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Ausgabe:

1987

Spalte:

444-446

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Titel/Untertitel:

Von der Reichskirche zur Evangelischen Kirche in Deutschland, 1938 - 1945 1987

Rezensent:

Meier, Kurt

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Theologische Literalurzeitung 112. Jahrgang 1987 Nr. 6

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die friedenspolitische Szene der Gegenwart. Dazu werden Leonhard
Ragaz und Karl Barth in Relation zu dem Gesamtthema des Bändchens
unverhältnismäßig oft zitiert.

Zu Beginn druckt der Vf. einen fingierten Brief „eines Abgeschiedenen
an den Verfasser" (7) ab, datiert auf den 6. 12. 1985. Der Briefschreiber
ist Ragaz, der Winzeier auf den Seiten 7-23 deutlich
machen will, daß die „Aufgabe, an die Zwingli sein Leben gesetzt hat,
. . . auch heute noch" bestehe. (16) Der Briefschreiber aktualisiert mit
wenig Rücksicht auf historische Faktizitäten das Gesamtthema des
Bandes: „Wir stehen nach 450 Jahren vor der gleichen Forderung, die
für Luther ein Problem, Tür Zwingli aber eine Herausforderung war:
Wir müssen Politik und Gottesreich verbinden, die zwei gewaltigsten
Mächte, die es gibt, die um die Welt und meine Seele ringen". (17)

Als Nächstes bietet Winzeier einen 1984 gehaltenen Vortrag „Zur
Aktualität der politischen Theologie Ulrich Zwingiis". Der Vf. spannt
seine Gedanken von der Einschätzung des Problems Zwingiis in
Gestalt des Reislaufens über Karl Barths Verständnis von „Christengemeinde
und Bürgergemeinde" bis zu Äußerungen zur heutigen
Zivildienstinitiative (44). Die Dinge werden unter Verzicht auf die
Darstellung im Rahmen der Verlaufsgeschichte behandelt. Die politische
Evaluierung der Reformation steht im Vordergrund. So heißt es
am Schluß des Vortrages: „Die politische Predigt, der .politische
Gottesdienst' der ökumenischen Gemeinde sind nicht die Erfindung
einiger Jinker' Theologen, sondern Grundartikel der Reformation".
(44)

Zur Charakteristik der „Zeitgemäßheit der Zwinglischen Reformation
" druckt Winzeier Thesen ab über „Zwingli als Theologe der
Befreiung". Diese hatte er anläßlich eines Kongresses über „Zwingli
und Europa" im Jubiläumsjahr 1984 in Bern vorgetragen. Winzeier
versteht den Reformator von Bonhoeffer und Cardenal her, wenn er in
einer der Thesen eine Aktualisierung folgendermaßen vornimmt:
„Christen sind nach Zwingli keine Unschuldslämmer, die die
bedrängte Herde den Wölfen zum Raub überlassen. Sein Beispiel hat
seine Aktualität so auch im Zeitalter der Diktaturen und Befreiungsbewegungen
noch nicht verloren.... Im Zeitalter der Massenvernichtungsmittel
dürften alternative Verteidigungsmodelle, Schritte einseitiger
Abrüstung und ein waffenloser Friedensdienst der Zeitgemäßheit
Zwingiis aber besser entsprechen als eine Rüstungsproduktion,
die heute schon einer ,Lebensmittelblockade' für die hungrigen Völker
gleichkommt." (48) Daß sich Winzeier hier den großen Kummerpunkten
unserer Zeit mit Engagement zuwendet, ist hoch anerkennenswert
, aber warum muß man dazu einen Reformator des 16. Jh.
bemühen, dessen Symbolik angesichts der vorgetragenen Thesen
dann auch noch sehr rätselhaft mit Kreuz und Schwert auf dem
Umschlag erscheint?

In einem nachstehend abgedruckten Kommentar (50-107) entfaltet
der Vf. seine Thesen unter dem Thema „Auf dem Wege zur mündigen
Gemeinde". Eine Aufarbeitung der Quellentexte Zwingiis zum
Thema ist das nicht. Im Grunde will Winzeier unter dem angezeigten
Buchtitel die Gemeinden heute zu verstärktem Engagement im „politischen
Tages- und Zeitgeschehen" (51) aufrufen. Dazu werden aus
dem Zusammenhang geholte Zwingli-Zitate, kräftige Invektiven
gegen Luther und das Luthertum, gar nicht gedanklich vorbereitete
Seitenhiebe gegen den Kommunismus (85) und die kritisch hinterfragten
Begriffe „Kirche im Sozialismus" und „Kirche im Kapitalismus
" (80) bemüht. Große Teile des terminologischen Arsenals heutiger
kirchenpolitischer Debatten sind zur Stelle. Wenn man selbst
einen klaren Standpunkt hat, mag man dieses alles gelegentlich mit
Vergnügen, vielleicht seltener mit Zustimmung lesen. (Angesichts der
Kurzcharakteristik von Luthers Abendmahlsauffassung [88] mag
mancher reformationsgeschichtlich kundige Historiker fassungslos
sein!)

