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Ausgabe:

1987

Spalte:

50-52

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Le Goff, Jacques

Titel/Untertitel:

Die Geburt des Fegefeuers 1987

Rezensent:

Koch, Ernst

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Theologische Literaturzeitung 112. Jahrgang 1987 Nr. 1

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Er besaß keinen Lehrstuhl, noch bekleidete er ein hohes kirchliches
Amt, noch konnte er durch Vertraute unmittelbar auf kirchliche Entscheidungen
Einfluß nehmen. Karrer war von Haus aus Historiker.
Als junger Jesuit veröffentlichte er seine erste Arbeit über den dritten
General des Ordens, Franz Borja.

Aber Otto Karrer besaß auch ein ungewöhnlich waches Gespür für
die Lebensfragen seinerzeit. Auch in seiner schriftstellerischen Arbeit
hat der seelsorgliche Aspekt Vorrang; er war zuerst und vor allem
Seelsorger. Im deutschen Sprachraum wurde er von 1930 bis 1970 zu
einem großen Vermittler der christlichen Botschaft.

Worin lag das Besondere seines Lebens?

Zunächst ist die Weite seiner theologischen Interessen und ihr
schriftstellerischer Niederschlag zu erwähnen.

In der Mitte seiner Arbeit steht eine eigenständige Übersetzung des
Neuen Testaments und eine Reihe von Evangelienauslegungen.

Da ist das Mühen um die großen Gestalten des Glaubens zu
nennen: Augustinus. Ignatius, Franz von Sales, Newman, seine
Arbeiten über Meister Eckhart und die deutsche Mystik sind zu erwähnende
und bleiben. Themen christlichen Glaubensverständnisses
und Lebensgestaltung (Sinnfragen der menschlichen Existenz, Unsterblichkeit
, Gebet. Vorsehung, Wunder, Weltreligionen. Frauenfragen
) hat er mit der ihm eigenen Sensibilität behandelt.

Eine weitere Eigenart seiner Arbeiten ist die Betonung des Gemeinsamen
aller christlichen Konfessionen. Er ging nicht vom Römisch-
Partikulären aus. Er verleugnete das Katholische keineswegs, doch
immer bleibt das grundlegend Christliche der Ausgangspunkt. Sehr
früh erhalten so seine Überlegungen einen ökumenischen
Grundzug.

Neben seiner schriftstellerischen Arbeit wirkte er durch Vortrag
und Predigt. 40 Jahre stand er - von kurzen Unterbrechungen
abgesehen - auf der Kanzel von St. Paul in Luzern. Sein Haus war
ollen für die Menschen. Die Otto-Karrcr-Gemeinde bestand aus drei
konzentrischen Kreisen: der Predigtzuhörer, der weitgestreuten Leser
seiner Schriften und der intensiv Betreuten einer kaum mehr ZU
bewältigenden Seelsorge und Korrespondenz.

Otto Karrer ist eine der großen Gestalten der Kirche des 20. Jh. Ein
solcher Mann hat eine gründliche und lesbare Biographie verdient.
L. Höfer. die langjährige Mitarbeiterin Karrers. legt mit dem hier
vorzustellenden Buch eine Schilderung des Lebensweges Otto Karrers
vor. Victor Conzemius hat die Arbeit betreut und eingeleitet. Das
Buch konnte nur geschrieben werden, weil die ..Vereinigung der
Freunde von Otto Karrer" (1977 in Lu/ern gegründet) die Arbeit
ermöglichten.

Als Ouellcn benutzte die Vfn. die Sclbstporträts Otto Karrers: Otto
Karrer: Das neue Buch (Luzem 1948 49). Autobiographisches in
Cullmann: Begegnung der Christen (Stuttgart 1959). Stirninumn:
Freiheit in der Begegnung (Stuttgart1969) und Bekenntnis eines
Optimisten. Dankanspraehc Karrers bei der Verleihung des Inner-
schweizerischen Kulturpreises 1969. Ihr stand der Nachlaß Otto
Karrers zur Verfügung, und in ihrem Dankeswort am Ende des
Buches gibt sie Rechenschaft, welche Zeitgenossen, Institute und
Bibliotheken ihr durch mündliche und briefliche Erinnerungsberichte
halfen.

Liselotte Höfer gliedert ihren Stoff in zehn Abschnitte und Fügt in
einem Anhang das Memorandum Otto Karrers von 1959 zum II. Vatikanischen
Konzil bei. Anmerkungen. Abkürzungen. OucJlim und
Literaturverzeichnis und die Bibliographie Karrers mit 468 Veröffentlichungen
aus der Zeit von 1921 bis 1976 folgen. Ein Personenregister
schließt die Arbeit ab.

