Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1987

Spalte:

542-544

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Stenzel, Peter

Titel/Untertitel:

Kirchenvorsteher in der Volkskirche 1987

Rezensent:

Daiber, Karl-Fritz

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

541

Theologische Literaturzeitung I 12. Jahrgang 1987 Nr. 7

542

liehen) Sacherhall. sondern einen sozialpsychologischen Forschungsansatz -
der Hinweis darauf ist nötig, um möglichen Fehlerwartungen theologischer
Leser zu begegnen. Im Anschluß an die mit dein Namen von T. W. Adorno verbundenen
Forschungen zur Struktur des „autoritären Charakters" (1950) entwirft
M. Rokcach (1954) das Konstrukt der „dogmatischen Persönlichkeit":
Von einem vergleichsweise starren, geschlossenen Überzeugungssystem bestimmt
, neigt die „dogmatische Persönlichkeit" zu Schwarzweißmalerei:
Gegenüberzeugungen werden ebenso strikt wie undifferenziert verworfen; die
Fähigkeit, andere Meinungen zu tolerieren, mit ihnen differenziert umzugehen.
Nuancen wahrzunehmen, ist ebenso unterentwickelt wie die Bereitschaft.
Kompromisse zu schließen. Bestandteil solcher prinzipiell antipluralistischen
Haltung ist weiter ..ein absolutes Vertrauen auf Autoritäten", die zur Stützung
des eigenen Überzeugungssystems herangezogen werden: Auch ihre peripheren
Meinungen werden kritiklos übernommen, ohne sie zu werten und auf ihre Beziehung
zu den zentralen Grundüberzeugungen zu reflektieren. Fs gibt keine
Hierarchie der Wahrheiten; alles ist von gleichem Gewicht und steht „oft unvermittelt
und kommunikatipnslos nebeneinander" (82). Nach Meinung
Rokeachs hängt die Entwicklung solcher in sich geschlossener, unllexiblcr
Systeme von Überzeugungen und Gegenüberzeugungen mit fundamentalen
Schutzbedürfnissen zusammen (15): Die „dogmatische Persönlichkeit" erlebt
„die Welt bzw. die jeweilige Situation als bedrohlich", als angstauslösend (82);
sie schützt sich vor angstmachenden, verunsichernden Erfahrungen dadurch,
daß sie das eigene Überzeugungssystem möglichst vollständig und lückenlos
gegen Kritik abschirmt (83). Im Unterschied zu Adorno, der den autoritären
Persönlichkeitstyp im konservativen, vor allem im prä-faschistischen und
faschistischen Lager ortete, vertritt Rokcach einen weltanschaulich neutralen,
sozusagen formalen Dogmatismusbegriff: „Der Dogmatismusbegriff bezieht
sich unabhängig vom Inhalt nur auf Art und Grad der Struktur von Übcrzcu-
gungssystemen" (81); er beschreibt die Art und Weise, wie Informationen, die
das jeweilige Überzeugungssystem berühren, verarbeitet bzw. abgewiesen
werden (83).

Die vorliegende Studie berichtet über den Versuch, im Rahmen
eines Projekts „Theologie als Sozialisationsfaktor" das Verhältnis von
Theologie und Dogmatismus (im sozialwissenschaftlichcn Sinne) zu
untersuchen. Dabei wurden Theologiestudenten in der Studiencin-
gangsphase und in der Studienmitte sowie eine Gruppe von Vikaren
und Pfarrern erfaßt und befragt. Im Verlaufe des Projekts kamen
mannigfach modifizierte Einstellungsskalen (Rokeach arbeitete ursprünglich
mit einer 66 Einzelaussagen umfassenden Einstcllungs-
skala, auf der die Befragten Zustimmung bzw. Ablehnung zu jeder
Einzelaussage jeweils auf einer sieben Punkte umfassenden Skala
markieren konnten) wie auch das Dogmatismus-Textauswertungsverfahren
(DOTA)nach S. Ertel zur Anwendung:

Ertcl mißt sprachliche Stilmerkmale von Texten und schließt von ihnen auf
die Denkstilmerkmalc „Offenheit" oder „Geschlossenheit" (85). Wendungen,
die einen „geschlossenen", dogmatistischen Sprach- und Denkstil anzeigen,
sind u. a.: immer, niemals, stets, alle, ganz, jedermann, absolut, restlos, eindeutig
, ausgeschlossen, entweder oder, nichts als, müssen, nicht dürfen . . .

Wenn die Dogmatismusforschung „die psychologischen Bedingungen
der Formierung von Überzeugungssystemen" zum Gegenstand
hat (18). muß sie - so Karl-Fritz Daiber in seiner Einführung (I I -24)
-auch zu den psychologischen Bedingungen, die bei der Entstehung
und Formierung theologischer Übersetzungssysteme wirksam sind.
Erhellendes beitragen können. Im Vorgang theologischer Sozialisation
wird Theologie ja nicht nur (als sozusagen invariabler Sozialisationsfaktor
) „vermittelt", sondern allererst und immer wieder neu
konstituiert. Dies aber geschieht auf eine personspezifische Weise, die
„auch von der Bedürfnislage des Theologen abhängig ist" und „im
Funktionszusammenhang der Ausbildung der soziokulturellen Persönlichkeit
und ihres Identitätsaufbaus" zu begreifen ist (23).

