden in einer
zirkulär anmutenden Argumentation von Jeremia hergeleitet. Die
Sabbat-Rede 17,19-27, obwohl wie 7,1-15 ein "covenantal speech",
ist keine jer. Überlieferung, sondern "a word that helped to shape the
outlook of the postexilic Community" (511). Der Bericht von Jeremias
Besuch beim Töpfer (18,1-12) ist eine authentische Einheit, in die
Jeremia später seine Erfahrungen nachtrug (V. 12). Sie selbst entstand
zwischen 609 und 605/04, doch könnte in 1-6 ein Wort über Nordisrael
zugrunde liegen. Der Gesamttext stellt "a striking presentation
ofdivine sovereignty and human freedom" (515) dar. 22,1-5 erkennt
H. zutreffend als Prosa-Variante des Spruches 21,11 f, beurteilt den
Text aber dennoch als authentische Warnung für die Bewohner des
Palastes, vermutlich aus der Anfangszeit Jojakims. Dann ist es auch
nicht überraschend, daß heilsverheißende Texte wie 23,1-4 und
23,5-6 ebenfalls in die prophetische Verkündigung eingeordnet werden
, allerdings in eine spätere Phase (588/87). Aus der Rede 25,1-14,
deren LXX-Text H. als den älteren bevorzugt, arbeitet er einen in
1-7* vorliegenden Grundbestand heraus ("a kind of gcneralization of
the temple sermon", 667), der den Abschluß der ersten Rolle
bildete.

Der Kommentar, das muß nochmals betont werden, prozediert klar
und übersichtlich und scheut um der Deutlichkeit willen auch Wiederholungen
nicht. Er bietet viel Material und sorgsame Detailarbeit
in der Einzelexegese. Hier wird auch derjenige Benutzer viel Akzeptables
finden, der wie der Rez. den Grundansatz des Werkes nicht teilt.
Dieser ist nämlich ausgeprägt konservativ und harmonisierend. Möglichst
viel an Textmaterial, darunter auch höchst problematisches,
wird dem Propheten zugeschrieben. Die Redaktionsgeschichte des
Buches wird gleichsam in die Wirkungszeit Jeremias zurückverlegt
und mit dem Diktat der beiden Rollen von Kap. 36 und einer angeblich
dritten Rolle von Kap. 30-31* verknüpft. Dabei spielt ein so
ungesichertes Argument wie die Datierung der Rollenverbrennung
auf 601 eine wichtige Rolle. Auch sonst wirkt die Argumentationsbasis
nicht allzu überzeugend. "There is no reason to question its
authenticity" (zu 23,5f. 617 u. a.) ersetzt keine Sachargumentation.
Wortspiele, Kunstprosa und andere formale Eigentümlichkeiten sind
keine untrüglichen Anzeichen jer. Verfasserschaft. Schüler des Propheten
und Redaktoren, die sich an seiner Sprache geschult hatten,
waren wohl imstande, solche Formen nachzuahmen.

Zu leichthändig wird H. mit der Annahme einer dtr. Diktion in der
Prosa-Tradition fertig. Seine Gegenargumente tragen nicht. Die
Hypothese einer alle 7 Jahre seit 622 stattfindenden Verlesung des
Deuteronomiums wird durch keinen Text belegt. H. begründet sie mit
der Annahme, daß bestimmte Texte in diese Situation hineingehören

müßten. Das bleibt eine ungewisse Vermutung. Daß Dtn 31.9-13
bereits zum josianischen Gesetzbuch gehörte, ist eine ganz unsichere
Annahme. Die Weiterführung evtl. praktizierter Gesetzesverlcsungen
nach dem Tode Josias widerspricht allem, was wir von der Religionspolitik
Jojakims und seiner Nachfolger wissen. Zur Erklärung dtr.
Terminologie im Jeremiabuch reicht die Sprachgestalt des vor-dtr.
Deuteronomiums ohnehin nicht aus. Als inhaltliche oder formale
Parallelen für einige Texte bezieht sich H. auf 2Kön 22,17 (zu 1,16)
sowie auf Ex 19,3-6; Jos 24; ISam 12 (zu-7,1-15), ohne die dtr.
Gestaltung dieser Texte wahrzunehmen.

