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Ausgabe:

1987

Spalte:

227-229

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Eidam, Robert

Titel/Untertitel:

Verleiblichung 1987

Rezensent:

Scharfenberg, Joachim

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227

Theologische Literaturzeitung 112. Jahrgang 1987 Nr. 3

228

zu erkennen, daß er nicht beansprucht, alle Wünsche nach einer
prägnanten System'atik befriedigend wiedergeben zu wollen. So
könnte man etwa die Darstellung des Erlebens einer animae formae
corporis vermissen. Insgesamt wird aber der Leser für diese übersichtliche
und einleuchtende Zusammenfassung und die anschauliche
Darstellung der religiösen Aspekte des Phänomens „Seele" dankbar
sein.

Rostock Martin Brückner

Eidam, Robert: Verleiblichung. Leben und Werk Wilhelm Reichs als
Herausforderung für Theorie und Praxis der Seelsorge. Frankfurt
/M. - Bern - New York: Lang 1985. XV, 378 S. 8" = Europäische
Hochschulschriften. Reihe XXIII: Theologie, 264. Kart.
sfr49,-.

Diese in Marburg angenommene und von Dietrich Stollberg angeregte
und betreute Dissertation hat sich vorgenommen, das Werk
Wilhelm Reichs als das Bindeglied zwischen verbal geführter und körperorientierter
Psychotherapie, sowie zwischen Psychoanalyse und
humanistischer Psychologie als eine Herausforderung nicht nur für
die „Seelsorge als Gespräch", sondern auch für die wortorientierte
Theologie insgesamt darzustellen. Die Arbeit ist umsichtig angelegt
und im einzelnen sehr sorgfältig gearbeitet. Der erste Teil, der die Entwicklung
von Leben und Werk Wilhelm Reichs nachzuzeichnen versucht
, gliedert sich in fünf Abschnitte, die jeweils mit biographischen
Angaben eingeleitet und mit einer zusammenfassenden Würdigung
abgeschlossen werden. Der zweite Teil, der das Menschenbild
Wilhelm Reichs zur Herausforderung für Praxis und Theologie der
Seelsorge werden lassen will, stellt in Abschnitt VI methodische Überlegungen
an, faßt das Menschenbild Reichs als ein einheitliches
Ganzes zusammen, versucht es kritisch zu würdigen (VII), zieht
schließlich Schlußfolgerungen für die Seelsorge (VIII).

Die Schwierigkeiten eines solchen Unternehmens sind enorm!
Abgesehen von der Unzugänglichkeit der Quellen und den Schwierigkeiten
ihrer unterschiedlichen Sprachgestalt, konnte der Vf. in keiner
Weise von einer auch nur annäherungsweisen Bekanntheit des
Reich'schen Werkes (vor allem unter Theologen!) ausgehen, zumal es
unter Bergen von Vorurteilen (von denen der Verdacht einer
paranoiden Psychose noch der geringste ist!) begraben liegt und die
Sekundärliteratur entweder ausgesprochen eklektisch oder deutlich
ideologisch geprägt und verzerrt ist. Angesichts dieser Sachlage ist der
Mut und die Akribie, mit der der Vf. an seine Aufgabe herangeht, zu
bewundern.

Im einzelnen wird (I) die biographische Entwicklung Reichs von
den Wurzeln („Widerspruchsvolle Beziehung zum Vater. . . Mutter
vergöttert... Ihr Selbstmord, an dem er nicht unschuldig war" S. 2f)
über Medizinstudium und die höchst ambivalente Beziehung zu
Freud bis hin zu dem überraschend frühen Erfolg innerhalb der
psychoanalytischen Vereinigung in Wien samt einigen biologischen
Einflüssen (durch Kammer und Bergson) dargestellt. Ihr entspricht im
Werk die Aufnahme der frühen Triebtheorie Freuds, die als ein
„Stauungsphänomen" präzisiert und am Leitfaden der Angst weiterverfolgt
wird. Die Darstellung dieser ersten Phase endet mit dem
Punkt, an dem der Konflikt mit Freud aufbrach und mit der Formel
bezeichnet wird: Während für Freud Sinnlichkeit und Kultur als
Antagonismen angesehen wurden, sucht Reich nach einer „Kultur
der Sinnlichkeit" (27). Während Freud zur Fundierung der psychologischen
Theorie auf den Mythos zurückgriff, übernahm Reich den
Versuch, „psychologische Kategorien naturwissenschaftlich zu untermauern
" (29). In dieser Verschiebung des Verständnisses der Psychologie
von einer Pathologie „hin zu einer Beschreibung des gesunden
Menschen" sieht Eidam bereits ein Anliegen der humanistischen
Psychologie vorgebildet (33).

