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Ausgabe:

1987

Spalte:

508-509

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Betz, Hans Dieter

Titel/Untertitel:

Essays on the Sermon on the mount 1987

Rezensent:

Burchard, Christoph

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507

Theologische Literaturzeitung 1 12. Jahrgang 1987 Nr. 7

508

gen am Text zu den entschiedenen und klaren Grundthesen des
Buches führen.

Gundrys Kommentar hat in der amerikanischen evangelikalen Exegese
zu interessanten Debatten geführt. In zwei ausführlichen Besprechungen
wirft ihm D. J. Moo redaktionsgeschichtlichen Hyper-
kritizismus, Vernachlässigung der historischen Wurzeln und methodologische
Einseitigkeit vor.2 Als Kern der ganzen Debatte stellte sich
die Historizitätsfrage heraus: Ist es wirklich denkbar, daß Matthäus so
frei, so oft ohne konkreten Anhalt an überkommenen Traditionen die
Jesusgeschichte „verschönert", wie dies Gundry annimmt? Gundry
bejaht diese Frage: Die matthäischen Veränderungen, etwa im Jüngerbild
oder in vielen Einzelheiten von Berichten, lassen sich nicht
leugnen. Die redaktionellen Verdoppelungen von Personen (Mt
8,28-34) oder Begebenheiten (z.B. Mt 9,27-31; 20, 29-34) sind
unbestreitbar. Darüber, daß auch hinter fast rein redaktionell formulierten
Texten Traditionen stehen können, läßt auch G. mit sich
reden.3 Darüber, daß redaktionelle Sprache allein - m. E. nicht immer
so klar bestimmbar, wie es bei G. manchmal den Anschein hat - das
Vorhandensein von (mündlichen!) Überlieferungen keineswegs ausschließt
, müßte er mit sich reden lassen. Man kann und muß darüber
streiten, wie groß die redaktionelle Freiheit des Evangelisten Matthäus
gewesen ist, aber daß es sie gegeben hat, ist m. E. eindeutig.

Um so weniger überzeugen deswegen manche der "higher critical
conclusions", die S. 599ff dem Kommentar folgen. Kann man z. B.
angesichts der so betonten Freiheit des Evangelisten Matthäus wirklich
noch sagen, daß die paar Texte des Sonderguts, in denen Geld
vorkommt, auf den Zöllner Matthäus als Verfasser hinweisen (620)?
Wie verträgt sich mit der Freiheit, die Matthäus hatte, die Akribie, mit
der der Exeget G. sich auf den vom Evangelisten intendierten Textsinn
konzentriert? Ist der Evangelist in seiner-exegetisch zu erhebenden
- schriftstellerischen Absicht allein inspiriert und somit die endgültig
vorgegebene Grenze aller weiteren Freiheit? G. fragt nie nach
den Möglichkeiten damaliger Leser, den Text zu verstehen, er fragt
nie nach Offenheiten des Textes und schon gar nicht nach unserer
Freiheit, den Text neu zu verstehen. Oder: Daß G. den Evangelisten
Matthäus in die Zeit vor der Tempelzerstörung verlegt, ist z. T. eine
direkte Folge seiner Unwilligkeit, ihm Traditionstreue zuzubilligen:
Der Gedanke, daß Texte wie 5,23f; 17,24-27 oder 23,16.22 vom
Evangelisten aus Treue gegenüber dem vorgegebenen Wort des Herrn
überliefert, ja z. T. sogar erstmals schriftlich formuliert wurden, auch
wenn die historische Situation inzwischen eine andere geworden ist,
scheint ihm unvorstellbar: Solche Texte setzen für ihn die Existenz
des Tempels noch voraus.

Ich will hier abbrechen. Der Leser legt den Kommentar mit Dank
für die vielen subtilen und scharfen Einzelbeobachtungen aus der
Hand. Er ist beeindruckt durch das jn ihm deutlich werdende Ringen
eines evangelikalen Wissenschaftlers mit seiner eigenen theologischen
Tradition. Es wird aber auch über die in diesem Kommentar noch
vorhandenen „Eierschalen" nachdenken: Die wichtigste scheint mir
in Gundrys Tendenz zu liegen, für alles im Text eine klare, eindeutige
und zugleich eine theologisch relevante Erklärung finden zu wollen.
Die alten reformatorischen Grundsätze von der Klarheit und der
Vollkommenheit der Schrift scheinen in diesem Kommentar auf die
Absicht des Evangelisten Matthäus zugespitzt.

Bern Ulrich Luz

' R. H. Gundry, The Use of the Old Testament in St. Matthew's Gospel,
NT.S 18,1975,dort 182.

2 D. J. Moo, Matthew and Midrash: An Evaluation of Robert H. Gundry's
Approach, JETS26, 1983, 31-39; ders., Onceagain, „Matthewand Midrash":
A rejoinder to Robert H. Gundry, JETS 26, 1983, 57-70. Gundry's Replik,
bzw. Duplik: A Response to „Matthewand Midrash", JETS 26, 1983, 41-56;
A Surrejoinder to Douglas J. Moo, ebd. 71 -86.

3 JETS26, 1983,45.

Betz, Hans Dieter: Essays on the Sermon on the Mount. Translation
by L. L. Welborn. Philadelphia, PA: Fortress Press 1985. XVII,
170 S.8 Lw.$ 24.95.

