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Ausgabe:

1987

Spalte:

437-439

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Theißen, Gerd

Titel/Untertitel:

Der Schatten des Galiläers 1987

Rezensent:

Trilling, Wolfgang

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Theologische Literaturzeitung 112. Jahrgang 1987 Nr. 6

438

Zebedäide selbst, der das meiste Material dieser Schriften als Augenzeuge
niedergeschrieben hat. Joh 9,42 u. a. Stellen sind keine Argumente
für die Trennung der Kirche von der Synagoge, sondern nur ein
Hinweis auf die Schwierigkeiten, die schon in lThess2,14f erwähnt
werden. Da die Zebedäiden relativ begütert waren (Mk 1,20). konnte
Johannes eine gute Bildung erreichen. Die endgültige Gestalt hat das
Johannesevangelium gegen Ende der sechziger Jahre erhalten.

Das letzte Kapitel (X) ist den ältesten außerkanonischen Schriften
gewidmet, von denen die Didache auch noch in die Zeit vordem Fall
Jerusalems datiert wird, sogar in die Jahre 40-60. d. h. noch vor die
synoptischen Evangelien. Es handelt sich nämlich um eine Schrift, die
noch keine Verfolgungen erwähnt.

Die interessanten Einzelbeobachtungen und manche berechtigten
Einwände gegen die Argumente in der Datierung neutestamentlicher
Schriften, wo gegenwärtig ein relativer Konsens erreicht ist. können
nicht die Verlegenheit unterdrücken, mit welcher wir das Buch schließen
. Wozu ist es gut? Theologisch will R. die Tradition der Kirche
nicht verteidigen, auch wenn er auch praktisch oft bei der traditionellen
Verfasserschaft bleibt, er betont öfter, daß dies nicht sein eigentliches
Anliegen ist. Den Traditionsprozeß will er auch nicht leugnen,
nur betont er, daß die schriftlichen Vorstufen von Anfang an da
waren. Die kanonische Autorität der neutestamentlichen Schriften
untermauert er auch nicht, denn er rechnet damit, daß mehrere
bruchstückhaft erhaltene apokryphe Traditionen (Papyrus Egerton,
Thomasevangelium, das geheime Evangelium des Markus) mit den
kanonischen Büchern im Grunde gleichaltrig sind. Und als Beitrag,
der sich ausschließlich auf die Datierungsfragen konzentriert, ist R.s
Buch wieder nicht überzeugend. Wie bedeutend das Jahr 70 auch war,
so wenig hat es auch in den nachweislich späteren christlichen Schriften
(im Unterschied zu den jüdischen Apokalypsen) Beachtung
gefunden. Barnab. 16,4 ist eine der wenigen Anspielungen, die überhaupt
nicht hervorgehoben ist.

Eine bedeutende Apologie für R. hat E. E. EIIis in New Testament
Studics 26. 1979/80 geschrieben. Er hat einige bei R. fehlende Argumente
ergänzt, um seine Einzelbeobachtungen glaubwürdiger zu
machen: Da sich die christliche Theologie nicht geradlinig entwickelt
hat, da die Verfasser der einzelnen Schriften oft die Kreise direkter
Schüler waren und da der hellenistische Einfluß in Palästina viel tiefer
war, als man bisher gedacht hat, ist R.s Datierung doch nicht ausgeschlossen
. R.s Buch ist wirklich ein Zeichen dafür, daß mehrere der
früheren Axiome wieder fragwürdig geworden sind; aber das bedeutet
noch nicht, daß die nachneutestamentliche kirchliche Tradition die
glaubwürdige Lösung bringt (z. B. bei Jak und 2Petr argumentiert R.
mit der Tradition gegen die Argumente aus der späten äußeren Bezeugung
), und vor allem können wir bei mehrschichtigen literarischen
(icbilden, wie Evangelien, die Absichten der Autoren (bzw. Redaktoren
), in ihrer theologischen Beziehung und z. T, auch in ihrem
geschichtlichen Nacheinander verfolgen, was auch für die absolute
Chronologie hilfreich ist. In der gegenwärtigen Forschung ist dies
meistens das entscheidende Argument gegen Frühdatierungen, unter
welche auch R.s Vorschläge gehören:

(Fehler im Griechischen habe ich auf den Seiten 89. 181 u. 302
gefunden. Auf der S. 324 Z. 4-5 soll statt „Diokletians" ..Domitians"
stehen.)

Prag Petr Pokorny

I hei Ben. Gerd: Der Schatten des GaliMers. Historische Jesusforschung
in erzählender Form. München: Kaiser 1986. 269 S.,
1 Ktc 8*. Kart. DM 32.-.

Titel und Untertitel geben Inhalt und Eigenart des Buches exakt
wieder. Die Hauptperson der Rahmenhandlung. Andreas, begegnet
bei seinen Recherchen niemals Jesus selbst, er sieht ihn zum ersten
Mal. da er hingerichtet und bereits gestorben am Kreuz hängt

(S. 2240- Er begegnet jedoch auf Schritt und Tritt seinem „Schatten". In
Erzählungen der Leute, in Zitaten seiner Aussprüche aus den Evangelien
, in Reflexen von Gesprächen und Diskussionen über ihn. Es ist ein
spannendes, ja aufregendes Buch geworden, das ich nachdenklich
geschlossen habe, aber gewiß öfter wieder aufschlagen werde.

