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Ausgabe:

1987

Spalte:

569-599

Kategorie:

Neues Testament

Titel/Untertitel:

Exegetische Beiträge zum ökumenischen Gespräch 1987

Rezensent:

Frankemölle, Hubert

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Theologische Literaturzeitung 112. Jahrgang 1987 Nr. 8

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sie alle' - von den Aposteln bis zu den Vätern von vorgestern und
gestern." Es waren dies die letzten Sätze des jetzt 82jährigen. Am
nächsten Morgen, dem 10. Dezember 1968, fand ihn seine Frau
friedlich für immer eingeschlafen.

Karl Barth kam sich in den letzten Jahren oft „überholt" vor und
sagte dann: „Jetzt wollte ich noch einmal so jung sein wie Sie - dann
ginge ich nochmals auf die Barrikaden." Karl Barth nochmals auf die
Barrikaden? Auf die Barrikaden in den siebziger, in den achtziger
Jahren? So oft habe ich mich in den vergangenen zwei Jahrzehnten gefragt
, wo und wie er auf die Barrikaden gegangen wäre, was er wohl
getan hätte, wenn er nicht ein Barthianer, sondern wirklich wieder ein
wahrhaftiger junger Karl Barth geworden wäre. Und über diese Frage
möchte ich, nachdem ich von Karl Barths Wende von der Konfrontation
mit der katholischen Theologie über die Verständigungsversuche
schließlich zum ökumenischen Einverständnis mit ihr gesprochen
habe, einige Überlegungen anstellen. Vom Damals also zum Heute:
aber nicht in willkürlich-hypothetischen Spekulationen über das
„was-wenn", sondern in sachlicher Anfrage und konstruktiver Weiterführung
von Barths Theologie: was nun?

II. Katholischer Umgang mit der Theologie Karl Barths

Die erste Frage hier ist die Gretchenfrage für jeden Theologen: Wo
und wie ist Karl Barth in die Theologiegeschichte einzuordnen? Ist er
der monumentale (und kaum gelesene) „Neo-Orthodoxe", wie man
ihn fast allgemein in Amerika und oft auch in der Bultmannschule
klassifiziert und - verabschiedet? Oder ist er der unüberbietbare theologische
Neuerer des Jahrhunderts, wie man ihn in Deutschland weit
über die Barthschule hinaus glorifiziert und - sich selbst blockiert?

Meine umfassend-katholische These gegen disqualifizierende Antagonisten
wie glorifizierende Epigonen lautet: Karl Barth ist der
Initiator eines - so würde man heute sagen - „postmodernen"
Paradigmas von Theologie. Gemeint ist dabei ein Doppeltes:

- Barth-Verächtern möchte ich deutlich machen: Karl Barth ist wirklich
Initiator, ja Hauptinitiator eines bereits damals anbrechenden
„postmodernen" Paradigmas von Theologie.

- Unkritischen Barth-Verehrern aber: Karl Barth ist Initiator, nicht
jedoch Vollender eines solchen Paradigmas.

1. Karl Barth-
Initiator eines „postmodernen" Paradigmas von Theologie
Leicht läßt sich ein Dreifaches aus Barths Schriften und aus Barths
Lebenslauf, wie es Eberhard Busch vorbildlich „nach seinen Briefen
und autobiographischen Texten" dargelegt hat (München 1976),
belegen:

Zuerst war Barth ein entschiedener Anhänger der modernen Theologie
: Von Haus aus der bürgerlichen Welt (von Poesie und Musik
über Bier und Verbindungsleben bis hin zum Militär) von Herzen
zugetan, war er schon früh begeistert von Schillers Idealismus und
Richard Wagners Tannhäuser-,,Verkündigung". Für den Theologiestudenten
, der schon als Erstsemestriger mit der historisch-kritischen
Methode vertraut gemacht wurde, waren bald Kant und Schleiermacher
die Leitsterne seines Denkens. So wurde er zum Schüler der
großen liberalen Meister: Harnacks zuerst (in Berlin) und dann, noch
wichtiger, Wilhelm Herrmanns (in Marburg), der Kant und Schleiermacher
mit einer ausgesprochenen Christozentrik zu verbinden
wußte. Als Redaktionsgehilfe Martin Rades bei der liberalen „Christlichen
Welt" hatte er mit den Geistesprodukten der ganzen liberalen
Prominenz zu tun, von Bousset und Gunkel bis zu Troeltsch und
Wernle.

