Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1987

Spalte:

446-447

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Zehrer, Karl

Titel/Untertitel:

Evangelische Freikirchen und das "Dritte Reich" 1987

Rezensent:

Goertz, Hans-Jürgen

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

445

Theologische Literaturzeitung 112. Jahrgang 1987 Nr. 6

446

Nachkriegszeit wenn auch nicht sachlich geklärt, so doch persönlich
bereinigt werden konnte, wird in seiner theologischen, kirchenpolitischen
und menschlichen Dimension allseitig beleuchtet. (Zur richtungspolitischen
Brisanz vgl. schon Ernst Bizer: Ein Kampf um die
Kirche. Der .Fall Schempp' nach den Akten erzählt. Tübingen 1965)
In seiner auch sonst einfühlsamen Würdigung der ekklesiologischen
Grundproblematik, die diesen „Skandal" auslöste, apostrophiert G.
Schäfer in seiner Einleitung zu Band 6 Bizers Darstellung kritisch:
,,Der .Fall Schempp'... ist nicht so einfach, daß er als .Kampf um die
Kirche' nach einer begrenzten Auswahl von Akten als abschreckendes
Beispiel für die totale Unfähigkeit einer Kirchenleitung erzählt
werden könnte." (XXI) Da Paul Schempp der Theologischen Sozietät
Hermann Diems in Württemberg zugehörte, von dieser aber in seinem
independentistischen Kirchenbegriff und seinem theologisch-aggressiven
Vorgehen gegen Bischof und Oberkirchenratsbehörde in Stuttgart
trotz aller Solidarität zuletzt kaum mehr überzeugend verteidigt
werden konnte (auch die Leitung der Konferenz der Landesbruderräte
distanzierte sich von Schempp, so etwa besonders eindrücklich
H. Kloppenburg), zielt diese breit dokumentierte Thematik auf
Aspekte des ekklesiologischen Grundkonfliktes und hilft diesen Zwiespalt
innerhalb der BK - wennschon an einem exzeptionellen Beispiel
- zu veranschaulichen.

Auch im Blick auf die historiographische Bewertung des Kirchlichen
Einigungswerkes, über das bereits eine eindringende Monographie
von Jörg Thierfelder vorliegt, bietet der Band ein abgerundetes
Bild der Problematik und der Entwicklung dieser „Aktion Wurm".
Die aus etwa 100 Pfarrern bestehende Kirchlich-Theologische Sozietät
Hermann Diems stand aus grundsätzlichen bekenntnismäßig stark
von der Theologie Karl Barths geprägten Erwägungen dem Einigungswerk
des Landesbischofs Wurm, das von Bekenntnisgemeinschaft und
Landesbruderrat Württembergs loyal mitgetragen wurde, völlig aver-
siv gegenüber. Während der ekklesiologische Purismus der Sozietät
betonte, die Reinigung der Kirche sei vordringlicher und wichtiger als
ihre Einigung (995), ging der württembergische Bruderrat davon aus,
es sei die „Christus bekennende Kirche in Deutschland . . . etwas
ungleich Größeres als der Kreis der in der Bekennenden Kirche
zusammengeschlossenen Pfarrer und Gemeindeglieder"(995). Was in
Barmen entschieden werden mußte, sei „heute in der Kirche entschieden
", hieß es in einer Verlautbarung des Landesbrudcrrats im Jähre
1943. In den 13 Sätzen über Zeugnis und Dienst, die die Magna
Charta des Einigungswerks darstellten, sei dieses Anliegen Barmens
voll aufgenommen. Im übrigen gehe es um „Vereinigung auf das
Grundlegende, nicht um Bereinigung spezieller theologischer Differenzen
" (994). Im Sinne Wurms ging es im Einigungswerk „nicht um
die Flottmachung eines gestrandeten Schiffs, sondern um die ganze
Flotte" (888). Insofern war die volkskirchliche Verantwortung auch
richtungspolitisch übergreifend impliziert (Einbeziehung der
„Mitte"). Das Gespräch mit den Nationalkirchlern diente allerdings
mehr der kritischen Orientierung, als daß eine Kooperation mit ihren
Kirchenführern in der letzten Kriegsphase ernsthaft ins Auge gefaßt
werden konnte (vgl. Briefwechsel Bischof Wurms mit Kirchenpräsident
Rönck).

Die volkskirchliche Intention Wurms, die auch resistenzgeschichtlich
von Belang ist (Widerstand gegen eine der Kirche vom NS-
Regime zugedachte Ghetto-Existenz) wird de facto und auch verbal in
entsprechenden Dokumenten immer wieder deutlich (502, 731, 1149,
1043, u. ö.). Die Gefahr wurde aufgewiesen, daß Kirche zur Sekte
werden könne, „die nur an den kleinen Kreis ihrer Glieder denkt und
die Verantwortung für das Ganze des Volkes und den Missionsbefehl
vergißt" (1149), falls die evangelische Kirche vom NS-Regime auf die
Stufe einer Vereinskirche herabgedrückt werde. So Wurm vor dem
Landeskirchentag am 2.9. 1941. Und so man meinte, „die Zeit der
alten christlichen Volkskirche ist dahin, die Zeit des christlichen
Deutschlands ist unaufhaltsam abgelaufen", - so Prälat Dr. Hartenstein
im Herbst 1944 in einer Stiftskirchenpredigt in Stuttgart (1362f)
- hatte man weniger kircheninstitutionellc Konsequenzen im Auge

als vielmehr die Überwindung bisheriger privater Frömmigkeitsstrukturen
durch ein stärker auszuprägendes Gemeindebewußtsein.

