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Ausgabe:

1987

Spalte:

667-668

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Weder, Hans

Titel/Untertitel:

Die "Rede der Reden" 1987

Rezensent:

Wiefel, Wolfgang

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667

Theologische Literaturzeitung 112. Jahrgang 1987 Nr. 9

668

In den biblischen und jüdischen Texten ist vom Zion fast ausnahmslos
als dem „heiligen Berg" oder dem „Berg Zion" u. ä. eindeutig die
Rede, nicht aber nur von „dem Berg", wie bei Matthäus. Ferner: Was
bedeutet es, daß im Erzählungsablauf des Matthäusevangeliums „der"
gerade nicht als Zion bezeichnete Berg 5,1; 8,1; 14,23 (warum wurde
diese sprachlich zugehörige Stelle, in der aber das Volk fehlt, ausgeklammert
?); 15,29; 17,1,9; 28,16 im „Galiläa der Heiden" (4,15) liegt
und nicht in Jerusalem, dessen Tempel ja zerstört wird und dessen
Wiederaufbau Jesus gerade nicht anzeigt (vgl. 26,61)? Warum zieht
Jesus 24,1 vom Zion weg auf einen anderen Berg, den Ölberg? Wenn
schon, dann müßte man mit einer noch stärkeren Verfremdung der
Zionstraditionen rechnen als der Vf. Oder Fragen zum einzelnen:
Kann auf der Oberfläche der Erzählung von Mt 4,8 der Satz „und
wiederum nimmt (= Ortsveränderung, wie 4,5) der Teufel ihn (sc.
Jesus, der sich auf der Tempelzinne, d. h. auf dem Zion befindet) auf
einen (kein Artikel!) sehr hohen Berg" an den Zion gedacht sein? Ist
nicht gerade der Zion der einzige auf dieser Ebene ausgeschlossene
Berg? Kann in 15,29 der Berg wirklich auch die für die zweite
Speisung bestimmende Szenerie sein, wenn Jesus an ihrem Schluß
ohne weiteres ins Schiff einsteigen kann (15,39)? Matthäus wäre hier
bemerkenswert unsorgfältig. Bei 28,16-20 wird man fragen müssen,
inwieweit es überhaupt nötig ist, die mit der biblischen Zionstradition
verbindbaren (z. T. recht unspezifischen) Motive auf diesen einen
Hintergrund gleichsam als Generalnenner zu beziehen. Wie die Men-
schensohntradition von Dan 7,13f, so erklärt auch die Zionstradition
nicht den ganzen Text (z. B. nicht die Erscheinung, die Aussendung,
m. E. auch nicht die universale i£oom'a).

Ich habe aus diesem Buch außerordentlich viel gelernt. Dazu gehört
sicher auch die Einsicht, daß Momente der Zionstradition für die
matthäische Geschichte des Gottessohns eine bedeutsame Rolle spielen
. Ob sie der Schlüssel zum Verständnis matthäischer Theologie ist,
bleibt mir allerdings noch eine offene Frage.

Bern Ulrich Luz

Weder, Hans: Die „Rede der Reden". Eine Auslegung der Bergpredigt
heute. Zürich: Theologischer Verlag 1985. 251 S. 8". geb. sfr 32.-.

Der Titel dieser Auslegung nimmt ein von Friedrich Dürrenmatt
gegebenes Stichwort auf, der in seinem Reisebericht über Israel von
der Bergpredigt als der „Rede der Reden" sprach. Der Dichter steht
für viele, denen „Jesus nicht Gottes Sohn ist", jedoch „einleuchtet,
was der Mensch Jesus sagt". Dank der Friedensdiskussion am Anfang
des Jahrzehnts ist die Bergpredigt geradezu zum öffentlichen Thema
geworden. Es zeugt von der Praxisnähe neutestamentlicher Wissenschaft
, wenn drei ihrer profiliertesten Vertreter binnen kurzer Zeit
sich mit zusammenhängenden Auslegungen der drei Matthäuskapitel
zu Wort gemeldet haben: nach Georg Strecker und Hans-Dieter
Betz nun Hans Weder.

Der Züricher Neutestamentier aus der Schule Eduard Schweizers
hat gegenüber einem säkularen Humanismus, als dessen Repräsentant
der von ihm zitierte Schweizer Dramatiker gelten kann, seine
Position schon zu Beginn klar abgesteckt: „Auf dem Berge hat der
Sohn eines Menschen gesprochen. Aber die dabei waren, haben Gottes
Wort gehört. Das ist der Ursprung der Christologie und zugleich
der Grund dafür, daß Gott nicht fern gehalten werden kann von dem
Bergprediger." (S. 16)

Angesichts einer unmittelbar in die Gegenwart hineinwirkenden
Geschichte des Verstehens und Mißverstehens schien es dem Vf. angemessen
, zunächst die unterschiedlichen Ansätze herauszuarbeiten,
von denen aus eine Sicht auf die Bergpredigt im Ganzen versucht
wurde. So werden in idealtypischer Vereinfachung mittelalterlichasketischer
, reformatorischer, bürgerlich-protestantischer, (konse-
quent-)eschato!ogischer, dialektischer und christologischer Verste-
hensansatz mit ihrem jeweiligen Wahrheitskern und den spezifischen
Verzerrungen vorgeführt (S. 17-31).