An einigen Stellen führt die Detailbcobachtungdcs Vf. zu kuriosen Entschei-
dungen. Weil in 2,2fdas Wort „Ernteertrag" vorkommt, soll der Spruch seinen
Sitz am Laubhütten fest haben. In 11,1-17 begegnet der Terminus ..Verschwörung
" (V. 9). Er wird als Indiz dafür gewertet, daß die Rede in den geschichtlichen
Kontext des in Kap. 27 widergespiegelten Aufstandsplancs gegen
Nebukadnezar (594) gehört. Daßdie beiden Begriffe in ihrem jeweiligen Zusammenhang
ganz andere Bezüge aufweisen, nämlieh in die Relation Israel/Juda -
Jahwe eingebunden sind, spielt bei dieser höchst formalisierten Argumentation
keine Rolle. Den hymnischen Vers 20,13 schließlich interpretiert H. als die
dankende Antwort Jeremias auf den Tod Hananjas. Auch dieser Versuch, ein
Psalm-Fragment für den Propheten Jeremia zu reklamieren, gehört in den
Bereich der exegetischen Phantasie.

Marburg(Lahn) Winfried Thiel

Judaica

Hagner, Donald A.: The Jewish Keclamation of Jesus. An Analysis
and Critique of Modern Jewish Study of Jesus. With a Foreword by
G. Lindeskog. Grand Rapids, MI: Zondervan 1984.341 S. 8".

Es ist nicht die Regel, daß ein Autor, der zu einem kontroversen
Gegenstand das Wort nimmt, seinen Standpunkt bereits im Eingangsabschnitt
klar zu erkennen gibt. Donald A. Hagner, nordamerikanischer
Neutestamentier (Füller Theological Seminary) und als Schüler
und Freund von F. F. Bruce der konservativen Richtung in der
angelsächsischen Bibelwissenschaft zugehörig, scheut sich nicht, sich
"evangelical" zu nennen und zu bekennen, daß er gegen einen mächtigen
Trend im gegenwärtigen christlich-jüdischen Dialog anschreibt.
Er ist besorgt, daß ein zu leicht gewonnener Konsens in der Jesusfrage
die Positionen relativiert statt sie zu klären. Als die sich immer deutlicher
abzeichnende Grundrichtung jüdischer Jesusforschung konstatiert
er die Übernahme des von der protestantischen liberalen Theologie
entworfenen Jesusbildes und die auf dieser Basis erfolgende Inte-,
gration Jesu in die jüdische Religionsgeschichtc.

Der Vf. macht freilich auch klar, daß diese Wertung der Gestalt Jesu
im modernen Judentum am Ende eines langen Weges steht, der über
weite Strecken von entschiedenster Ablehnung gekennzeichnet war.
So greift die vorgelegte Darstellung, die als analysis and critique of
modern jewish study of Jesus gedacht ist, weit zurück und bezieht
sowohl die Minäerbitte des Achtzehngebetes als auch die weit über
das Mittelalter hinaus wirksame jüdische Jcsuslegende ein. Sie arbeitet
heraus, daß sich erst das Reformjudentum des ausgehenden 19. Jh.
von der polemischen Fixierung löste und mit einer wissenschaftlichen
Jesusforschung begann. Auf die bahnbrechende Rolle des britischjüdischen
Gelehrten Claude Montefiore (1858-1938) wird verwiesen,
der zeitgleich mit der christlichen exegetischen Wissenschaft die
Bedeutung der rabbinischen Studien Tür das Neue Testament entdeckte
. Als seither wirkende Konstanten der jüdischen Jesusforschung
lassen sich erkennen: der Versuch. Jesus zu den zeitgenössischen jüdischen
Parteien in Beziehung zu setzen; ihm die Rolle eines innerjüdischen
Reformers zuzuerkennen; den Gegensatz zu Paulus als dem
eigentlichen Begründer des Christentums herauszustellen (ein Aspekt,
dem H. bereits in seinem Beitrag zur Festschrift für F. F. Bruce besondere
Aufmerksamkeit gewidmet hat).

Ein eigener Abschnitt gilt der jüdischen Rezeption der Evangelien-