Die Phase der Neukonstituierung der Deutschen Evangelischen
Kirche als Evangelische Kirche in Deutschland wird nur in den ersten
Anfängen bis Treysa und bis zur Stuttgarter Schulderklärung 1945
markiert, auch deshalb, weil eine Dokumentation über das Kriegsende
hinaus nicht in so hohem Maße sich auf die Geschichte einer
einzelnen Landeskirche stützen kann, wie dies bis 1945 möglich und
angezeigt erschien (XII).

Die editorisch vorzüglich gestaltete, auch vom Schriftsatz her gut
lesbare Dokumentation stellt einen fundamentalen Beitrag vertiefter
Erfassung der kirchlichen Territorialgeschichte dar. Problematik und
Bedeutsamkeit einer intakten Landeskirche werden sichtbar.

Zur Rez. der übrigen Bände vgl. ThLZ 110, 1985, 747. - An Korrigenda sind
lediglich zu nennen: Lothar Kreyssig war Jurist, nicht Pfarrer (S. 892 u. Reg.);
August Cordes (Reg.). Wienken (S. 856 u. Reg.); Artur Weiser (gest. 1978).

Leipzig Kurt Meier

Zehrer, Karl: Evangelische Freikirchen und das „Dritte Reich". Berlin
: Evang. Verlagsanstalt 1986. 190 S. 8'. Kart. M 15,-; Ausland
20-.

Klaus Scholder wollte im zweiten Band seiner „Kirchen und das
Dritte Reich" (1985) auch die Problematik der Freikirchen unter dem
nationalsozialistischen Regime darstellen. Leider ist er dazu nicht
mehr gekommen. Um so verdienstvoller ist es, daß es dem methodistischen
Pfarrer Karl Zehrer inzwischen gelungen ist, seine Leipziger
Habilitationsschrift (Promotion B) aus dem Jahre 1978 zu kürzen und
einer breiten Öffentlichkeit vorzulegen. Das ist die erste Gesamtdarstellung
, die sich um die Freikirchen im „Dritten Reich"
bemüht.

Eine Untersuchung der freikirchlichen Reaktion auf die Herausforderung
durch den Nationalsozialismus stößt auf erhebliche
Schwierigkeiten. Es handelt sich bei den evangelischen Freikirchen
um sehr disparate Kirchen, von den lutherischen und reformierten
Freikirchen über die Methodisten, Baptisten und Mennoniten zu den
zahlreichen kleineren Gemeinschaften wie der Heilsarmee, den Dar-
bysten und den Offenen Brüdern. Das kirchliche Selbstverständnis,
die Herkunft, die Beziehungen zum Ausland, die Ordnungen, die
Beratungs- und Organisationsformen sind so unterschiedlich, daß es
kaum möglich ist, diesem breiten Spektrum des Freikirchentums in
einer einzigen Monographie gerecht zu werden. Zehrer ist sich dieser
Schwierigkeit bewußt und beschränkt sich im Sinne einer pars-pro-
toto-Darstellung im wesentlichen auf die lutherischen Freikirchen
und die Methodistenkirche, gelegentlich zieht er noch die Evangelische
Gemeinschaft und die Baptisten heran, d. h. die wichtigsten
Mitgliedskirchen der „Vereinigung Evangelischer Freikirchen", die
Mennoniten und die Herrnhuter Brüdergemeine. Eine andere Schwierigkeit
stellt die Quellenlage dar. In mühsamen Recherchen mußte
Zehrer sich überhaupt erst eine Quellengrundlage selber schaffen; in
vielen Freikirchen sind die Dokumente nicht immer sachgemäß aufbewahrt
worden, ganz abgesehen davon, daß manches belastende
Material inzwischen auch schon vernichtet wurde, und immer noch
muß der Widerstand gebrochen werden, der gegen eine wissenschaftliche
Bearbeitung dieses Materials besteht. Zehrer hat manche Dokumente
noch rechtzeitig vor dem endgültigen Verschwinden gerettet
und wichtige Schriftwechsel, Protokolle und Stellungnahmen zwischen
den kirchlichen Gremien und staatlichen Stellen im zweiten
Teil dieses Buchs (S. 107-176) zum Abdruck gebracht. Für weitere
Forschungen besonders hilfreich ist das schwer zugängliche Material
aus dem Reichskirchenministerium. Von der Materiallage her ergibt
sich die Perspektive, unter der die Freikirchenproblematik in den
Blick genommen wird: Es geht genaugenommen nicht um eine Darstellung
der Freikirchen im „Dritten Reich", sondern nur um eine
Untersuchung der mehr oder weniger offiziellen Kontakte von freikirchlichen
Leitungsorganen mit staatlichen bzw. landeskirchlichen
Behörden.