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Ausgabe:

1987

Spalte:

435-437

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Robinson, John A. T.

Titel/Untertitel:

Wann entstand das Neue Testament? 1987

Rezensent:

Pokorný, Petr

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435

Theologische Literaturzeitung 112. Jahrgang 1987 Nr. 6

436

MkEv (ÖTK 2/1+2: 1979; vgl. U. Luz, ThLZ 105, 1980, 6490"),
LkEv (ZBK: 1980; vgl. M. Rese, ThLZ 106, 1981, 230) und Apg
(ZBK: 1982; vgl. G. Schille, ThLZ 110, 1985, 603fT) zur Kenntnis
genommen hat. Manchem mag es bewundernswert erscheinen, mit
welcher Konsequenz S. seine jeden kritischen Konsens in Frage
stellenden Hypothesen ständig wiederholt; der eine oder andere mag
sich wundern, daß er sie mit dem vorliegenden Buch noch einmal in
aller Breite zu veröffentlichen vermocht hat. Nun lohnt es kaum,
längst vollzogene Kritik schlicht zu wiederholen. Deshalb will ich
mich auf wenige Bemerkungen beschränken.

Jetzt tritt noch deutlicher hervor, was auch schon früher in den
Kommentaren sichtbar wurde: S. weiß auf alle mit der Geschichte
und Auslegung der synoptischen Evangelien verbundenen Fragen
eine Antwort; in seinem Hypothesengebäude hat jeder Stein seinen
festen Platz. Da das vorliegende Buch als „Einleitung" betitelt ist, sei
an eine Feststellung von A. Jülicher erinnert: „Gegenüber der Selbst-
gewissheit.. . (von) Gelehrte(n), die . . . die schwersten Probleme
spielend . . . glauben lösen zu können, muss die Unsicherheit unsers
Wissens auf dem Gebiet der NTlichen Wissenschaft immer wieder
betont und zur Anschauung gebracht werden; die Alleswisser sind die
gefährlichsten Feinde ruhigen Fortschritts" (Einleitung in das Neue
Testament, 5.+ 6. Aufl., Tübingen 1906, S. VII).

Durch sein geschlossenes System steht S. auch der Wirkung jener
Anfragen und Einsichten im Wege, die durchaus Aufmerksamkeit
verdienten. Das gilt z. B. für seine berechtigte. Kritik an der Formgeschichte
. Doch so sehr S. der Anwendung der Formgeschichte auf
die synoptischen Evangelien und mehr noch der nur hypothetisch
erschlossenen mündlichen Evangelientradition mißtraut, so vertrauensselig
ist er im Blick auf die genauso hypothetisch postulierten
schriftlichen Vorlagen der synoptischen Evangelien, so als verwandle
der Übergang von mündlichen zu schriftlichen Vorstufen schon
Postulate in sicher nachweisbare Größen. Zwar feiert Literarkritik
vielerorts (JohEv, Apg, Paulusbriefe) fröhliche Urständ, doch bleiben
die hypothetischen Quellenscheidungenvim Neuen Testament ein
„Suchen ins Blaue" (Overbeck).

Ein ähnliches Zutrauen hat S. auch zur Existenz von mündlich
überlieferten frühen Glaubensformeln und Bekenntnissen, übrigens in
Übereinstimmung mit einem Großteil heutiger Forschung. Angesichts
der Rolle, die Lessings These vom Vorrang der Glaubensregel
gegenüber der Schrift für S. in diesem Zusammenhang spielt, sei
angemerkt: Für Lessing hatte diese These vor allem eine polemischapologetische
Funktion innerhalb des Fragmentenstreits und historisch
lag ihm wenig an ihr; das zeigen seine Briefe an seinen Bruder
Karl(vom23. 7. 1778) und an Elise Reimarus(vom 9. 8. 177-8)....

Abschließend sei festgehalten: Das vorliegende Buch ist mit Sicherheit
kein „Lehrbuch" und hat eine begrenzte Bedeutung als „Nachschlagewerk
" Tür die Geschichte der Erforschung der synoptischen
Evangelien; was es zu deren Auslegung beiträgt, das kann aufgrund
der bisherigen Rezeption der Kommentare S.s zu MkEv und LkEv
nur als sehr strittig bezeichnet werden.

Münster Martin Rese

Robinson, John A. T.: Wann entstand das Neue Testament? Aus dem

Engl, von J. Madey. Paderborn: Verlag der Bonifatius Druckerei;
Wuppertal: Brockhaus 1986. 383 S.gr. 8". Kart. DM 32,-.