Anders als bei den älteren, für einen größeren Kreis bestimmten
Auslegungen der Bergpredigt wird hier dem Leser von Anfang an der
Erkenntnisstand moderner exegetischer Arbeit zugemutet. Ihm wird
sofort gesagt, daß es die „Rede der Reden" als Rede Jesu so niemals
gegeben hat, bei der Bergpredigt es sich vielmehr um eine redaktionell
gestaltete Größe mit komplizierter Vorgeschichte handelt. Was der
Vf. jeweils der Logienquelle, dem vormatthäischen Sondergut und (in
sehr viel geringerem Umfang) der matthäischen Redaktion zuweist,
erscheint am Eingang der Einzelabschnitte mit knapper Begründung
skizziert und am Ende des Buches in einer Schematafel (S. 253) übersichtlich
demonstriert.

Die Antwort auf die sich immer wieder erhebende Frage nach der
jesuanischen Authentizität erfolgt nicht pauschal, vielmehr wird von
Fall zu Fall der Grad der Wahrscheinlichkeit kenntlich gemacht, mit
dem eine Überlieferung der Jesusstufe jeweils nahe kommt. Charakteristisch
ist das Urteil, das die Auslegung der Makarismen beschließt:
„Auch wenn es keine Jesusworte sein sollten - was unsicher ist -
widerspiegeln sie dennoch keinen anderen als Jesus selbst." (S. 84)

Nach Umfang und Inhalt bildet die unter dem signifikanten Titel
Gesetz und Gerechtigkeit dargebotene Interpretation der Antithesen
den Kern des Werkes (S. 90-148). Dabei gilt die antithetische Redeform
mit dem „Ich aber sage euch" als Schöpfung Jesu selbst, die Ausdehnung
auf alle sechs Abschnitte als Werk der vormatthäischen
Überlieferung. Bei seiner Einzelauslegung wird der Vf. nicht müde,
die „Maßlosigkeit" und „Fremdheit" der ethischen Forderung Jesu zu
betonen (S. 107, 117, 121, 127, 136, 137). Auf diesem Hintergrund
wirkt das Urteil um so gewichtiger: „Für Christen, die Verantwortung
tragen, kann der Gehorsam gegenüber diesen Sätzen nicht einfach heißen
, daß sie die Grundsätze weltlicher Gerechtigkeit über Bord werfen
." (S. 138) Man darf hier eine unmißverständliche Stahdortbestim-
mung in der aktuellen Diskussion sehen.

Auch in einer anderen Kontroverse läßt die Position des Vf. an
Deutlichkeit nicht zu wünschen übrig. Wie jüdisch ist die Bergpredigt
? - so fragt man im jüdisch-christlichen Dialog. Dabei betont
man zumeist den Umfang des Gemeinsamen, in dem Jesus mit dem
Rabbinat verbunden ist und erscheint bestrebt, seine Forderung als
spezifische Ausprägung jüdischer Ethik zu begreifen. „Ohne falsche
Bescheidenheit" (S. 87) geht der Autor an dieser Stelle gegen ein „verfehltes
Denken" an, das sich „in der heute beliebt gewordenen Rede
vom theologischen Besitzverzicht gegenüber dem Judentum" (S. 80)
ausspricht. Man muß die christplogischen Implikationen dieser Auslegung
verstehen, um die beachtliche Zahl der angeführten Vergleiche
mit jüdischen Aussagen zu würdigen, die zur Profilierung des spezifisch
Jesuanischen dienen sollen.

Schließlich bleibt der Vf. auch auf einem anderen Felde aktueller
Diskussion die klare Kennzeichnung der eigenen Sichtweise nicht
schuldig. Ihm ist es um die Abgrenzung zu tun gegenüber dem nach
seiner Überzeugung relativierenden Gebrauch, der von der „sozialgeschichtlichen
Wahrnehmung" gemacht wird. In der Auslegung von
Mt 6,19ff scheut er eine gewisse Spiritualisierung (S. 197,207ff) nicht,
um an den Worten über Mammonsdienst und Daseinssorge einen
existentialen, den materiellen Aspekt transzendierenden Bezug herauszuarbeiten
.

An dieser Stelle hat es der Vf. nicht versäumt, Gesprächspartner
unmittelbar beim Namen zu nennen; anderwärts sind sie für den
Kundigen mehr oder minder deutlich zu erkennen. Wir möchten es
dem Autor glauben, daß es ihm bei alledem nicht um Polemik geht,
sondern darum, den Leser (den theologischen wie den nichttheologischen
) auf den Text hin und vom Text her „in Bewegung zu setzen".
Die flexible und virtuose Handhabung der Sprache, die auch journalistische
Brillanz nicht scheut, sollte nicht vergessen machen, daß wir
es mit einem theologisch scharf profilierten und gerade darum höchst
diskussionswürdigen Beitrag zum aktuellen Gespräch über die „Rede
der Reden" zu tun haben.

Leipzig/Halle (Saale) Wolfgang Wiefel