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Ausgabe:

1987

Spalte:

475-477

Kategorie:

Referate und Mitteilungen über theologische Dissertationen und Habilitationen in Maschinenschrift

Autor/Hrsg.:

Pollack, Detlef

Titel/Untertitel:

Die Religionstheorie Niklas Luhmanns und ihre systemtheoretischen Voraussetzungen 1987

Rezensent:

Pollack, Detlef

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Theologische Literaturzeitung 112. Jahrgang 1987 Nr. 6

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Artikel des Credo (146). Mit schonungsloser Offenheit wird von dem
verderblichen „Ineinander von geistlichen und machtpolitischen
Interessen" gesprochen, das „die Glaubwürdigkeit der christlichen
Botschaft aufs schwerste beeinträchtigen mußte" (148), vom Auseinanderfallen
von „Kirche und neue Menschheit, Evangelisierung und
Humanisierung, Zeugnis und Dienst, Mission und Entwicklung .. .
schon in einem frühen Stadium der Entwicklung" (151) und von
der Einschränkung der „Universalität des einen Evangeliums .. .
durch den illegitimen Universalitätsanspruch der westlichen
Mission" (157).

Dem reiht sich nahtlos an, was Rzepkowski über die Welt als
Kontext christlicher Sendung schreibt: „Es ist zu erwarten, daß die
westlichen Ordnungs- und Machtstrukturen durch die Dritte Welt
noch schärfer hinterfragt werden. Die nordatlantischen Lösungen
lassen sich nicht verallgemeinern" (166). „Eine Entwicklung ist nicht
möglich, wenn nicht eine tiefgreifende kulturelle und religiöse Begründung
vorhanden ist. Entwicklung ist.. . vor allem eine Frage des
religiös-kulturellen Wandels ... denn Entwicklung ist nur als ein
ganzheitlicher und umgreifender menschlicher Prozeß verstehbar und
verantwortbar." (174 f)

Ein Buch, das Beachtung verdient, einerseits um seiner Ökumenizi-
tät willen - über den konfessionellen Zaun hinweg erfährt jeder der
beiden Anrainer, was ihm um des gemeinsamen Auftrags willen vom
anderen zu wissen not ist -, andererseits um der gut lesbaren, verständlichen
Darbietung willen: Es möchte einem breiten Leserkreis
die Glaubenserkenntnis vermitteln, „daß ,missio externa' zum Wesen
des Christentums und der Kirche gehört" (198).

Berlin Heinz Blauen

Referate über theologische
Dissertationen in Maschinenschrift

Pollack, Detlef: Die Religionstheorie Niklas Luhmanns und ihre
systemtheoretischen Voraussetzungen. Diss. Leipzig 1984. III,
170 S.,Anh.20 S.

Die seit Mitte der siebziger Jahre angelaufene Auseinandersetzung
der Theologie mit der Religionssoziologie Niklas Luhmanns ist inzwischen
auf Touren gekommen. In ihr finden sich neben bewußt simplifizierenden
Erklärungsversuchen hochabstrakte, diffizile Analysen,
subjektivitätstheologisch fundierte Intergrationsbemühungen neben
mit kaum reflektierten theologischen Prämissen arbeitenden Überbietungen
, anwendungsbereite Aktualisierungen neben affektiv polemischen
Zurückweisungen. Ziel der hier vorzustellenden Arbeit ist eine
auf eingliedernde Harmonisierungen oder abgrenzende Widerlegungen
verzichtende immanent-kritische Rekonstruktion der Religionstheorie
Luhmanns. Dabei kommt es dem Vf. darauf an, das merkwürdig
tendenzfreie theoretische Denken Luhmanns auf seine leitende
Intention hin zu befragen und seine" sich konfrontationsgemindert
gebenden religionssöziologischen Erwägungen in ihrer fruchtbaren
Gefährlichkeit für Theologie und Kirche zur Geltung zu bringen. Um
die Religionsauffassung Luhmanns aus ihrem Zusammenhang mit
seiner funktional-strukturellen Systemtheorie verstehen zu können,
ist der Behandlung seiner Religionstheorie die Darstellung seiner allgemeinen
Theorie sozialer Systeme vorangestel lt.

Die Intention Luhmanns, die den Konstruktionsplan seiner allgemeinen
Theorie steuert, sieht der Autor in einem Streben nach Uni-
versalisierung der Gegenstandserfassung. Damit weist er Interpretationen
ab, die Luhmann auf eine Entscheidung innerhalb der Dichotomie
von Sozialtechnik und vernünftiger Praxis festlegen wollen und
seinem Konzept Herrschaftskonformität vorwerfen. Mit der aus dem
Universalitätsanspruch der Theorie resultierenden Ausweitung des
Anwendungsbereiches der Analyse von Systemen auf Welt hin versucht
Luhmann gerade, über die Alternativität von Herrschaft oder
Vernunft, Apologie oder Kritik, Bestandserhaltung oder Wandel hin-

