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Ausgabe:

1987

Spalte:

635-637

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Kerner, Hanns

Titel/Untertitel:

Luthertum und ökumenische Bewegung für praktisches Christentum 1987

Rezensent:

Zeddies, Helmut

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Theologische Literaturzeitung I 12. Jahrgang 1987 Nr. 8

636

Gesprächs solange anhalten, bis niemand mehr (auch keine Evangelische
, Römisch-Katholische und Orthodoxe Kirche) christliche
Brüder und Schwestern, mit denen er in Zeugnis und Dienst vor der
Welt verbunden ist, vom Abendmahl auszuschließen wagt. Das
Gewissen auch in den Kirchen ahnt immer mehr, daß dabei Christus
verraten wird, und dieses schlechte Gewissen bei verweigerter Herrenmahlgemeinschaft
wächst aus guten ökumenischen Gründen von Jahr
zu Jahr.

Magdeburg C hristoph Hinz

Kerner, Hanns: Luthertum und Ökumenische Bewegung für Praktisches
Christentum 1919-1926. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus
Gerd Mohn 1983. 535 S. = Die Lutherische Kirche. Geschichte
und Gestalten, 5. Kart. DM 48,-.

Mit seiner 1982 vorgelegten Dissertation greift Kerner einen Vorschlag
der Historischen Kommission des LWB-Nationalkomitees in
der Bundesrepublik Deutschland auf. Im Zusammenhang mit ihren
Forschungen zur Geschichte kirchlicher Einigungsbemühungen des
Luthertums hatte die Kommission angeregt, auch dessen Verhältnis
zu ökumenischen Bestrebungen zu untersuchen, wie sie in der
Bewegung für Praktisches Christentum (Life and Work) Ausdruck
gefunden haben. Aus den dazu vorliegenden, z. T. erheblich voneinander
abweichenden Einschätzungen ergibt sich für den Vf., daß
diese Problematik bisher unzureichend aufgearbeitet ist. Für Life and
Work sei trotz einer Vielzahl von Überblicks- und Einzelproblemdarstellungen
eine das umfangreiche Archivmaterial auswertende,
auch kritische Geschichte noch nicht geschrieben.

Dies veranlaßt ihn, die Entwicklung der Bewegung für Praktisches
Christentum relativ breit darzustellen. Der Vf. zieht dazu in eingehenden
Archivstudien gesichtetes, zumeist unveröffentlichtes oder
schwer erreichbares Quellenmaterial heran. Dabei beschränkt er sich
auf die Jahre 1919-1926, also auf die Zeit von den Anfängen der
Bewegung und ihrer Entwicklung bis zur Stockholmer Konferenz
1925 und der danach einsetzenden Fortsetzungsarbeit. In dieser Zeit
hat auch das Luthertum die Weichen für sein Verhältnis zu Life and
Work gestellt. Was es dazu an Unterstützung, Kritik und Ablehnung
beigetragen hat, wie es sich selber in die ökumenische Bewegung eingebracht
oder aber sich ihr versagt hat, wird von Kerner in die
Geschichte der Bewegung für Praktisches Christentum chronologisch
eingetragen.

Diese Geschichte ist ohne die Persönlichkeit eines Nathan Söder-
blom nicht zu denken. Mit ihm wirdein Lutheraner zum entscheidenden
Anreger und Mitgestalter der ökumenischen Bewegung, speziell
von Life and Work. Die Untersuchung dokumentiert seinen enormen
persönlichen Einsatz für das Zustandekommen der Stockholmer
Konferenz. Unermüdlich hat er sich bei Kirchen und Konfessionen
für ihre Beteiligung eingesetzt, um Verständnis geworben, Brücken
gebaut, Mitverantwortung angeboten, den jahrelangen, oft mühsamen
und spannungsvollen Vorbereitungsprozeß nicht gescheut. Das alles
mit unterschiedlichem Erfolg. In welchem Maße die Entwicklung der
ökumenischen Bewegung auch eine Geschichte kirchlicher Ängste,
politischen Kalküls und theologisch begründeter Vorurteile ist, hat
kaum jemand so deutlich erfahren wie Söderblom.

Was ihn dennoch beharrlich an der Entwicklung von Life and Work
arbeiten ließ, war die unter den Eindrücken des 1. Weltkrieges verstärkte
Erkenntnis, daß die Christen sich ungeachtet ihrer Unterschiede
in Bekenntnis, Lehre und Kirchenverfassung in einem „ökumenischen
Kirchenrat" zusammenfinden müßten, um in gemeinsamer
Arbeit die Völker zu versöhnen und sich für die Überwindung
von Elend und sozialer Ungerechtigkeit einzusetzen. Daran hatte sich
für Söderblom „gemeinsame Verkündigung" zu bewähren. Damit
würde sich seiner Auffassung nach auch der Weg zur Wiederherstellung
einer als „evangelische Katholizität" verstandenen Einheit der
Christenheit eröffnen, für den er sich mehr Erfolgsaussichten als von
Faith and Order versprach.

