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Ausgabe:

1987

Spalte:

9-18

Autor/Hrsg.:

Baudler, Georg

Titel/Untertitel:

Jesus und Paulus für Christen heute 1987

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Theologische Literaturzeitung 112. Jahrgang 1987 Nr. 1

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lares Ethos, das den Raum der Eigenverantwortung und der sozialen
Verbindlichkeiten selber gestalten muß. Welche fatalen Konsequenzen
eine solche Verschmelzung von Glück und Heil hat, wird etwa
daran sichtbar, daß nun auch jedes Unglück als Unheil bezeichnet
werden muß, das den Betroffenen von der Gottesgemeinschaft trennen
würde. Nur bei einer Unterscheidung (nicht Trennung!) von
Glück und Heil ist die von Korff getroffene Aussage durchzuhalten,
daß die im Ethos Jesu „zutage tretende Diastase von unbedingtem
personalem Anspruch und sozialethischer Einlösbarkeit nicht überspielt
wird"/2 Sozialethische Forderungen dienen dem Glück von
Menschen und verschaffen nicht zugleich das Heil, wie andererseits
beides nicht isoliert voneinander bleiben darf, wenn es um den Menschen
als ganzen geht.

So erweist sich die Frage nach dem geglückten Leben als eine
Schlüssel frage für eine Reihe ethischer Probleme, wenn sie auf theologischem
Wege gelöst werden sollen. Das schließt ein, die populäre
Frage nach dem Glück nicht als ,,vorwissenschaftlich" abzutun, statt
den in ihr sich meldenden Erwartungen und Bedürfnissen nachzugehen
und die Tradition auf ihre Beiträge zum tieferen Verständnis
des Glücks zu befragen. In diesem Sinne provozieren die hier besprochenen
philosophiegeschichtlichen, moraltheologischen und
sozialcthischen Überlegungen dazu, der Suche nach einem geglückten
Leben auch theoretisch mehr Aufmerksamkeit zu schenken, als das
weithin bisher der Fall gewesen ist.

' Korff. Wilhelm: Wie kann der Mensch glücken? Perspektiven der Ethik.
München-Zürich: Piper 1985. 388 S. 8" = Serie Piper. 394.

; Engelhardt. Paulus [Hg.]: Glück und geglücktes Lehen. Philosophische und

theologische Untersuchungen zur Bestimmung des Lebensziels. Mainz: Grünewald
1985.260 S.gr. 8- = Walberberger Studien. Philos. Reihe. 7. Lw. DM 42.-.

' Demmer. Klaus: Deuten und handeln. Grundlagen und Grundfragen der
I undamentalmoral. Freiburg/Schweiz: Universitä'tsvcrlag; Freiburg-Wien:
Herder 1985. 240 S. 8* = Studien zur theologischen Ethik, 15. Kart DM 48.-.

' Korff. S. 9-32. ' Ebd..S. 9. "Ebd .S. 29.

' Ebd..S. 32. " Ebd .S. 15. * Ebd .S. 21.

"' gegen Korff. S. 360. Anm. 3.

" Vgl. dazu den Abschnitt ..Identitätstheorie*' in HCE Bd. LS. 177-197. wo es
ebenfalls um die Vermittlung von Individualität und Sozialität geht.
'-' KorfT.S. I08f. "Ebd.,S.115. " Ebd.. S. 112.

" Ebd.,S. 140. " Ebd .S. 170. " Ebd.,S. 221.

'" Ebd., S. 260-271; vgl. KorfTs Beitrag in HCE LS. 147-164.
" Korff. S. 266. !0 Engelhardts. 12.

Ebd..S. 136f. " Ebd..S. 142. !' Ebd.S. 152.

" Ebd..S. 160. " Ebd .S. I62f " Ebd.S. 179.

" Ebd..S. 183.

!* Neudeck. Rupert: Glück. Natur und Solidarität bei Albert Camus, ebd..
S. 244-260.

* Ebd..S. 183. " Ebd..S. 191. " Ebd., S. 200.
" Demmcr.S. 43. " Ebd., S. 45. " Ebd.. S. 48.

Demmer, Klaus: Die Lebensentscheidung. München 1974; vgl. die Rezension
in ThLZ 101. 1976. 305 II

* Demmer. Deuten und handeln. S. 174.
" Ebd., S. 47. " Ebd.. S. 97.

Engelhardt. S. 161 fim Anschluß an Thomas und Kant.
" Korff, S.981T.
41 Engelhardts. 193.

Korff. S . .31; zugleich wird darauf hingewiesen, daß die Ethik Jesu das
sozialethische Anspruchsfeld verändert hat. die Diastase also nicht endgültig
ist.