Manfred Josuttis („Dogmatismus als Problem der Theologie",
25-76) demonstriert am Beispiel der Kontroverse zwischen H. Alberl
und G. Ebcling „die Blindheit der Theologie für das Dogmatismus-
Problem" (32), beschreibt den gcistcsgcschichtlichen Hintergrund
und die aktuelle Relevanz der Dogmatismus-Frage (2$fT) und stellt
systematisch-theologische (E. Schlink), sozialethischc, praktisch-
theologische Ansätze vor: Nachdem Theologie sich historisch-kritischen
, gcscllschafts- und idcologiekritischen Anfragen gestellt hat. muß
sie sich endlich auch der Frage nach den „individualpsychologischen

Konstitutionsproblemen von Theologie" öffnen (31) und darf nicht länger
davon absehen, „daß nicht nur die Rezeption, sondern auch die
Konstitution von Offenbarung, von Evangelium und Dogma, im psychosozialen
Lebens- und Bedürfniszusammenhang" stattfindet (48).

Peter Hennig und Reinhard Seil („Dogmatismus in theologischen Schriften
und Predigten", 77-118) schildern, auf welche Weise und mit welchem Ergebnis
das Textauswertungsverfahren nach S. Ertel im Rahmen des Projekts eingesetzt
w urde. Ingrid und Wolfgang Lukatis („Dogmatismus bei Theologiestudenten
", 119-184) werten die durchgeführten Befragungen im Blick aufdie Zusammenhänge
aus, die zwischen dem Dogmatismusgrad und anderen Persönlichkeitsmerkmalen
, der Umwcltwahrnehmung und den Zukunftsvorstellungen der
Befragten bestehen. Ingrid Lukatis (185-194) bündelt die Ergebnisse: Theologiestudenten
tendieren zu einer eher ..undogmatischen Haltung" (186). Bei
theologischen Texten hängt der Dogmatismusgrad weniger vom theologischen
Ansatz, als vielmehr von der Textgattung bzw. der Kommunikationssituation,
aber auch vom Maß der „Einbeziehung von konkreter empirischer Wirklichkeit
" ab (188). Es besteht eine Korrelation zwischen dem Dogmatismusgrad
und religiös-politischem Progressismus bzw. Konservatismus (194). Der von
Rokeach behauptete Zusammenhang zwischen Dogmatismus und Angst ließ
sich nicht verifizieren (191 f).

Der vorgeführte sozialwisscnschaftliehe Ansatz kann - so resümiert
Josuttis abschließend („Dogmatismus und Theologie - eine Zwischenbilanz
", 195-205) - der theologischen Dogmatik helfen, die ihr
stets immanente Tendenz zur „interessegeleiteten Wirklichkeitsverzerrung
" zu erkennen und so in „dogmatischer Selbstkritik" „die
Struktur der dogmatischen Aufgabe als Möglichkeit ihrer Gefährdung
" zu durchschauen (198f). Freilich gibt es - das ist ein Ergebnis,
das den indiv idual-psychologischen Ansatz der Dogmatismusforschung
modifiziert - „dogmatisch aufgeladene Situationen bzw. Positionen
": der Dogmatismusgrad von Individuen kann „nicht unabhängig
vom sozialen Kontext, etwa der Institution, in der sie tätig sind",
betrachtet werden (200f). Dennoch spielt bei der Konstitution, der
Interpretation und der Kritik theologischer Sätze und Systeme „der
personale Faktor", „das individuelle Interesse nach Herstellung einer
konsistenten Einstellungsordnung" eine bisher noch kaum wahrgenommene
und ernstgenommene Rolle (204).

Berlin Karl-Heinrich Bieritz

Stenzel. Peter: Kirchenvorsteher in der Volkskirche. Untersuchungen
zum christlichen Bewußtsein und zum kirchlichen Engagement.
Frankfurt (M.)-Bcrn: Lang 1982. 341 S. 8* = Europäische Hochschulschriften
. Reihe XXIII: Theologie, 174. Kart, sfr 75.-.

Nach der Untersuchung von G. Schmied (Pfarrgemeinderat und
Kommunikation. Zur Soziologie einer neuen Institution. München
1974), die die Situation in der katholischen Kirche zur G rund läge hat,
und der Arbeit von U. Winter (Gcmeindeleitung in der Volkskirche,
Gelnhausen/Berlin 1977), die auf Westberliner Material basiert, legt
Peter Stenzel die dritte Monographie zur Situation der Mitglieder von
Kirchenvorständen vor.

Der Vf. hat insgesamt 20 Kirchcnvorsteher bzw. Kirchenvorsteherinnen
- letztere befinden sich deutlich in der Minderzahl - im
Herbst und Winter 1977/1978 befragt. Die Kirchcnvorsteher kommen
aus verschiedenen Gemeinden, aus Kirchengcmcindcn im ländlichen
Raum, in der Kleinstadt, in der Großstadt, am Stadtrand einer
Großstadt mit altem Ortskern, aus einer neuen Kirchcngcmeindc am
Stadtrand, aus einer Kirchengemeinde pietistischcr Prägung und aus
einer Kirchengemeinde, die eine Pcrsonalgcmcindc reformierter Prägung
darstellt. Weitere Variable wurden zumindest ansatzweisc bei
der Auswahl der jeweiligen Personen berücksichtigt (Alter, Geschlecht
, Ausbildung. Berufstätigkeit).

Die Befragung wurde in der Gestalt von Leitfadeninterviews durchgerührt
, und zwar vom Vf. selbst. Dabei diente der Leitfaden lediglich
als eine grobe Strukturierung, die Reihenfolge der Fragen wurde nicht
eingehalten, sondern variiert, autobiographischen Berichten Raum
gegeben.