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Ausgabe:

1987

Spalte:

52-53

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Titel/Untertitel:

Petrus Damiani, Die Briefe des Petrus Damiani 1987

Rezensent:

Haendler, Gert

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Theologische Literaturzeitung I 12. Jahrgang 1987 Nr. 1

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Das Buch (das französische Original erschien 1981 unter dem Titel
«La Naissancedu Purgatoire») holt weitaus: Jenseitsvorstellungen im
Hinduismus, im Iran und in Ägypten (dessen Vorbild ein besonderes
Gewicht bei der Ausbildung späterer europäischer Höllenvorstellungen
zuzuschreiben ist), die Unterweltvorstellungen der griechischrömischen
Antike und des Judentums sowie frühchristliche Beschreibungen
des Schicksals der Toten führen zu einem Abschnitt hin,
der auf „die Väter des Fegefeuers" aufmerksam macht. Zu ihnen
gehören für Le Goff neben Clemens Alexandrinus und Origenes vor
allem und in erster Linie Augustin („der wahre Vater des Fegefeuers
"), neben ihm aber sogleich Gregor der Große. Ein wichtiges
Kapitel untersucht die „Stagnation der doktrinären Entwicklung"
und die Visionsliteratur des Frühmittelalters. Dieses Kapitel untersucht
nacheinander verschiedene europäische Territorien, in denen
Jenseitsvisionen überliefert wurden: Spanien, Irland, Gallien, Germanien
und Großbritannien. Bereits in dieser Periode gibt es Häretiker,
die jeden Gedanken an ein Fegfeuer ablehnen - eine Beobachtung,
die sich bis ins Spätmittelalter fortsetzt. Die Tendenz der Visionen des
Frühmittelalters beschreibt der Vf. als zunehmende „Infernalisie-
rung" des Fegfeuers: Das eher heitere Jenseitsbild der Kelten und
Germanen bekommt finstere, schreckhafte Züge. Politische Bedeutung
bekommt, wie schon W. Levison nachgewiesen hatte, die Vision
Karls des Dicken. Die Liturgie des Frühmittelalters läßt, kulminierend
in Cluny, das Anwachsen der Sorge um das Schicksal der Verstorbenen
erkennen, ohne das Faktum eines reinigenden bzw. läuternden
Feuers ausdrücklich zu benennen.

Ein 2. Teil befaßt sich mit der „Geburt des Fegefeuers im 12. Jahrhundert
". In ihm wird zunächst der Beitrag unterschiedlicher gesellschaftlicher
Schichten zur Problematik gemustert: die Mönchstheologie
, die städtische Theologie, die volkssprachliche Literatur. Das Ergebnis
ist, daß die Frage nach dem Fegfeuer am Beginn des 12. Jh.
mit großen Unklarheiten belastet ist, obwohl - abgesehen von häretischen
Gruppen - kein Zweifel an seiner Existenz zu bemerken ist.
Ähnliches läßt sich bei einer Reihe von großen Theologen dieses Jh.
beobachten (Hugo von St. Viktor, Bernhard, Gratian, Petrus Lombar-
dus). Die eigentliche „Geburt des Fegefeuers", für Le Goff sich im
ersten Auftreten des Substantivs purgatorium dokumentierend, wird
auf das Jahrzehnt zwischen 1170 und 1180 angesetzt (vorsichtiger
äußert er sich S. 240:.....etwa zwischen 1170 und I 180 in der theologisch
-geistlichen Literatur. . . und zwischen 1180 und 1215 in der
Visionsliteratur. . . Die entscheidenden Ereignisse in der Geschichte
des Glaubens, der Mentalitäten und Sensibilitäten sind selten nach
Jahr und Tag datierbar, und das Fegefeuer wurde also um die Wende
vom 12. zum 13. Jahrhundert geboren ") Eine Schlüsselrolle bei der
Einführung der gewandelten Terminologie scheint die Kathedralschule
von Notre-Dame de Paris, speziell Petrus Manducator, gespielt
zu haben. Als zweites Zentrum für die Verbreitung des neuen Terminus
und der damit verbundenen spezifischen örtlichen Einteilung des
Jenseits ist Citeaux zu nennen. Unmittelbare Folge davon ist eine
zweite Welle von Erzähllitcratur, die Fegfeuererlebnisse, speziell Erscheinungen
von Verstorbenen zum Inhalt hat. Jetzt kommt es auch
zur Lokalisierung des Eingangs zum Fegfeuer an verschiedenen
Orten Europas: in Irland, auf Sizilien. Damit greift auch die sich entfaltende
Bußtheologie nach dem neu entdeckten Jenseitsort und kate-
gorisiert Sünde und Sündenstrafe neu. Le Goff stellt alle diese Vorgänge
in den Zusammenhang des Gesamtumbruchs des Hochmittelalters
, der mit den Stichworten Quantifizierung. Kartographie und
Kalkül gekennzeichnet werden kann. In das Zentrum des religiösen
Interesses treten nun individueller Tod und Sterbestunde.

„Der Triumph des Fegefeuers" (3. Teil) ereignet sich in der ordnenden
und systematisierenden Arbeit der Hochscholastik. Ihm läuft „der
gesellschaftliche Triumph" parallel: die Übernahme der Fegfeuerlehre
in die Bußpredigt der Bettelorden und die Frömmigkeit der Be-
ginen. Die Koppelung von Ablaß für die Seelen im Fegfeuer und
Bußtheologie im Heiligen Jahr 1300 bleibt ein vorsichtiger, letztlich
nicht rezipierter Anlauf. Im Grunde genommen bringt die Entfaltung

der Fegfeuerfrömmigkeit einen Bedeutungsverlust der Hölle
(S. 362).

