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Ausgabe:

1987

Spalte:

717

Autor/Hrsg.:

Jaspert, Bernd

Titel/Untertitel:

- 730 Karl Barths Theologie am Ende des 20. Jahrhunderts: Peter Hertzberg zum 60. Geburtstag 1987

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717

Theologische Literaturzeitung 112. Jahrgang 1987 Nr. 10

718

Karl Barths Theologie am Ende des 20. Jahrhunderts

Peter Hertzberg zum 60. Geburtstag
Von Bernd Jaspert, Kassel

I

Die folgende Besinnung auf die Bedeutung der Theologie Karl
Barths für die theologische Arbeit am Ende des 20. Jh.' bietet aufgrund
des zur Verfügung stehenden begrenzten Rahmens

~ 1. keinen Überblick über Barths Theologie im Sinne einer Bestandsaufnahme
aller ihrer einzelnen Teile und der genetischen
Beziehung dieser Teile zueinander;

~ 2. keinen Vergleich der Theologie Barths mit anderen Theologien
am Ende des 20. Jh. in der Art eines Pro und Contra und der
Einordnung von Barths Lebenswerk in die Kirchen- und Theolo-
giegeschichtc unseres Jh.;

- 3. keine Kritik der Theologie Barths, wie sie in der Vergangenheit
von bestimmten Standpunkten aus immer wieder mit entsprechenden
Schlagworten wie z. B. „Supranaturalismus", „neue
Orthodoxie" (Paul Tillich), „Offenbarungspositivismus" (Dietrich
Bonhoeffer), „Offenbarungspantheismus" (Falk Wagner)
u. v. a. m. angegriffen, damit aber nicht unter ihren eigenen Prämissen
wirklich begriffen wurde2.

Wer mit den Mitteln der historisch-kritischen Methode die vielen
Auseinandersetzungen, Fehden und Kriege Barths mit seinen theolo-
g'schen wie außertheologischen Zeitgenossen und Vorfahren untersucht
, wer damit Barth zuschaut, wie er seine Theologie anfängt, aufbaut
, verteidigt, revidiert, neu aufbaut, wieder verteidigt, weiter treibt,
aufs neue verteidigt, wie er immer wieder andere Theologien angreift
und bei alledem ein Leben lang nur das eine erkenntnisleitende Inter-
esse hat: „in primis Deus", wer also den Prozeß der Theologie Barths
von ihrem Ursprung bis zu ihrem Ende im historischen Kontext vor
Augen hat, für den gibt es zum Verständnis dieser Theologie drei
Unabdingbare hermeneutischc Voraussetzungen3:
~ 1. Karl Barth ist beim Wort zu nehmmen. Das heißt, seine Texte
sind nicht nur auszugsweise, sondern ganz zu lesen, intensiv in
ihrer Veranlassung, in ihrer Absicht und ihrem Kontext zu studieren
, ohne daß wir ihnen gleich mit Kritik aus unserer Perspektive
begegnen. Vielmehr haben wir uns Barths Wort erst einmal
als das gesagt sein zu lassen, was er in einem bestimmten historischen
Augenblick als das ihm angemessen Erscheinende sagen
wollte und schließlich gesagt hat, das heißt, wozu er stand.
~ 2. Karl Barths Theologie vom „Römerbrief' bis zur „Kirchlichen
Dogmatik" ist, „alle Selbstkorrekturen und Kehren wohl
bedacht"4, als ein konsequenter Weg zu sehen, der im „Römer-
brief seinen theologischen Anfang wie seine theologische
Grundlage und in der „Kirchlichen Dogmatik" sein theologisches
Ziel hat. Barths Theologie vor dem „Römerbrief' ist seinem
eigenen Werksverständnis entsprechend als ein, wenn auch
wichtiges. Präludium zu begreifen. Wer da meint, gerade in dieser
Hinsicht den Autor besser verstehen zu können, als er sich selbst
verstand, der sehe wohl zu, daß er nicht sein eigenes Steckenpferd
lieber reite als den Gaul, den der Autor im Gefecht der Theologie
zurückgelassen hat und der nun darauf wartet, zu neuem Angriff
mit Futter gestärkt, gut gesattelt und scharf geritten zu werden
oder schlicht sein Gnadenbrot zu erhalten, um dann alsbald sein
letztes „Adieu!" zu hören! Barth wäre, wie wir ihn kennen, für
Füttern, Satteln und Angreifen gewesen.