(II) Die Jahre 1927-1933, die von erfolgreicher therapeutischer
Arbeit und einem fast fieberhaften schriftstellerischen und politischen

Engagement geprägt sind, bringen die Entwicklung der charakteranalytischen
Technik und der dazugehörigen Theorie der Charakterbildung
, die mit ihrer biopsychischen Einheit der Person gegenüber
der psychoanalytischen Betonung des innerpsychischen Konfliktes
den Konflikt zwischen Ich und Außenwelt betont. Die griffige Formel,
auf die Eidam den Gegensatz bringt, lautet jetzt, daß sich für Reich
eine Umkehrung der Freudschen Sentenz „Wo Es war, soll Ich werden
" nahelege: „Wo Ich war, soll Es werden" (71). Der Konflikt mit
der Psychoanalyse bahnt sich wegen deren Vermeidung einer Auseinandersetzung
mit den „neurotischen gesellschaftlichen Zuständen"
(72) an und auf Grund der neuen therapeutischen Technik, die Reich
entwickelt, und die ihm wegen der „funktionalen Einheit des Historischen
und des Aktuellen" (75) das Deuten des Unbewußten als überflüssig
und falsch erscheinen läßt und eine Konzentration auf das
„Hier und Jetzt" erlaubt.

(III) In die Zeit der Vertreibung Reichs aus Deutschland durch den
Hitler-Faschismus fallt zugleich der (unter skandalösen Umständen
vollzogene) Ausschluß aus der Internationalen Psychoanalytischen
Vereinigung wie der (aus ganz anderen Gründen) erfolgte Ausschluß
aus der Kommunistischen Partei. Sie eröffnet aber von 1933-1939 in
Skandinavien eine relativ ungestörte Phase von therapeutischer,
labormäßig forschender und beginnender Lehrtätigkeit. Sie konzentriert
sich auf die Aufgabe, den „Urgegensatz des Lebens" in seiner
Einheit naturwissenschaftlich und experimentell zu belegen. Er läßt
sich mit dem Formelpaar „Hin zur Welt" und „Weg von der Welt" in
ihrem Strebungscharakter plastisch beschreiben (99) und führt in der
Vegetotherapie im psychischen und körperlichen Erleben zur Aufhebung
des Gegensatzes. An dieser Stelle sieht sich Eidam genötigt,
auf die Probleme der Reich-Rezeption einzugehen und konstatiert,
daß Reich schon in dieser Zeit „eine einsame Stellung innerhalb des
europäischen Denkens" (123) eingenommen habe, deren historisches
Verdienst jedoch in einer „Entdeckung der Verankerung des psychischen
Geschehens in körperlichen Vorgängen bleibt" (125).

(IV) In den Jahren 1939-1950 entwickelt Reich in einer äußerst
euphorisch beginnenden Lebensphase in den USA seine umstrittene
Orgon-Theorie. Eidam setzt diese „Entdeckung" in Anführungszeichen
, weil er offenlassen muß, ob Reich tatsächlich etwas bis dahin
Unbekanntes „in einem streng wissenschaftlichen Nachweis verfügbar
gemacht" (134) habe. Er verfolgt statt dessen das „implizite
Menschenbild" (156), mit dem Reich die cartesianische Subjekt-
Objektspaltung und damit die Dualität von Mechanismus und
Mystizismus aufgehoben habe (157).

(V) Dem Buch „Christenmord" räumt Eidam insofern eine Sonderstellung
ein, als es 1951 in einer Phase wachsender Enttäuschungen
(z. B. durch die erfolglose Begegnung mit Einstein) und Vereinsamung
aus der Ohnmacht und dem Haß gegenüber der anonymen und erbarmungslosen
Maschinerie der Behörden entstanden ist (166). Es muß
in erster Linie als ein Selbstbekenntnis gelesen werden, als der
bewußte Versuch zur Identifikation Reichs mit dem Schicksal Jesu
(167). Wieso ein solches „angemessenes Verständnis" dann aber zu
dem Versuch führen kann, aus diesem Buch so etwas wie eine
„Theologie" zu ermitteln, das läßt sich nicht so leicht nachvollziehen.
Da hilft auch der Begriff des Symbols nicht weiter, denn meines
Erachtens wird hier lediglich der durch und durch subjektive Aufschrei
eines gequälten und vereinsamten Menschen mit Hilfe einer
phantasierten Christusgestalt symbolisiert, die mit ihren historischen
Quellen nicht mehr das geringste zu tun hat. Das ist zwar erschütternd
und bewegend zu lesen, es berührt ohne Zweifel und ist wohl auch
Ausdruck einer gewissen, sehr privaten und subjektiven Religiosität,
aber ich kann dem Vf. darin nicht folgen, das schon „Theologie" zu
nennen, schon gar nicht „Kreuzestheologie" (204) oder gar „Rechtfertigungstheologie
" (205). Es reicht meines Erachtens nicht, schon
Theologie zu nennen, daß Reich sich vom Schicksal Jesu angesprochen
fühlt und aus dieser Betroffenheit heraus versucht, „von
seinem Horizont her eine Beschreibung der Person Jesu zu leisten"
(194). Hier passiert eine verhängnissvolle Verwechslung der Begriffe