Dann aber entwickelt sich Barth zum schärfsten Kritiker jenes aufgeklärt
-modernen Paradigmas, das sich nach einer Phase strenger
lutherischer und calvinistischer Orthodoxie ja schon im 17. Jh. herausgebildet
, im 18. durchgesetzt, schließlich im 19. mit Schleiermacher
seine klassische Ausbildung und mit der ihm folgenden liberalen
Theologie ihre führende Stellung erhalten hatte: ein Paradigma

ganz orientiert am Menschen. Barths zehnjährige Erfahrung als
Pfarrer von Safenwil (1911-21), einer zunehmend industrialisierten
Schweizer Bauerngemeinde mit all der sozialen Not, ließen ihn schon
vor dem Ersten Weltkrieg zweifeln an bürgerlichem Fortschrittsoptimismus
und anpasserischem Kulturprotestantismus, ja, ließen
ihn zu einem für die Sache der Arbeiterschaft engagierten Sozialisten
werden. Er begriff: In der bedrängenden Not der Predigt - leere
Kirchenbänke, ineffizienter Konfirmandenunterricht - half ihm all
das religionswissenschaftliche Wissen über die Bibel nicht weiter.
Für Predigt, Unterricht und Seelsorge braucht es eine ganz andere
"theologische Grundlegung, der es primär nicht um den Menschen,
sondern um Gott geht. Bei allem Respekt vor der neuzeitlichen
Liberalität spürte Barth, daß historischer Relativismus, verbunden
mit religiösem Individualismus, das Christentum zunehmend entleert
hatten. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 war es, der für
Barth das moderne Paradigma radikal in die Krise führte: Einerseits
hatte sich die liberale Theologie in ihrer modernen Angepaßtheit
völlig decouvriert, als 93 deutsche Intellektuelle, darunter beinahe
alle berühmten theologischen Lehrer Barths, Harnack und Herrmann
allen voran, sich in einem öffentlichen Manifest mit der Kriegspolitik
Wilhelms II. und dem Überfall auf das neutrale Belgien identifizierten
. Andererseits hatte aber auch der europäische Sozialismus gegenüber
der Kriegsideologie versagt und den Krieg schließlich fast überall
unterstützt. Karl Barths persönliche Theologie entwickelte sich zu
einer „Theologie der Krise", die 1918 mit dem Untergang des
deutschen Kaisertums und des landesfürstlichen Kirchenregiments,
der Revolution in Rußland und den sozialen Unruhen in Deutschland
einen hochdramatischen Hintergrund erhielt.

Schließlich wurde Barth so zum hauptsächlichen Initiator eines
postmodernen Paradigmas von Theologie: In der vielschichtigen
Krise alles Bestehenden war ihm überdeutlich geworden: Das Christentum
läßt sich keinesfalls reduzieren auf ein kritisch zu erfassendes
historisches Phänomen von damals und ein vorwiegend moralisch
geartetes inneres Erlebnis heute. Angesichts des epochalen Zusammenbruchs
von bürgerlicher Gesellschaft und Kultur, ihrer maßgebenden
Institutionen, Traditionen und Autoritäten mobilisierte
Barth nach dem Krieg wie kein anderer die kritische Kraft des Glaubens
und forderte - im Anschluß an den „Römerbrief von 1919 und
1922 - zusammen mit seinen Freunden Emil Brunner, Eduard
Thurneysen, Friedrich Gogarten und Rudolf Bultmann „zwischen
den Zeiten" (Name ihrer Zeitschrift) - programmatisch die Wende zu
einer,, Theologie des Wortes" (oft genannt „dialektische Theologie").
Und das heißt, kein Zurück, sondern ein Vorwärts:

- weg von der modernen Anthropozentrik, hin zu einer neuen
Theozentrik;

- weg von der historisch-psychologischen Selbstauslegung des „religiösen
" Menschen und der Theologie als Geschichts- und Kulturwissenschaft
, hin zu Gottes eigenem, in der Bibel bezeugten Wort, zu
Offenbarung, Reich und Tat Gottes;

- weg von der religiösen Rede über den Gottesbegriff, hin zur Verkündigung
des Wortes Gottes;

- weg von Religion und Religiosität, hin zu christlichem Glauben;

- weg von religiösen Bedürfnissen des Menschen (dem modernen
„Menschengott"), hin zu Gott, der der „ganz Andere" ist, offenbar
allein in Jesus Christus (dem biblisch verstandenen „Gottmenschen
").

Im allgemeinen politischen, ökonomischen, kulturellen, geistigen
Umbruch nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs leitet die Theologie
Karl Barths - er selber als „theologische Existenz" Vorbild -
machtvoll den Paradigmenwechsel vom modern-liberalen zu einem
(können wir jetzt im Rückblick sagen) „postmodernen" Paradigma
ein, welches damals allerdings nur in schwachen Umrissen erkennbar,
war. Insofern wird eben er - und nicht Ritsehl, Harnack, Herrmann
oder Troeltsch - der „Kirchenvater des 20. Jahrhunderts" genannt.

Angesichts der Krise des modernen Paradigmas forderte und
förderte Karl Barth eine grundsätzliche Neuorientierung der Theolo-