-: Studien zur Bergpredigt. Tübingen: Mohr 1985. X, 154S. 8".
Kart. DM 38,-.

Formal sind das gesammelte Aufsätze, zwei ursprünglich englisch,
die anderen deutsch. Nämlich: Vorbemerkungen. - Die Bergpredigt:
Ihre literarische Gattung und Funktion. - Die Makarismen der Bergpredigt
(Mt 5,3-12). Beobachtungen zur literarischen Form und theologischen
Bedeutung. - Die hermeneutischen Prinzipien in der Bergpredigt
(Mt 5,17-20). - Eine judenchristliche Kult-Didache in
Matthäus 6,1-18. Überlegungen und Fragen im Blick auf das Problem
des historischen Jesus. - Matthäus 6,22-23 und die antiken
griechischen Sehtheorien. - Kosmogonie und Ethik in der Bergpredigt
[Mt 6,25-34]. - Eine Episode im Jüngsten Gericht (Mt 7,21-23). -
Stellen- und Autorenregister.

Inhaltlich sind die Studien Vorarbeiten zu einem Bergpredigtkommentar
für Hermeneia. Der wird es in sich haben. Betz' Grundsätze
sind diese (kurz zu lesen in den Vorbemerkungen oder
S. 78-84): Die Bergpredigt ist eine vormatthäische Komposition, die
der erste Evangelist ganz und ziemlich wörtlich übernommen hat. Sie
entstand auf griechisch in judenchristlichen Kreisen um 50 n. Chr.,
wahrscheinlich in Jerusalem. Sie war eine durchdachte Epitome der
Lehre Jesu ähnlich den epikureischen Kyriai doxai oder dem Enchiri-
dion aus Epiktet. Christliche Lehrer sollten mit ihrer Hilfe den
Hörern/Lesern zeigen, wie man selbständig mit der Theologie und
Ethik Jesu umgeht. Jesus ist für die Bergpredigt der maßgebende Ausleger
und Lehrer der jüdischen Tora, nicht weniger und nicht mehr,
kein neuer Mose, kein Messias. Daß sein Sterben und Auferstehen
Heil bedeuten, glaubt die Bergpredigt nicht; soweit jemand das
behauptete (7,21 -23 ?), hat sie es abgelehnt. Jesus bringt Heil, insofern
er die toragemäße dikaisosyne lehrt, die den Täter in das Reich Gottes
führt, und beim Jüngsten Gericht als Anwalt seiner Schüler auftritt.
Reich Gottes hat nichts mit einer nahen apokalyptischen Wende zu
tun oder mit Dämonenaustreibungen, sondern meint das ewige Leben
im Jenseits, im Diesseits auch schon das Leben, das Gott als kosmischer
Vater dem gibt, der mit dem Heute zufrieden ist. Verfasser
und Hörer/Leser der Bergpredigt stehen näher beim irdischen Jesus
als die meisten anderen urchristlichen Gruppen, die wir kennen,
setzen ihn aber nicht einfach fort. Sie sind eine bedrohte jüdische
Minderheit, die sich mit Hilfe der Jesusüberlieferung bei Sinnen hält.
„Die Bergpredigt ist ein ausgesprochen polemischer Text" (S. 81). Die
zeitgenössischen Pharisäer bleiben in äußerlichem Vorschriftengehorsam
hängen, gefordert ist aber „die Hinwendung zur innerlichen
Offenlegung des menschlichen Herzens Gott gegenüber" (S. 47). Heidenchristen
haben sich durch das gesetzesfreie Evangelium schuldig
gemacht; 5,19 geht wegen elachistos direkt gegen Paulus (1 Kor 15,9),
7,15-20 gegen „heidenchristliche Missionare nach der Art des
Paulus" (S. 138 - die kommen nicht ins Reich Gottes, Paulus selber
gerade noch auf der tiefsten Stufen, „ein Urteil übrigens, mit dem
Paulus durchaus zufrieden gewesen wäre", S. 45). Nicht zuletzt setzt
sich die Bergpredigt mit Philosophie und Politik der griechischrömischen
Welt auseinander, meist verdeckt, aber tiefsinnig, so in
6,22f mit der Physiologie des Sehens als Fundament der Erkenntnistheorie
und in 6,25-34 mit der Krise des Vorsehungsglaubens. Die
interpretatio Graeca ist wohl das Ungewohnteste an Betz' Auslegung.
Daß man die Bergpredigt mit Theophrast und Epikur besser versteht,
liest man nicht oft.

Das sollen ausdrücklich nur Arbeitshypothesen sein. Es fehlt auch
noch viel. Daß Mt 5,3-7,27 „eine vollständig erhaltene vorsynoptische
Quelle" ist (S. 79), muß Betz noch am Text zeigen. Die Auseinandersetzung
mit der neueren Bergpredigtauslegung (Dietzfelbinger,
Gnilka, Lambrecht, Luz, Strecker, Weder . . .) bleibt noch zu führen.
Was dasteht, hat mir durch Ideenreichtum und Konsequenz imponiert
. Man muß es bedenken. Fast gefährlich faszinierend finde ich die
Vorstellung von der geistigen Potenz, die Betz dem Bergprediger (es