Jesus und Paulus für Christen heute *

Von Georg Baudlcr, Aachen

I. Zur Charakterisierung der beiden Bände

Als erstes Buch dieser Reihe hat Eugen Biscr 1983 den Band
„Nietzsche für Christen" (Herderbücherei Bd. 1056) herausgebracht.
Im Untertitel steht „Eine Herausforderung". In diesem ersten Band ist
die Absicht des Autors unmittelbar einleuchtend: Nietzsche gilt als
großer neuzeitlicher Atheist und Bckämpfer des Christentums. Daß
dieser Denker trotzdem und gerade so eine Herausforderung für den
Christen heute darstellt, leuchtet unmittelbar ein. Biser stellt in diesem
Band Nietzsche dem Christen vor, gibt ihm die wichtigsten Texte
seiner Christentumskritik an die Hand und weist ihn behutsam in die
Auseinandersetzung ein.

Dieses Unternehmen ist verständlich. Doch was sollen in derselben
Reihe Jesus und Paulus „für Christen"? Diese beiden Denker und
Autoren sind doch dem Christen schon von frühester Jugend an gegeben
. Auf ihrem Zeugnis und ihrer Gedankenwelt baut sich sein christlicher
Glaube auf. Wie können sie da für ihn noch, ähnlich wie
Nietzsche, „eine Herausforderung" darstellen (auch diese beiden
Bände tragen diesen Untertitel)? In dieser Frage stoßen wir auf die
gleichermaßen fundamentaltheologisch wie glaubens- und religionspädagogisch
bedeutsame Ausgangsposition des Autors der beiden
Bände: Er hat den, wie er selbst sagt, „befremdlichen Titel" „Jesus für

* Anregungen. Fragen und Impulse an die Glaubensvermittlung durch zwei
neue Bücher Eugen Bisers:

Biscr. Eugen: Jesus fUr Christen. Eine Herausforderung. Textauswahl u. Einleitung
von E. Biser. Freiburg-Basel-Wien: Herder 1984. 192 S. kl. 8" = Her-
derbücherei. 1157 Kart DM 8.90. (im folgenden abgekürzt: J)

-: Paulus für Christen. Line Herausforderung. Einleitung u. Textauswahl
von E. Biser. Freiburg-Basel-Wien: Herder 1985. 192 S. kl. 8" = Herdcrbüchc-
rci, 1219. Kart. DM 9.90. (im folgenden abgekürzt: P)

Christen" im Anschluß an das vor längerer Zeit erschienene Buch
„Jesus Für Atheisten" gebildet (J 12). Er geht also von der Überzeugung
aus. daß Jesus (und Paulus) nicht nur für Atheisten (so, wie
der Atheist Nietzsche für den Christen) eine Herausforderung darstellt
, sondern auch für den Christen selbst. Die Bände wenden sich so
von ihrem Ansatz her gegen ein Glaubensbewußtsein, wonach sich
der Christ durch seine einmalige Übernahme des Glaubens und durch
seine Taufe Jesus und dessen urgemeindliche Bezeugung im Neuen
Testament ein für allemal als eine Art „Heilsbesitz" angeeignet hat
und nun für Zeit und Ewigkeit von diesem seinem Schatz zehren
kann. Jesus läßt sich weder in die vergoldeten Tabernakel des christlichen
Kults noch in das gigantische Lehrgebäude einer jahrhundertealten
Theologie einsperren (vgl. J 36). Er findet auch heute noch, wie
Biscr im Anschluß an die Ostererzählungen sagt, den Weg durch verschlossene
Türen (J 20), gleichgültig, ob man ihn ein- oder auszusperren
versucht. Dieser „Sclbstvcrgegenwärtigung" Jesu in unserer
Zeit (J 28) will Bisers Band dienen. Und auch Paulus läßt sich durch
seine Erhebung auf die Ehre der Altäre nicht zähmen und beruhigen.
Noch immer blickt er uns wie auf Albrecht Dürers Apostclbild mit
einem „bohrenden, fast stechenden Blick" (P 5) an und sucht den
lebendigen Dialog mit uns. Der Christ ist niemals so sehr Christ, daß
nicht immer neu Jesus und Paulus eine „Herausforderung" Für ihn
darstellen würden. Immer neu müssen Christentum und Kirche sich
unter die Kritik dieses ihres Ursprungs stellen; immer neu müssen sie
sich fragen, ob das Haus, das sie auf dem Fundament des Jesus-
Glaubens gebaut haben, auch wirklich diesem Fundament entspricht.
Nur von dieser Position aus, die Biscr mit seinen beiden hier vorzustellenden
Bänden unüberhörbar deutlich macht und in das theologische
Gespräch einbringt, kann sich der christliche Glaube in der
heutigen Welt glaubwürdig darstellen und auch Außenstehende in
seinen Dialog mit einbeziehen.