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Ausgabe:

1987

Spalte:

610-612

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Reames, Sherry L.

Titel/Untertitel:

The Legenda aurea 1987

Rezensent:

Haas, Alois M.

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Theologische Literaturzeitung 112. Jahrgang 1987 Nr. 8

610

wird auf Stahls Zustimmung in partiellen Fragen verwiesen. Eben
dabei stellt sich jedoch zunehmend ein ambivalentes Verhältnis
gegenüber Hegels Philosophie heraus: So wird einerseits, häufig unter
Rückgriffauf Sendling, Hegel attackiert. Andererseits kann der Autor
aber auch anschaulich nachweisen, wie stark - und zum Teil unbewußt
? - Stahl Hegel verpflichtet ist; das betrifft sowohl sein Verständnis
von Geschichte als auch die Methodik des Darstellens überhaupt.
Der 1. Teil schließt mit einer Erörterung des Verhältnisses dreier
bekannter christlich Konservativer zu Hegel (L. E. Gerlach, Hengstenberg
, Leo). Danach gibt es in dem gebrochenen Verhältnis zu
Hegel lediglich Unterschiede.

Der 2. Teil wendet sich, wie gesagt, sodann ausführlich Stahls
kirchenpolitischer Tätigkeit zu. Vorgestellt werden zuerst verschiedene
Wirkungsbereiche: Publizistik, Generalsynode, Kirchentag,
Evangelischer Oberkirchenrat, „Partei" Gerlach-Stahl. Anschließend
bespricht ein weiterer Arbeitsgang thematische Schwerpunkte, vornehmlich
Kirchenverfassung, Bekenntnis und Union, Eherecht, die in
ihrer Entwicklung bei Stahl verfolgt werden. Tenor aus diesen
Ermittlungen ist: Vor allem seit der Revolution von 1848 sah sich
Stahl wachsend in eine Außenseiterrolle gedrängt. Er, der als Modell
der Kirche den Kollegialismus (Kirche als Verein) ebenso ablehnte
wie den Territorialismus (Kirche als Zweig der Staatsgewalt), entdeckte
praktisch in allem, was nunmehr kirchenpolitisch verhandelt
oder Gesetz wurde (vgl. den oben genannten Themenbereich), die
Preisgabe jener Eigenständigkeit, die die Kirche entweder noch besaß
oder nach seiner Vorstellung besitzen sollte. Deshalb kämpfte er
jeweils um den Erhalt zumindest des Status quo, bzw. nahm früher
geäußerte moderatere Ansichten jetzt auch zurück. Und außerdem:
Diese Kompromißlosigkeit (Wichern: Stahl ein Mann „von Holz")
war für Stahl nicht ein Mittel der Politik, wie die Forschung teilweise
urteilt, sondern dahinter stand unter anderem die Auffassung, daß
„theologische und religiöse Wahrheiten nicht zur Disposition einer
über sie befindenden Synode gestellt" sein sollten (S. 119).

Wenn man nach dem Ertrag fragt, der sich mit vorliegender Publikation
verbindet, so sind in der Hauptsache zwei Gesichtspunkte zu
nennen:

Einmal: Bezüglich des Hegelianismus bei Stahl sagt der Autor
gleich eingangs seiner Untersuchung, daß es nicht darum gehen
könne, wie viel oder wenig dieser von Hegel übernommen habe,
sondern daß vielmehr die Tatsache einer modifizierten Rezeption zur
Kenntnis genommen werde (S. 10f). Als spezieller Typus herausgearbeitet
, kann dieser „unglückliche Hegelianismus" programmatisch
und politisch als bestimmte Grundhaltung veranschaulicht
werden, die sich ihrerseits dann als Orientierung bei der Beurteilung
von Personen und Ereignissen einsetzen läßt. Es gibt andere Interpretationen
(etwa Stahl als Schellingianer), und vielleicht ist auch der
hier angebotene Schlüssel zur Erklärung für das Denken und Handeln
Stahls wie der Hochkonservativen noch nicht der, der alles erfaßt.
Wenn aber der Autor meint, mit seiner Betrachtungsweise den Faden
für eine Biographie Stahls ermittelt zu haben (S. 18), so ist das, was er
dazu aufgezeigt hat, für eine Weiterarbeit jedenfalls zweifellos
anregend.