Obwohl Söderbloms Programm aus lutherischer Tradition erwachsen
war, taten die Lutheraner selber sich vielfach schwer mit ihrem
Verhältnis zu Life and Work. Zustimmung fanden die Pläne für eine
ökumenische Konferenz - zwar nicht ausnahmslos, aber doch überwiegend
- im Baltikum und in den lutherischen Minderheitskirchen
Osteuropas. Die nordamerikanischen Lutheraner gaben dagegen einer
internationalen Vereinigung des Luthertums den Vorzug. Es irritierte
sie, daß jemand wie Söderblom diese Absicht durchaus unterstützte,
das Schwergewicht jedoch in der Zusammenarbeit sämtlicher christlicher
Kirchen sah. Nach ihrer Vorstellung konnte das Luthertum
nicht durch konfessionsübergreifende Bestrebungen, sondern nur
durch einen konfessionsgebundenen Zusammenschluß in der Ökumene
Stärke und Einfluß gewinnen. Als es 1923 zur Gründung des
Lutherischen Weltkonvents kam, erfüllten sich jedoch die vor allem
von dem sächsischen Landesbischof Ludwig Ihmels getragenen Hoffnungen
auf eine gemeinsame, konstruktiv kritische Beteiligung des
Luthertums an Life and Work nicht. Die nun innerhalb des Weltkonventes
auszutragenden Spannungen machten eine offizielle Äußerung
im Vorfeld der Stockholmer Konferenz unmöglich. Danach kam
es im Exekutivkomitee zu ernsthaften Auseinandersetzungen, weil
verschiedene Mitglieder die Konferenz als Behinderung der lutherischen
Einigungsarbeit ansahen. Auch unter den deutschen Lutheranern
gab es Befürworter und Gegner von Life and Work. In der
Allgemeinen Evangelisch-Lutherischen Konferenz setzte sich Ihmels,
der für Stockholm einen der Hauptvorträge übernommen hatte, für
ein theologisches Votum zu den dort vorgesehenen Themen ein, das
zu einer der bedeutendsten Vorarbeiten für die Weltkonferenz wurde.
Diese hat die Haltung der AELK insgesamt jedoch kaum verändert,
sondern zunächst sogar die Gefahr einer Spaltung heraufbeschworen
.

Die Darstellung von Kerner läßt erkennen, daß relativ unabhängig
von Zeit und Ort der Diskussionen um das Für und Wider der
Bewegung für Praktisches Christentum sich bestimmte theologische
Sachfragen immer wieder zu Wort gemeldet haben. Söderbloms Konzept
der evangelischen Katholizität setzte im Grunde eine in Christus
vorgegebene geistliche Einheit der Christenheit voraus. Nur so konnte
es theologisch sinnvoll erscheinen, Lehr- und Bekenntnisfragen auszuklammern
, die jeweils eigene Identität zu wahren und doch mit
anderen Kirchen zusammen sich um des Evangeliums willen den Herausforderungen
der Zeit zu stellen. Dieser Auffassung stand die im
Luthertum Europas und Nordamerikas gängige These entgegen, daß
ein gemeinsames Bekenntnis die Voraussetzung für die Einheit der
Kirche ist. Sie kann nur durch Gottes Wort, aber nicht durch menschliche
Einheitsbemühungen zustande kommen.

Tiefgehende theologische Differenzen zeigten sich immer wieder
auch im Verständnis des Reiches Gottes und des Auftrages der
Kirche. Ein Impuls für Life and Work bestand für nicht wenige in der
Auffassung, daß es ein Programm zum Bau des Reiches Gottes auf
Erden zu verwirklichen gelte, das eine allgemeingültige christliche
Ethik beinhaltet und der Kirche konkrete Aufgaben in der Gestaltung
der Gesellschaft zuweist. Gegen derart evolutionistische Reich-
Gottes-Vorstellungen, wie sie im angelsächsischen Bereich vertreten
wurden, machten die Lutheraner geltend, daß das Reich Gottes sich
selber in der Welt durchsetze, sich um der Königsherrschaft Christi
willen dazu der Verkündigung der Kirche bediene und dem Christen
innerhalb der Schöpfungsordnungen Verantwortung auferlegt, durch
die es dann auch bis in den gesellschaftlichen Bereich hineinwirkt. In
der Betonung des Reiches Gottes als einer eschatologischen Größe
haben die Lutheraner einen ihrer wichtigen Beiträge für die Stockholmer
Konferenz gesehen. Lutheraner sind es auch gewesen, die die
Beteiligung an der Ökumenischen Konferenz deshalb als wichtig
ansahen, weil sie im Dialog mit anderen Christen die Bedeutung ihrer
eigenen Konfession neu entdeckten, zugleich aber erkannten, daß sie
sich den Fragen der Weltverantwortung bisher zu wenig gestellt haben
und sie es dabei an der befreienden Kraft des Evangeliums hatten
fehlen lassen.