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Ausgabe:

1987

Spalte:

607-610

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Nabrings, Arie

Titel/Untertitel:

Friedrich Julius Stahl 1987

Rezensent:

Graf, Gerhard

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Seite 1, Seite 2

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607

Theologische Literaturzeitung 112. Jahrgang 1987 Nr. 8

608

Kirchengeschichte: Neuzeit

Wallmann, Johannes: Philipp Jakob Spener und die Anfänge des
Pietismus. 2., Überarb. u. erw. Aufl. Tübingen: Mohr 1986. XIII,
384 S. gr. 8' = Beiträge zur historischen Theologie, 42. DM 58,-.

Es ist nachdrücklich zu begrüßen, daß dieses Standardwerk der
Spener- und Pietismusforschung nach anderthalb Jahrzehnten wieder
vorgelegt wird und damit dem inzwischen gewachsenen Kreis der an
Pietismus und Pietismusforschung Interessierten in einer aktualisierten
Form zugänglich ist. Der Vf. - nach eigenem Geständnis hätte er
das Buch „am liebsten unverändert gelassen" (V) - nimmt nur sehr
zurückhaltend Eingriffe in den Text vor. Mit Recht verzichtet er auch
darauf, seine Kontroversen mit Kurt Aland direkt in die Neubearbeitung
einzubeziehen, indirekt geschieht dies freilich dort, wo es ihm
um die quellenmäßige Untermauerung der umstrittenen Positionen
geht. Der Anregung des Rez. (ThLZ 96, 1971, 770-772), die frühen
Predigten Speners stärker zu berücksichtigen, begegnet der Vf. mit
dem Hinweis auf „methodische Skrupel", „da es für diese nur in
späteren überarbeiteten Drucken überlieferten Texte keine sichere
Quellengrundlage gibt" (V). Größere Textveränderungen sind vor
allem in III. 1. „Die Entstehung des Collegium pietatis" festzustellen.
Ein Blick in das ausführliche Inhaltsverzeichnis weist thematische
Ergänzungen unter Aufnahme bereits vorgelegter Arbeiten an zwei
Stellen aus: „Die Lösung des alten Rätsels: Emanuel Sonthoms
Güldenes Kleinod" (IX; S. 18IT) und die Identifizierung des Theologiestudenten
Johannes Anton Tieffenbach als einen der Anreger des
Collegium pietatis (S. 272ff). Das von Emanuel Sonthom, d. h. dem
englischen Kaufmann Emanuel Thomson, Um 1611 ins Deutsche
übersetzte Andachtsbuch des englischen Jesuiten Robert Persons
kann nun eindeutig als „ein Produkt jesuitischer, also katholisch
monastischer Spiritualität" (S. 19) ausgewiesen werden, eine für die
Vorgeschichte und die Frage nach den geistigen Wurzeln des Pietismus
wichtige Erkenntnis. „Durch die Identifizierung" Johannes
Anton Tieffenbachs, „dieses zweiten Anregers [,] fällt auf die Anfänge
des Collegium pietatis neues Licht. Auch rückt einiges von Speners
literarischen Studien und Veröffentlichungen in den Jahren vor 1670
(.. .) hierdurch in unmittelbare Beziehung zur Vorgeschichte des
Collegium pietatis" (S. 275).

An anderen Stellen ergänzt, aktualisiert bzw. korrigiert der Vf. entsprechend
seiner eingangs genannten Konzeption nur sehr sparsam.
Die Arbeit wahrt dadurch ihren ursprünglichen Charakter, bleibt aber
gleichzeitig auf der Höhe des Forschungsstandes. Eine Bereicherung
gegenüber der 1. Aufl. stellen die Zeittafel und das Sachregister dar.

Es ist dringend zu hoffen, daß der Vf. Zeit, Kraft und - angesichts
der Quellen- und Forschungslage - auch den Mut findet, die so erfolgreich
begonnene Spenerbiographie weiterzuführen und abzuschließen
.

Halle (Saale) Helmut Obst

Nabrings, Arie: Friedrich Julius Stahl - Rechtsphilosophie und
Kirchenpolitik. Bielefeld: Luther-Verlag 1983. 258 S. gr. 8" = Unio
undConfessio,9. Kart. DM 44,-.

Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um die leicht überarbeitete
Fassung einer Dissertation, die 1981 von der Philosophischen
Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität angenommen
wurde. Wie schon der Titel erkennen läßt, beansprucht die
Veröffentlichung aber keineswegs nur philosophiegeschichtliches,
sondern ebenso kirchengeschichtliches Interesse. Nicht genannt ist,
was einen recht wesentlichen Aspekt des Buches ausmacht (und vielleicht
in einem Untertitel hätte Berücksichtigung finden sollen), daß
nämlich zugleich auch ein Beitrag zur Hegel-Rezeption geliefert
wird.