auszugelangen. An die Stelle von Kontradiktionen schiebt sich hei
ihm das Konzept des System/Umwelt-Verhältnisses, innerhalb dessen
die beiden Größen stets unterscheidbar, aber auch stets aufeinander
beziehbar sind. Der Theoretiker begegnet seinem Gegenstand
nicht mit moralischen Forderungen, die die eine Seite der Relation
gegen die andere ausspielen, sondern in dem Bemühen, mehr
Komplexität aufzuarbeiten, als in alternativen ßegriffspaaren auszudrücken
ist, und» durch Gebrauch unterschiedlicher Methoden
so viel Komplexität einzufangen, daß sich auch noch das Auftauchen
von Kontradiktionen erklären läßt. So entwirft er unter Zusammenziehung
aller Perspektiven ein letztes Bezugsproblem von Systemen
(eben: Komplexität), das es erlaubt, auch noch die Frage nach dem
Sinn und der Funktion von Systemen, nach ihrer Konstitution und
Änderung und damit nach ihrem Bestand und Wandel zu stellen. Der
Komplexitätsbegriff mißrät bei Luhmann nun aber nicht zur Zauberformel
, in der alle Unterschiede, da sie in ihr aufgenommen sind, verschwinden
. Vielmehr ist die Differenz zwischen System und Umwelt
(auch bei der Bestimmung des Komplexitätsbegriffes selbst) unauf-
hebbar und diese Unaufhebbarkeit durch Asymmetrie in der Beziehung
zwischen Systemen und Umwelt sichergestellt. Insofern kann
der Theorie Luhmanns nicht Indifferenz als Freiheit von allen Bestimmungen
angelastet werden. Die Theorie Luhmanns konstituiert
sich im Gegenteil gerade aus der Abwehr von Einheitsentwürfen. Sie
bedarf der Einheit nicht, denn sie faßt die System/Umwelt-Relation,
etwa das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, nicht als Gegensatz
, der zur Versöhnung des Gespaltenen drängt, sondern als
nicht auseinanderfallende und nicht auf einen Pol zurückführbare
Differenz und kann sich daher mit der Relationierung des so Unterschiedenen
begnügen. Der gegen Luhmann erhobene Vorwurf des
Opportunismus erklärt sich vor allem aus dieser Entdramatisierung
der Differenz zwischen Subjekt und Sozialität. Die Ermäßigung des
Konflikts zwischen System und Umwelt bietet Luhmann indes
zugleich die Möglichkeit, sowohl Welt aus ihrer Systemverflcchtung
wie Systeme aus ihrem Umweltbezug zu erhellen und das Unzugängliche
, das er ebenfalls in die System/Umwelt-Relation einordnet, vom
Zugänglichen zu unterscheiden. Aufgrund dieser Einordnung der
Zweiseitigkeit des Zugänglichen und Unzugänglichen bzw. des
Erscheinenden und Nichterscheinenden in die System/Umwelt-Relation
vermag Luhmann die Möglichkeit einer systemunabhängigen
Faktizität, eines unerkennbaren Dings an sich, einer außergesellschaftlichen
Subjektivität zu bestreiten, und selbst das Unzugängliche
(= Unbestimmte) noch als über Normalisierungs- und Steigerungsstrategien
erfaßbar (= bestimmbar) darzustellen. Gleichzeitig vollziehen
sich nach Luhmanns Auffassung alle Bestimmungen des Unbestimmten
(seien es systeminterne oder systemexterne Unbestimmtheiten) im
Kontext weiterer, unbestimmt bleibender Möglichkeiten, so daß alle
Bestimmungen durch anschließende oder anders mögliche Selektionen
ergänzt oder korrigiert werden können, aber niemals die Fülle
aller Möglichkeiten einfangbar ist. Mit der Konstitution einer solcherart
weder nach innen noch nach außen abschließbaren System/Um-
welt-Zirkularität, in die alles Erreichbare und Unerreichbare hineinfallt
, wendet sich Luhmann gegen die Behauptung der prinzipiellen
Unverfügbarkeit von Letztwerten (Gott, Subjekt, Substanz, Anfang,
Sein, Ding an sich) und gegen die Behauptung von deren Unnegierbar-
keit, die stets auf der Behauptung ihrer Unverfügbarkeit aufruht. Um
dem Denken die Möglichkeit des Rückzuges auf unnegierbare und
dem Zugriff sozialwissenschaftlicher Untersuchungen entzogener
Hypostasierungen zu nehmen, schaltet Luhmann von auf Unklarheit
beruhenden Nichtkontingenzen auf kontingente (= immer auch
anders mögliche) Bestimmtheiten um. Indem Luhmann dem Denken
auf solche Weise die in gesellschaftsexterne Innerlichkeit oder extra-
mundane Äußerlichkeit führenden Fluchtwege verstellt, garantiert er
die sozialwissenschaftliche Erfaßbarkeit von Religion, die er ohne
Bezugnahme auf Heiliges, Numinoses, Übermächtiges oder Glaube,
unter Verwendung einer nichtreligionsspezifischen distanzierten
Begrifflichkeit in ihrer gesellschaftlichen Funktion analysiert.