Le Goffs Werk mündet ein in eine ausführliche Darstellung der
Fegfeuerproblematik in Dantes Divina Comedia. Eine wenige Seiten
umfassende Reflexion befaßt sich schließlich mit den Gründen für das
Interesse am Fegfeuer: Ist für die Beschäftigung mit ihm, die mit dem
sich intensivierenden Gemeinschaftsgefühl zwischen Lebenden und
Toten verbunden ist, eher die Aussicht auf das Paradies oder das Spiel
mit der Angst maßgebend?

In den letzten Sätzen des Buches deutet der Vf. seine eigene Haltung
zu einer gegenwärtigen Deutung der Fegfeuerüberlieferung an,
indem er davor warnt, den Glauben seiner Bilder zu berauben. Vier
Anhänge geben bibliographische Informationen, stellen noch einmal
gesondert die Geschichte des Wortes „Purgatorium" dar-ein Zeichen
dafür, wie wichtig dem Vf. der linguistische Aspekt ist - und führen
in ikonographische Beobachtungen ein, denen übrigens auch die Abbildungen
nach S. 240 dienen.

Das Buch enthält eine Fülle von Material, ja es hat über weite
Strecken hin den Charakter einer interpretierenden Quellenuntersuchung
. Einbezogen werden bisher unzugängliche handschriftliche
Quellen, besonders aus der 2. Hälfte des 12. Jh. im Pariser Bereich,
und wo es für den Autor wichtig ist, wird in die Diskussion um eine genauere
Datierung von Texten eingegriffen (vgl. z. B. S. 2390- Der weit
gespannte Interpretationshorizont, der gerade auch die Frömmigkeitspraxis
einbezieht, verhindert jedoch eine bei Texten des Hochmittelalters
naheliegende Verengung des Gesichtsfeldes.

Zu bedauern ist. daß die Betreuung der Übersetzung eines so gewichtigen
Bucheseine Reihe von störenden Mängeln aufweist. Zu ihnen gehören weniger
die an Zahl geringen Druckfehler. Störender beim Lesen sind unrichtige Artikel.
So heißt es durchgängig ..das Scheol" (obwohl in einem Literaturzitats. 111 die
Scheol auftritt), „das Gehenna". „das Traktat" und „das ignis purgatorius".
Vermag man an einigen Stellen die eigenwillige Schreibweise von Eigennamen
noch sich zu übersetzen („Marcio" S. 66, „Pseudo-Deny" S. 328. ..Domeni-
eus" S. 385, 398 und 399. ..Gothen" - ! - S. I lOf, 282f. „Zyprian" S. 79). so
muß man an anderen Stellen bereits rätseln (..Die Gentilen" S. 323 sind olfenbar
die Heiden. ..Eukologie" S. 152 bedeutet wohl Euchologie. ..Worte der
Institution" S. 151 wohl Einsetzungsworte; aber wer ist der „Mimus" S. 389?
Ein Spielmann?), um an weiteren Stellen sich verführt vorzukommen (S. 59/
„die Reformierten" muß wohl heißen ..die Reformatoren", S. 226: „Anna"
muß heißen „Hannas" - ! -. S. 241: „Primat von Irland" ..Primas") oder in
ernsthafte Zweifel an der Richtigkeit der Übersetzung zu verlallen (stein im
französischen Original zu S. 229 vorl. Z. vielleicht ..monachisme". wo ..Monarchismus
" übersetzt ist??). Derlei Beobachtungen beeinträchtigen natürlich das
Vertrauen in die Übersetzung.

Einige wenige redaktionelle Schwächen lallen auf: S. 229 Anm. 103 und
S. 252 Anm. 134 sind die Verweisungen unklar. S. 130 Anm. 152 und S. 217
Anm. 85 fehlen die Bandzahlen zu PL. Bei der Darstellung der Memorabilia des
Gerard de Frachet fehlen die Nachweise (S. 385-387). Zu bedauern ist. daß bei
der Informationsdichte der Darstellung der Band kein Register enthält.

„Ich glaube in der Tat, daß kleinste linguistische Veränderungen,
soweit sie sich an strategischen Punkten der Sprache vollziehen. Zeichen
entscheidender Ereignisse sind" (S. 275). Solchen Veränderungen
gilt das Hauptaugenmerk von Le Goff, auf ihnen sind die Thesen
dieses Buches aufgebaut (der Vf. bezeichnet sich darum selbst als
„Nominalist"). Möglicherweise wird die weitere Diskussion um die
Geschichte des Fegfeuers um diesen Ansatz und diesen Blickwinkel
kreisen. Schon gegenwärtig steht fest, daß die Forschung dem vorliegenden
Buch des großen französischen Gelehrten Entscheidendes
verdankt.

Leipzig Ernst Koch

Reindel, Kurt [Hg.]: Die Briefe des Petrus Damiani. Teil I: Nr. 1-40.
München: Monumenta Germania Historica 1983. VII, 509 S. 4* =
Monumenta Germaniae Historica. Die Briefe der deutschen
Kaiserzeit, IV. Bd.

Als Prior des Klosters Fönte Avellana bei Ravenna unterstützte
Petrus Damiani die Reformbewegungen. Er suchte auch Verbindung