- 3. Karl Barths Theologie ist in ihrem Prozeß als ein Ganzes und
eine Einheit zu betrachten. Sie ist kein Steinbruch, aus dem wir
uns beliebig Steine herausbrechen dürften, um damit unser eigenes
bescheidenes theologisches Häuschen neben die schon von
weitem und erst recht von nahem viel imposantere theologische
Pyramide Barths zu bauen. Für das, was wir uns als hermeneuti-
sches Prinzip in dieser Sache selbst verbieten wollen, können wir

mit einem anderen Bild auch sagen: Wir wollen dem Baumeister
Barth weder heimlich noch coram publico Steine und Sand entwenden
, um damit zu werfen, wohin wir gerade wollen, womöglich
in Richtung Barths selber! Barth wird dem, der solches zu tun
versucht, - wie Luther - selbst widerstehen, indem es bei ihm -
wie bei Luther - immer wieder die Überraschung gibt, daß ihm
auch noch anderes Bau- oder Wurfmaterial zur Verfügung steht,
will sagen, daß er immer auch noch etwas ganz anderes geschrieben
oder gesagt hat als das, was wir gerade für unsere eigenen Interessen
als nützlichen Treffer für oder gegen ihn meinten verbuchen zu
können. Unser Wurf könnte auch danebengegangen sein, wenn wir
erkennen, daß Barth noch ganz andere theologische Brocken - wie
ehedem der von ihm nicht sonderlich geschätzte Kierkegaard -
anzubieten hat als das Steinlein oder Sandkörnlein, mit dem wir
just in die falsche Richtung gezielt haben!
Beim Verstehen der Theologie Karl Barths sind also in jedem Falle
Fleiß, Ausdauer und Demut im Sinne des Sich-selbst-Hintanstellens
geboten. Nur so haben wir eine Chance, dieser - menschlich gesprochen
- großen Sache, dieses großen Werkes wirklich ansichtig zu werden
. Die Annahme oder Ablehnung der Botschaft dieses Werkes sind
eine zweite Sache und stehen hier nicht zur Debatte. Zu oft haben die
Schüler und Kritiker Barths in der Vergangenheit den zweiten vor
dem ersten Schritt getan. Heute gilt es, den ersten Schritt zu tun: Karl
Barth zu verstehen. Vermutlich werden wir dabei wie bei allem
menschlichen Verstehen je nach unserer geistigen Disposition, also
unserer persönlichen, gesellschaftlichen und theologisch-kirchlichen
Verfassung nur einen Teil dessen verstehen, was wir doch als Ganzes
verstehen wollen. Aber diese Einsicht in unsere menschlichen Grenzen
soll und darf uns nicht hindern, das Verstehen zu wagen, auch
wenn es am Ende Stückwerk bleibt wie all unser Wissen (vgl.
IKor 13,9).

II

Karl Barths theologisches Hauptwerk, „Die Kirchliche Dogmatik
"5, endet mit einem Fragment, das er eineinhalb Jahre vor seinem
Tod noch selbst hat herausgeben können6. Er hat geahnt, daß
dieser vierte Teil des vierten Bandes der KD über „Die Taufe als
Begründung des christlichen Lebens" seine „letzte größere Veröffentlichung
sein" würde und daß er mit diesem Buch „noch einmal in der
gewissen Einsamkeit auf dem theologisch-kirchlichen Plan stehen
werde", so schreibt er in der Osterzeit 1967 im Vorwort, „in der ich
ihn vor bald 50 Jahren betreten habe, daß ich mir also mit ihm einen
schlechten Abgang zu verschaffen im Begriffe stehe. Sei es denn!"

In der Tat, das Buch hat in der Zunft der neutestamentlichen wie
der systematischen, vor allem aber der kirchenleitenden Theologen,
besonders in der sogenannten „Volkskirche" im Bereich der Bundesrepublik
Deutschland, Ärger bereitet, für Aufregung und z. T. geharnischte
Antworten an Barth gesorgt. Aber es hat auch, besonders aus
den evangelischen Kirchen in der Deutschen Demokratischen Republik
und aus anderen Ländern, vor allem aus den sogenannten „Freikirchen
", weit über Europa hinaus leise bis lebhaft-laute Zustimmung
gefunden8. Einen „schlechten Abgang" hat sich Barth also höchstens
in dem Sinne verschafft, als auch sein Auftritt auf der kirchlichtheologischen
Bühne ein halbes Jh. zuvor nicht wenigen Zeitgenossen
ärgerlich war und seine Rolle, die er seither in Theologie und Kirche
spielte, für viele ärgerlich blieb.

Offenbar gehörte es schon beizeiten und dann allerdings bis zum
Schluß zu Barths Wesen, zu dem, was er dachte, schrieb und tat,
gehörte es also zu seinem Leben, daß sich an ihm ähnlich wie an dem
von ihm immer kritisch betrachteten und doch zugleich verehrten