Zuweilen hat man den Eindruck, daß sich ein Schweizer Mitbürger
an seine Landsleute wendet (71). Auch auf die „Urkrankheit des helvetischen
Militarismus" kommt der Vf. zu sprechen. Der Rez. vermag
es nicht auszuschließen, daß durch intensives Eingebundensein in

ethnische Gegebenheiten durch Winzelers Ausführungen „das Gewissen
eines jeden Bürgers und Soldaten" (71) geschärft wird, aber
der Rundumschlag in der Pauschalkritik heutiger politischer und ökonomischer
Zustände unter Verwendung von Zitaten aus dem 16. und
des Begriffsarsenals aus dem 20. Jh. wirkt wenig überzeugend. Vor
allem fehlt fast in jedem Fall die Beachtung historischer und kontemporärer
Kontexte, so daß auch jede Kontrolle der bisweilen interessant
vorgetragenen Thesen, denen man ja gern folgen möchte,
unmöglich wird.

So vertieft das vorliegende Buch im Rahmen seines Titels schwerlich
die historische Einsicht. Es regt aber sicherlich die an der Fragestellung
Interessierten dazu an, darüber neu zu forschen, wie es eigentlich
gewesen ist.

Görlitz Joachim Rogge

Kirchengeschichte: Neuzeit

Schäfer, Gerhard: Die Evangelische Landeskirche in Württemberg
und der Nationalsoziaiismus. Eine Dokumentation zum Kirchenkampf
. Bd. 6: Von der Reichskirche zur evangelischen Kirche in
Deutschland 1938-1945. Stuttgart: Calwer 1986. XXXII, 1468 S.
gr. 8°. Lw. DM 56,-.

Die monumentale Dokumentation über die evangelische Kirche
Württembergs, deren erster Band bereits 1971 erschien, findet mit
Band 6 ihren Abschluß. Bereits 1968 kam als „Ergänzungsband" heraus
: Landesbischof Wurm und der nationalsozialistische Staat
1940-1945. Darin wurden vorwiegend Abwehr kirchenpolitischer
Restriktionen und mannigfache Protestschritte Wurms bei Staatsund
Parteistellen des NS-Regimes wegen der Geisteskrankenmorde
und der Judenvernichtung dokumentiert.

Der vorliegende Band 6, der die Entwicklung von 1938 bis 1945
vergegenwärtigt, bezieht sich stärker auf innerkirchliche Auseinandersetzungen
, die durch die Schlüsselrolle, die dem württembergischen
Landesbischof bei dem von ihm initiierten kirchlichen Einigungswerk
während des Zweiten Weltkrieges zukam, übergreifend
Relevanz besitzen. Eingespannt in den ereignisgeschichtlichen Rahmen
dieser Jahre werden die kirchenhistorisch relevanten Sachverhalte
vorgestellt. Als letzter politischer Versuch einer Reichskirche
im NS-Sinne gelten die Manipulationen des Kirchenministers Kerrl
1938 /1939, die mit dem Fiasko der mit der Godesberger Erklärung im
Zusammenhang stehenden kirchenpolitischen Koordinierungsbestrebungen
des Kirchenministeriums enden. Demgegenüber stellt sich
das Einigungswerk, das Wurm 1941 auf Wunsch von Exponenten der
Vorläufigen Leitung und der Konferenz der Landesbruderräte der
Bekennenden Kirche ins Leben rief, als genuin kirchlicher Versuch
einer notwendigen Fronlverbreiterung der kirchenbewußten Kräfte
im landeskirchlichen Protestantismus dar, der sich atmosphärisch
und strukturell auf den Neuautbau der Evangelischen Kirche in
Deutschland nach 1945 auswirkte. Weitere Problemkomplexe sind:
Alltagsgeschichte kirchlicher Arbeit in der württembergischen Landeskirche
, Vorgänge im Zusammenhang mit der „Reichskristallnacht
" 1938 (ausführlich besonders an Pfr. Julius von Jan dokumentiert
, der seinen Protest auf der Kanzel mit Haft büßen mußte) wie
auch die Kämpfe um Religions- und NS-Weltanschauungsunter-
richt.

Die Frage nach rechter Verkündigung und Ordnung und die Auseinandersetzungen
darüber kommen ausführlich zur Sprache: Neben
dem Konflikt wegen der Gebetsliturgie der 2. Vorläufigen Leitung der
BK, bei denen der Kirchenminister Kerrl die Bischöfe intakter
Landeskirchen, auch Wurm, zu konfliktträchtiger Distanzierung
zwang, ist hier besonders auf die quellenmäßig umfassende Präsentation
des „Falles Schempp" hinzuweisen (507-671: 1221-1337). Der
Konflikt, in den der württembergische Pfarrer Paul Schempp (Iptingen
) mit seiner Kirchenleitung in Stuttgart geriet und der erst in der