Das gründlich gearbeitete Buch macht anschaulich und packend ein
Stück Zeit- und Kirchengcschiehtc lebendig. Es zeichnet den Weg der
Kirche aus der Zeit des Antimodernistencides zur Kirche des
II. Vatikanischen Konzils deutlich nach. Es berichtet von dem Ringen
in der Kirche zwischen Charisma und Institution; es erzählt vom
Menschlichen in der Kirche und von der neuen Begegnung zwischen
Kirche und Welt und von dem ..Wunder" der Öffnung der Kirche

Roms zur Orthodoxie und den Kirchen der Reformation. Dieses
spiegelt sich im Lebensweg des Priesters und Jesuiten Otto Karrer, der
auf der ständigen Suche nach einem wahrhaften Leben aus dem Geist
des Evangeliums und der Deutung der Zeit war.

Im Jahre 1921 erschien bei Herder in Freiburg Karrers erstes Buch:
..Der heilige Franz von Borja". Es fand unter katholischen Historikern
begeisterte Aufnahme. Nur der General des Ordens, Pater
Ledöchowski, der das Buch aufmerksam durchgelesen hatte, fand, daß
der Autor nicht als objektiver Geschichtsschreiber vorginge, sondern
als Richter, nachforschend, inwieweit der heilige Franz geistesglcich
gewesen sei mit dem heiligen Ignatius. Der General warf Karrer vor,
ignatianisches und borjanisches Ordensregiment gegeneinander ausgespielt
zu haben. Karrer wurde nach Rom berufen, um einer
schnelleren Reifung im Sinne des Ordensgenerals entgegengeführt zu
werden, und ihm wurde der Auftrag gegeben, sich mit Kardinal
Bellarmin zu beschäftigen. Karrer empfand die Art der bellarmi-
nischen Kontroverstheologie unerträglich. In ihm wuchs die Überzeugung
, „daß die Art der theologischen Kontroversen, die in Bellarmin
ihren hervorragenden Vertreter hatten, . . . ein Unglück . . . für die
Kirche sei".

In diesem Zwiespalt sah der junge Historiker keinen anderen Ausweg
, als bei den Lutheranern anzuklopfen. Im Juli 1923 bezeichnete
er sich als nicht mehr zur Gesellschaft Jesu gehörig, und Ende
September trat er in das protestantische Predigerseminar in Nürnberg
ein. das er aber Ende Dezember wieder verließ.

Die vorliegende Höfersche Arbeit bringt neue Erkenntnisse zu
diesem Vorgang, auch wenn sie nicht alle Motive - mangels ausreichender
Dokumentation - freilegen kann.

Die Folgen dieser Geschehnisse waren enorm. Karrer mußte seine
Laufbahn als Historiker abbrechen, sich als Schriftsteller eine neue
Existenz aufbauen und in der Schweiz sich unter erschwerten
Umständen einen neuen Lebensraum suchen. Für viele Mitbrüder
bleibt er lebenslang ein Gezeichneter. Erst als Fünfundsiebzigjähriger,
1963, von Kardinal Ottaviani, dem Präfekten des Heiligen Offiziums,
ist er in all seinen priesterlichen Rechten rehabilitiert worden. Auf
diesem Hintergrund wird das einmalige der Lebensleistung Karrers
erst deutlich.

Man legt das Buch ergriffen, getröstet und dankbar aus der Hand.
Erfurt Franz 1'cterSonntag

Dogmen- und Theologiegeschichte

l.e Goff, Jacques: Die Gebart des Fegefeuers. Aus dem Franz. übers,
von A.Forkel. Stuttgart: Klett-Cotta 1984. 458 S. 8". Lw.
DM 98,-.

An Literatur zur Entstehungsgeschichte der Vorstellung vom Fegefeuer
mangelt es nicht. Was ist die Besonderheit des Werkes von Lc
Goff? Zunächst dies: Es ist von einem Autor geschrieben, der zu den
kundigsten, originellsten und anregendsten Historiographien des
Mittelalters in der Gegenwart gehört und sich um „ein anderes Bild
vom Mittelalter" gemüht hat und müht. Sodann: Der Vf. mißt die
..Geburt des Fegefeuers" am Aufkommen des Begriffs purgatorium
und einer mit ihm verbundenen räumlichen Vorstellung im Zusammenhang
eines neuen Gesamtentwurfs einer „Jenscitsgeogra-
phic", die mit einer kartographischen Umgestaltung der Vorstellung
von der Erde einherging. Schließlich: Le Goff sieht Begriff und Räumlichkeit
des Fegfeuers parallel zu und als Aspekt der gesellschaftlichen
Umschichtung des 11. bis 13. Jh. entstehen, die auch eine neue
Einstellung zu Sünde und Sühne und zur Verpflichtung zur Sorge um
die Verstorbenen mit sich brachte. Daß sich darin für Lc Goffauch der
Widerstand der Volkskultur gegen die Theologie und ihre Institutionen
zeigt, entspricht einer im deutschen Sprachbcrcich noch kaum
aufgenommenen Sichtweisc moderner französischer Historiographie
.