Schon die Einleitung macht klar, daß in F. J. Stahl eine Persönlichkeit
des 19. Jh. begegnet, die, dem Namen nach zwar geläufig, in der
Interpretation von Motiven und Handeln aber immer noch viele
f ragen offenläßt. Aus dem dankenswert übersichtlichen Literaturbericht
geht hervor, daß Stahlsche Interpretationen nicht nur nach
wie vor von Interesse sind, sondern daß auch die Deutungen erheblich
divergieren, welche Einflüsse bei der Herausbildung von Stahls
Anschauungen prägend waren. In diesem Zusammenhang unternimmt
die Publikation einen neuen Vorstoß, indem sie auf die
Abhängigkeit von Hegel hinweist, die als Erklärung in der Forschung
bislang mehr nur am Rande geltend gemacht worden ist. Der Zugang
für den Autor ist dabei folgender: Stahl übernimmt von Hegel das
„Grundmotiv der Versöhnung, versucht es aber in genuin anderer
Weise in die Praxis umzusetzen. Die versöhnende Instanz in der
Philosophie Hegels ist die Vernunft. Diese nimmt im Staat konkrete
Gestalt an, der mittels seiner Staatsdiener, den Beamten, dafür Verantwortung
trägt, sie zu realisieren. Hegels Hoffnung ruhte auf der im
Staat realisierten Vernunft, und von ihm erwartete er, daß er die in der
Gesellschaft disparat vorhandenen Kräfte zu integrieren vermochte.
Der Staat sollte die Aufgabe eines über den gesellschaftlichen Interessen
stehenden Richters wahrnehmen, und die Vernunft sollte die
Entscheidungsinstanz auf allen strittigen Gebieten abgeben. Die
Erfahrung der Julirevolution von 1830 und das Aufkommen des
Linkshegelianismus, der die philosophische Vernunft mit ihren eigenen
Mitteln widerlegte, machte diese Hoffnung zunichte. Die Aufgabe
einer Versöhnung blieb aber ungeachtet dieser Ereignisse bestehen.
Auf diese Situation reagiert Stahls Denken. Es stellt einen Rezeptionstypus
der Hegeischen Philosophie dar, der ihr Ziel der Versöhnung
beibehalten will, aber andere Wege zur Erreichung desselben einschlägt
. Stahl will in diesem Sinn Hegelianer sein, kann das aber nur
wider Willen. Es scheint berechtigt, neben den bekannten Unterscheidungen
in der Rezeption der Philosophie Hegels, nämlich dem
Links- und Rechtshegelianismus, noch einen dritten Typus einzuführen
, der hier als .unglücklicher Hegelianismus' bezeichnet
wird" (S. 130- Dieser Rezeptionstypus, so der Autor wenig später,
habe sich nicht auf Stahl beschränkt, sondern sei auch in dem christlich
konservativen Kreis um Gerlach zu finden gewesen. Auch dort
bestand die Auffassung, daß der Staat die ihm zugedachte Aufgabe
einer vermittelnden Instanz nicht habe leisten können, und man
dachte seinerseits diese Aufgabe der Kirche zu. „Sie sollten den Sinngaranten
inmitten einer von divergierenden Kräften bestimmten Zeit
abgeben und damit dem haltlos werdenden gesellschaftlichen Zustand
neue Festigkeit verleihen."

Diese Position Stahls und der christlich Konservativen, deren
Sprecher er ja war, wird nun von der Untersuchung in ihrem ersten
Teil zunächst theoretisch und in ihrem zweiten dann praktisch, d. h.
bezogen auf die Kirchenpolitik, detailliert entfaltet. Begreiflicherweise
kann die Rezension diesem Weg materialiter im einzelnen nicht
nachgehen. Mitgeteilt werden die wichtigsten dabei behandelten
Bereiche.

Gegenstand der Erörterungen im 1. Teil ist weitgehend Stahls
Philosophie des Rechtes, seinerzeit in mehreren Auflagen erschienen.
Nach einem Überblick, wie Zeitgenossen diesen Entwurf aufnahmen,
werden weitere, bis heute diskutierte Interpretationsbeispiele vorgeführt
: Inwieweit war Stahl aufgrund von mittelalterlichen theokra-
tischen Vorstellungen Thomist? Stahl als Ideologe der Reaktion. Stahl
als konservativer Staatsrechtler, wobei vom Autor eine fesselnd zu
lesende Skizze von Stahls Staatslehre eingeschoben ist, die ihn
ursprünglich als Marin des süddeutschen Konstitutionalismus ausweist
. Dem folgt eine umfänglichere Darlegung des Verhältnisses zu
Sendling. Sie ergibt, daß Stahl nur sehr eingeschränkt als Schüler
Sendlings angesehen werden kann; er übernahm einzelne Gedankengänge
, aber er wurde nicht Schellingianer. Nach dieser Orientierung
wird auf das Thema Hegelianismus bei Stahl eingegangen. Erster
Punkt ist die Kritik an Hegel (in seinem System gingen Persönlichkeit
und Freiheit unter; außerdem der Vorwurf des Pantheismus). Darauf