Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1987

Spalte:

345-346

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Rebell, Walter

Titel/Untertitel:

Gehorsam und Unabhängigkeit 1987

Rezensent:

Theißen, Gerd

Ansicht Scan:

Seite 1

Download Scan:

PDF

I

345 Theologische Literaturzeitung 112. Jahrgang 1987 Nr. 5 346

Die Formulierung der Titelfrage möchte als Signal verstanden wer- Beziehungen zwischen (o) und (p) werden beide dazu neigen, (x) über-

den: nicht „wer" sondern „was" war die Ursache von Jesu Kreuzi- einstimmend zu bewerten, sei es nun positiv oder negativ usw. Ein

gung? Der sie so stellt, ist ein jüdischer Gelehrter, Professor für konkretes Beispiel: Paulus hatte zu den Jerusalemern ein positives

judische Geschichte am (konservativen) Hebrew Union College in Verhältnis, in seiner Haltung zum Gesetz widerspricht er ihnen je-

t incinnati. Er reiht sich ein in die stattliche Zahl jüdischer Forscher, doch. Dadurch kam eine Ambivalenz in seine Beziehung zu den Jeru-

die die Geschichte Jesu auf dem Hintergrund der zeitgenössischen salemern. Die mangelnde Balance erklärt, warum Paulus seine The-

f arteien zu sehen und die Verurteilung Jesu vom jüdischen Prozeß- sen zum Gesetz im Rom zwar für die Jerusalemer formuliert, sie aber

recht her zu beleuchten versuchen. Unmittelbarer Anreger des Vf. ist dann doch an die römische Gemeinde schickt. Ein schwacher Punkt

Salomon Zeitlin (gest. 1982), dessen Andenken das Werk gewidmet dieser ansprechenden Deutung ist: Die Anwendung der Balance-

>st. Die zwei Jahre nach der amerikanischen nun auch in einer bri- theorie verlangt eine eindeutige Beurteilung von Beziehungen als

»sehen Ausgabe vorliegende Studie ist eine um mehr als die Hälfte positiv oder negativ. Die Haltung des Paulus zum Gesetz ist aber nicht

reduzierte Fassung einer größeren noch unveröffentlichten Arbeit. eindeutig. Sie ist in sich selbst ein „Balanceproblem". Wüßten wir

Das in dem grundlegenden Kapitel gezeichnete Jesusbild weicht doch zu gerne, wie sich Paulus das Verhältnis seiner positiven und

deutlich von einem Schema ab, demzufolge sich auch konservative negativen Aussagen zum Gesetz genau vorgestellt hat. Es spricht für

Judische Forscher in ihrer Darstellung Jesu ausschließlich dem libera- Rebell, daß er dieses Problem gesehen hat.

'en Kritizismus anschlössen. R. möchte Jesus nicht als "charismatic" 2. Die Theorie der „Doppelbindung" erklärt Beziehungskrisen u. a.
^greifen wie Johannes den Täufer, sondern als "charismatic of cha- dadurch, daß Menschen sich widersprechenden Erwartungen von sei-
nsmatics" mit einem an der Menschensohnvorstellung orientierten ten ihrer Bezugspartner ausgesetzt sind. Rebell erklärt die Krise zwi-
Messiasanspruch und versucht sogar dem Osterglauben auf seine sehen Paulus und den Korinthern durch eine von Paulus verursachte
Weise gerecht zu werden. Dabei geht er so vor, daß er zunächst ein fast Doppelbindung. Er sendet der Gemeinde die in sich widersprüchliche
ausschließlich aus Josephus gewonnenes zeitgeschichtliches Raster Botschaft: „Seid selbständig!" und „Seid gehorsam!". Das Ergebnis ist
entwirft, in das er dann die Aussagen der Evangelien, die er fern jeder tiefe Irritation auf Seiten der Gemeinde. Nicht ihre Unreife sei schuld
redaktionskritischen Differenzierung auswertet, einzeichnet. Im Posi- an der Krise, sondern das kommunikative Verhalten des Paulus. Die
tl°nsspektrum der damaligen Judenschaft erscheint Jesus als eine exegetische Begründung dieser bestechenden These, der m. E. eine
Zwar jenseits des Pharisäismus stehende, aber diesem noch am ehesten große Plausibilität zukommt, könnte noch ausgebaut werden - etwa
v°n allen zeitgenössischen Richtungen benachbarte Gestalt. durch den Nachweis, daß Paulus in 1 Kor 1 -4 einerseits Unabhängig-
Problematischer noch ist die zweite These, die dem Prozeß Jesu gilt, keit von allen Personalcharismatikern einschließlich seiner Person
S'e glaubt für die Zeit der Prokuratur unterscheiden zu können zwi- fordert, andererseits für sich selbst eine einzigartige durch die Väterchen
einem religiösen Gericht, dem bei diu (bzw. boule) und dem metaphorik zum Ausdruck gebrachte Beziehung zu den Korinthern
Politischen Sanhednn. Jener sei eine vom Pharisäismus beherrschte, beansprucht, während er konkurrierende Personalcharismatiker als
an der Vorstellung von der doppelten Tora ausgerichtete Institution, deren „Zuchtmeister" deklassiert (vgl. 1 Kor 4,2).
dieser ein von den Römern autorisiertes, vom Hohenpriester einberu- Die Argumentationsstruktur des Buches wird im Einleitungsteil als
fenes, von den Sadduzäern ganz im Sinne politischer Opportunität „deduktiv-nomologisch" charakterisiert (S. 23): Allgemeine Geset-
gelenktes Gremium gewesen. Nicht die Scribes-Pharisees (Vf. bevor- zeshypothesen werden auf das historische Material angewandt. Dieser
Zugt diese Kombination) haben Jesus verurteilt, vielmehr war es das Denkstil ist dem Historiker zunächst fremd. Für ihn sind allgemeine
r°rnische imperiale System, das Jesus ans Kreuz brachte. Der mit theoretische Annahmen Hilfsmittel zur Erfassung der singulären
Rückschlüssen auf schmaler Quellenbasis (weitgehender Verzicht auf historischen Realität. Er verfährt weniger „nomothetisch" als „ideo-
Judische Traditionsliteratur!) arbeitende Versuch dient einem alten graphisch". Deshalb sei betont: W. Rebell verfährt de facto sehr viel
und respektablen apologetischen Anliegen: die Verantwortung des „historischer", als es seinen programmatischen Aussagen entspricht,
religiösen Judentums einschließlich des Pharisäismus für die Verur- Er bietet z. B. oft mehrere theoretische Deutungsversuche für ein und
'eilung Jesu zu minimieren. Auch wenn man die Wende vom "Who" dasselbe Phänomen an und macht deutlich, daß auch für ihn all-
(der persönlich Verantwortlichen) zum "What" (einer überpersön- gemeine Theorien dem Phänomen „untergeordnet" werden. Abgesehenen
Macht) für berechtigt hält, kann man ihre Durchführung in der hen davon, daß der von empirischen psychologischen Untersuchun-
v°rliegenden Form noch nicht als gelungen ansehen. gen geprägte Denkstil denjenigen positiv ansprechen wird, der den