Zum anderen: Bedenkenswert ist auch der geleistete kirchengeschichtliche
Beitrag. Ausgehend von der politischen und kirchlichen
Bedeutung Stahls, ergibt sich die Relevanz eines solchen Beitrages
von selbst. Doch der Autor tut ein übriges, indem er - wozu sich
Stahls Leben allerdings auch besonders anbietet - vor dem Auge des
Lesers eine wechselseitige Kommentierung von Theorie und Praxis
erstehen läßt. Stahl wird nicht, wie oft geschehen, einfach ideengeschichtlich
untersucht oder interpretiert, sondern Entwicklung und
Wandel seiner Anschauungen werden unter dem Einwirken des politischen
und kirchlichen Lebens seiner Zeit aufgezeigt. Dieses Vorgehen
erfordert zugleich ein Stück Umfeldforschung. Sie dokumentiert
sich einerseits darin, daß die zahlreich zusammengetragene
Literatur dann innerhalb der Untersuchung vielfältige und z. T. ausgiebige
Verwendung findet. Andererseits vergißt man gerade während

des 2. Teiles zuweilen fast, daß es sich vornehmlich um eine Darstellung
Stahls handelt, denn man erlebt nicht nur einen Ausschnitt,
sondern eine Epoche preußischer Kirchengeschichte. Mit anderen
Worten: Wer sich künftig mit dieser Zeit beschäftigt, sollte darum auf
die Benutzung des hier angezeigten Buches, das auch ein Personenregister
bietet, nicht verzichten.

Einige Druckfehler blieben stehen; richtig muß es heißen: S. 58
Z. 2. v. u. Komma nach Savigny; S. 59 Z. 8 v. u. bewunderndsten;
S. 118Z.8v. u. Selbstimmunisierungssystem; S. 143 Z. 12v. o. 1859;
S. 195 Z. 12 v.u. Löhe.

Leipzig Gerhard Graf

Dogmen- und Theologiegeschichte

Reames, Sherry L.: The Legenda aurea. A Reexamination of Its Para-
doxical History. Madison: The University of Wisconsin Press 1985.
VIII, 321 S.gr.8'.geb.$40-.

Die „Legenda aurea" (= LA) des Jacobus de Voragine- 1260-1267
im Kontext des jungen Dominikanerordens verfaßt - schien lange Zeit
kein großes Interesse der Forschung zu erwecken. Das hat sich
geändert. Kürzlich sind zwei neue deutsche Übersetzungen erschienen
(von J. Laager, Manesse, Zürich 1982, und E. Weidunger, Pattloch
, Aschaffenburg 1986); Alain Boureau unterzog die LA und ihr
„narratives System" einer umfassenden Analyse (A. Boureau, La
legende doree, Le Systeme narrativ de Jacques de Voragine [t 1298],
Cerf, Paris 1984), und ein wissenschaftliches Kolloquium von über
20 Teilnehmern widmete sich der Diskussion der Nachwirkungen der
LA (Legenda Aurea: Sept siecles de diffusion, Bellarmin/Vrin,
Montreal-Paris 1986). Einen außerordentlichen Beitrag zur Erschließung
der Nachwirkung haben Ulla Williams, Werner Williams-
Krapp und Konrad Kunze mit ihrer editorischen Erschließung der
Elsässischen „Legenda Aurea" in deutscher Sprache geleistet (Die
Elsässische LA, 2 Bände, Niemeycr, Tübingen 1980/1983). Damit ist
dieser in seiner Rezeptionsgeschichte wichtige Text in eine Sicht
gerückt, in der ordens- und spiritualitätsgeschichtliche, nationale und
internationale Kriterien angemessen zum Zug kommen.

Die vorliegende Arbeit versteht sich von ihrem Ansatz her als eine
Einführung ins Studium der LA, die von ihrer handschriftlichen
Situation her im Spätmittelalter eine kulturelle Institution gewesen
sein muß. Reames kann nachweisen, daß die LA bis 1603 ungebrochen
in handschriftlicher und gedruckter Form in vielen Sprachen
verbreitet wurde. 1603 erfolgte ein Stop, der bis 1843, also über
230 Jahre, anhielt. In den letzten 150 Jahren florierte dann die LA
wieder wie gewohnt. Diese Beobachtung gibt Reames Anlaß zu
fragen, worin denn das Verdikt der Renaissance über die LA genauer
bestand. Der ganze erste Teil seiner Arbeit, die insgesamt drei Teile
umfaßt, ist diesem Problem gewidmet.

Nach 1490 wird die Nachfrage nach der LA spürbar geringer. Kritiker
wie Claude d'Espencc (1511-1571) und andere (Jean de Lamoy,
Adrian Baillct, James Lacop) wenden sich gegen eine allzu leichtgläubige
Verehrung der Heiligen. Brisant an dieser Kritik ist, daß sie
nicht Ergebnis eines Kreuzzugs der Protestanten gegen die Legende an
sich darstellt, sondern vom zeitgenössischen Katholizismus spezifisch
gegen die LA vorgetragen wird. Es ist möglich, daß der Erasmuskreis
dahinter stand. Wichtig aber ist, daß dann Kritiker der LA wie Vives,
Cano und Witzel, aber auch Nicolaus von Kues das aus Fiktivem und
real Historischem komponierte mixtum compositum der L*A aus spirituellen
und religiösen Absichten kritisieren.- Nach Vives war
Jacobus ein Mann „mit eisernem Mund und bleiernem Herzen und
einem weder kritischen noch klugen Geist" (53). Von solchen Urteilen
her entwickelte sich dann die moderne Legendenforschung, in der
die Bollandisten seit dem 17. Jh. eine führende Position einnahmen
.

Reames nimmt die Kritik der Renaissance an der LA ernst, ins-