John A. T. Robinson, der im Jahre 1983 verstorbene anglikanische
Bischof, ist durch sein Buch „Ehrlich gegenüber Gott" (Honest to
God) bekannt geworden, in dem er versucht hat, die Grundaussagen
des christlichen Glaubens im Sinne der Tillichschen Theologie populär
zu interpretieren. Weniger Widerhall hat im europäischen Kontinent
seine Christologie (The Human Face of God) gefunden und nur
den Fachleuten sind seine neutestamentlichen Beiträge bekannt, z. B.
diejenigen, die in dem Sammelband "Twelve New Testament Stu-
dies" (1962) enthalten sind. R. hat immer Mut gehabt, das allgemein

Angenommene in Frage zu stellen. Diese Einstellung, die manchmal
sensationelle Auswirkungen gehabt hat, ist der gemeinsame Nenner
seiner unkonventionellen und andermal recht traditionellen (z. B. die
Diskussion um das Turiner Grablinnen) Behauptungen. Trotzdem
muß man zugeben, daß ihm dabei immer der Fortschritt der Forschung
am Herzen lag und daß ihm auch die wissenschaftliche
Quellenarbeit eigen war. Auch das vorliegende Buch, das Englisch im
Jahre 1976 erschienen ist, hat unter den englischschreibenden Exege-
ten provokativ gewirkt, Obzwar es in fünf Jahren vier Auflagen
erreicht hat, ist es durch die kontinentale Forschung im Grunde ignoriert
worden und auch die deutsche Übersetzung ist erst zehn Jahre
später erschienen. Am Anfang und am Schluß behauptet der Vf., daß
sein Buch nicht den Anspruch auf eine endgültige Lösung der Datierungsfrage
erhebt, sondern als Anfrage zu verstehen ist. So werden wir
es auch wirklich verstehen müssen.

R.s Hauptthese ist, daß alle Schriften des Neuen Testaments vor
dem Jahre 70 entstanden sind. Nachdem er die meistverbreitete
Datierung der neutestamentlichen Schriften rekapituliert hat, wonach
sie außer der paulinischen Homologumena in der erhaltenen Gestalt
nach dem Jahre 70 entstanden sind (Kap. I), formuliert R. in Kap. II
seine Grundthese über den Fall Jerusalems, der trotz seiner grundlegenden
Bedeutung für Juden und Christen in keinem der Evangelien
ausdrücklich erwähnt ist. Stellen wie Mk 13,1-4. 14-16 oder
Mt 22,6f können nach R. nicht für deutliche Anspielungen gehalten
werden. Seine Grundthese versucht dann R. in allen neutestamentlichen
Schriften nachzuweisen. In Kap. III behauptet er, daß nicht nur
der Epheserbrief, sondern auch die Pastoralbriefe direkt von Paulus
(oder höchstens von einem seiner direkten Mitarbeiter aus der Zeit
seines Lebens) stammen (lTim nach dem 1 Kor, Tit nach Rom und
vor Phil, 2Tim nach Eph aus Cäsarea). Als Argument benutzt er die
parallelen Aussagen über Timotheus und Titus in den paulinischen
Homologumena und in den Pastoralbriefen (z.B. IKorlö.lOf u.
1 Tim 4,12-15) und die Angaben der Apostelgeschichte.

Verhältnismäßig kurz ist das Kapitel über die Apostelgeschichte
und die synoptischen Evangelien (IV). Da sie keinen Hinweis auf die
neronische Verfolgung enthalten, datiert sie R. alle vor das Jahr 62.
Schon in den dreißiger Jahren hat man begonnen, das Material der
späteren Evangelien zu sammeln, wobei das Matthäusevangelium die
ältesten Stoffe enthält. Seine erhaltene Gestalt ist jedoch jünger als die
des Markus- und des Lukasevangeliums. Für die Herkunft des Markusevangeliums
aus den Lebzeiten des Apostel Petrus wird u. a. mit
dem Brief von Klemens von Alexandrien argumentiert, den im Jahre
1973 M.Smith publizierte und in dem der geheime Zusatz zum
Markusevangelium zitiert ist.

Die größte Überraschung ist die Datierung des Jakobusbriefes in das
Ende der vierziger Jahre, so daß er zur ältesten neutestamentlichen
Schrift wird (Kap. V). Dafür spricht nach R., daß er kein Anzeichen
der Heidenmission aufweist. Jak 2,14-26 ist nicht als antipaulinische
Polemik, sondern als ein Teil der u. a. in Mt 7,16-27 belegten alten
Tradition zu verstehen.

Ein umfangreiches Kapitel (VI) ist den Petrusbriefen und dem
Judasbrief gewidmet, von denen der Judas- und der 2. Petrusbrief in
die Jahre 61 -62 zu datieren sind, der erste Petrusbrief in das Frühjahr
65. - Der Hebräerbrief wird in die Zeit aus dem Anfang des Jüdischen
Krieges datiert, sein Verfasser kann Barnabas sein (Kap. VII). - Die
Johannesoffenbarung, die die Ereignisse reflektiert, die in Rom und in
Jerusalem gegen Ende der Regierung Neros und kurz nach seinem
Tode geschehen sind, ist unter ihrem unmittelbaren Eindruck noch
vor dem Fall Jerusalems als das letzte Buch des Neuen Testaments
entstanden (Kap. VIII).

Das neunte Kapitel ist dem Johannesevangelium und den johan-
neischen Briefen gewidmet, die wahrscheinlich auch von dem Verfasser
der Johannesoffenbarung stammen. Da das Johannesevangelium
verläßliche und unabhängige historische Tradition und topographische
Angaben (wie es C. H. Dodd behauptet hat) und keine
Anspielung auf den Fall Jerusalems enthält, war es wahrscheinlich der