■ . , , ,r ... gravitätischen Stil hermeneutischen Tiefsinns nicht als erstrebens-
Leipzig/Halle (Saale) Wolfgang Wiefel

wertes Ideal betrachtet.
Das Buch ist anregend geschrieben. Argumente und Belege werden

Rebell, Walter: Gehorsam und Unabhängigkeit. Eine sozialpsycholo- ofTen &le* Psychologische Fachkenntnisse werden didaktisch sehr

gische Studie zu Paulus. München: Kaiser 1986. 180 S. 8'. Kart. geschickt für Laien dargestellt. Ein Glossar erläutert die verwandten

DM 36 - neuen Fachtermini und Theorien. Jeder Leser, der, etwa als Pfarrer

oder Lehrer, mit Gruppen umgeht, sie zu beeinflussen versucht und
Unter den neueren Ansätzen einer psychologisch orientierten Ex- von ihnen beeinflußt wird, wird viele seiner alltäglichen Probleme bei
egese ist das Paulusbuch des Diplompsychologen und Privatdozenten Paulus wiedererkennen. Paulus wird dadurch „menschlicher". Aber
für Neues Testament W. Rebell ein erfreulich nüchterner Beitrag. auch die psychologische Exegese ist in diesem lesenswerten Buch
Durch die im Untertitel angekündigte Beschränkung auf sozial- „menschlicher" geworden: Sie verzichtet ebenso auf Enthüllungs-wie
Psychologische Aspekte ist dem Leser von vornherein klar, daß er auf Offenbarungspathos. Sie dient wie jede historisch-kritische Ex-
keine „Totaldeutung" von Leben und Werk des Paulus erwarten darf. egese dazu, Texte aus ihrem Lebenszusammenhang heraus verständ-
Vielmehr geht es um drei Bezichungsfelder des Paulus - um seine Be- lieh zu machen. Gerade deshalb kann das Buch dazu beitragen, Mögziehung
zu den Jerusalemer Autoritäten, zu seinen Mitarbeitern und lichkeiten und Grenzen psychologischer Exegese zu klären,
seinen Gemeinden -. die jeweils mit Hilfe theoretischer Konzepte der
Sozialpsychologie erhellt werden. Aus einem bunten Mosaik vieler
Einzelthesen und Beobachtungen seien zwei Beispiele herausgegriffen
:

1. Die „Theorie der kognitiven Balance" besagt, daß in Dreiecks- Lyons George: paulille Autobiography. Toward a New Understan-

oeziehungen zwischen zwei Personen (o) und (p) und einer dritten Per- ding Atlanta, GA: Scholars Press 1985. XU, 273 S. 8* = SBL. Dis-

son oder Sache (x) eine Tendenz zur Balance besteht: Bei positiven sertation Series, 73. Kart. $ 15.50; Lw. $ 23.50.

Heidelberg GerdThcißcn