G. Theißen hat sich auf das Wagnis eines Jesus-Buches in Form
einer zusammenhängenden, in sich schlüssigen Erzählung eingelassen
. Das ist in der Exegetenzunft schon ungewöhnlich, allein
deshalb verdient der Autor Respekt. Andreas, ein junger Mensch aus
Sepphoris, wird nach einem Verhör durch Pilatus auf Grund der Teilnahme
an einer Demonstration in Jerusalem dazu gepreßt, Nachrichten
über die religiösen und politischen Bewegungen im Volk, auch
über Jesus von Nazareth zu sammeln (als Pilatus' „Berater in
religiösen Fragen", S. 25). Er erfährt, was im Volk umgeht, die
Bedrängnisse, Sehnsüchte, die Versuche, Auswege aus dem Dilemma
zu finden. Gesellschaftliche und politische Probleme stehen im
Vordergrund. Kontakte ergeben sich zur Täuferbewegung, zu den
Zeloten (Arbcia!), zur Qumranischen Kommunität, zur Jesusschar.
Die Geschichte wird über den Tod Jesu bis zu seiner Auferstehung
(natürlich im Reflex der Anhänger) und zu einer eindrucksvollen,
sparsam auf die Gegenwart hin durchsichtig gemachten Nacherzählung
von Dan 7 (Herrschaft der Tiere) mit der Vision des neuen
Menschen („Menschensohnes") hinausgeführt: „Überwunden waren
die Ungeheuer der Nacht. . . mir war der wahre Mensch erschienen.
Und ich hatte in ihm die Züge Jesu erkannt. Er hatte mich der Erde
wiedergegeben . .. Ich schloß einen neuen Bund mit dem Leben."
(S. 255) So bekennt Andreasam Ende.

Die Jesuserzählung ist durch reichliche und treffende Belege der
zeitgenössischen Literatur, vor allem aus dem Werk des Joscphus, abgestützt
. In ihnen erscheinen die Umrisse der Situation Jesu glaubhaft,
mindestens als historisch möglich. Alttestamentliche Zitate vermitteln
die Atmosphäre der Glaubenswelt Israels. Doch begnügt sich
T. damit nicht. Sein Buch enthält eine Folge von Briefen an einen
ebenso fiktiven Kollegen im neutestamentlichen Fach, einen als Vorwort
, einen als Nachwort formuliert, die anderen jeweils ans Ende der
18 (bzw. 17) Kapitel gestellt. In ihnen werden die methodologischen
Probleme der „historischen Jesusforschung" anvisiert, sie stellen die
methodische Vergewisserung des Autors gegenüber diesem kritischen
Adressaten dar. Das ist reizvoll und lehrreich, z. B. über „narrative
Exegese" (S. 33).

Das Buch steht im Zusammenhang mit den wichtigen sozialgeschichtlichen
Forschungen des Vf. Die Blickrichtung auf „Jesus in
seinerzeit" ist primär von den gesellschaftlichen, ökonomischen und
politischen Verhältnissen her gewonnen, also nicht ein Bild von
„Jesus an sich" wiedergegeben. „Es ist .Jesus' aus der Perspektive
bestimmter sozialer Erfahrungen." (S. 214) In diesem Brief wird noch
näher über den Standort des Vf. Aufschluß gegeben: Er habe sich 1968
„im rebellionsfähigen Alter" befunden, sein Jesus-Buch trage die
Spuren dieser Jahre. „Der Inhalt Ihres Briefes hat mich nachdenklich
gemacht. Mir war beim Schreiben nicht bewußt - was Ihnen beim
Lesen aufgegangen ist -. daß ich die Erfahrungen meiner Generation
verarbeite: Die überschwenglichen Hoffnungen auf Reformen, das
Scheitern an vorgegebenen Machtstrukturen und an eigenen Illusionen
, die große Ernüchterung bei den einen, das Abgleiten in Gewalt
und Terror bei den andern. Ist mein Jesusbild eine Projektion meiner
Generation? Es ist taktvoll, daß Sie mich eine Konsequenz selbst
ziehen lassen: Es könnte veraltet sein!" Daß diese Zeitbczogenheit
sich in der Rahmenhandlung niederschlage, das Jesus-Bild jedoch
weniger davon berührt werde (ebd.), möchte ich bestätigen.

Über Einzelheiten zu rechten, erscheint mir vor diesem geschlossenen
, auch literarisch sorgfaltig disponierten und auch formulierten
Entwurf unbillig zu sein. Mir fiel wohl auf, daß das Reich-Gottes-
Thema. aufs Ganze gesehen, inhaltlich nicht zentral hervortritt (doch
vgl. S. I94f; zur sozialen Komponente S. I04f: über „Jesus als
Dichter" und zu den Gleichnissen S. 187-190). wenngleich es im
Horizont immer gegenwärtig ist. Vielleicht ist es Zufall bzw. unbeab-