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Ausgabe:

1987

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

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Neuerscheinungen

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Theologische Literaturzeitung 112. Jahrgang 1987 Nr. 3

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sich etwa im Zusammenhang mit der Kirchenmusikästhetik des Harn- Elemente in aufklärerischer Frömmigkeit nicht hinreichend zur Gelburger
Kreises die von Axmacher betonten pietistischen Züge bei tung kommen läßt; überhaupt wären die Leitbegriffe Orthodoxie -
Brockes durchaus auch als Teilmoment einer neuen und andersgear- Pietismus-Aufklärung differenzierter anzuwenden,
teten religiösen Gesamtergriffenheit verstehen. Die Bachforschung steht vor dem Problem, ob es einerseits viel-

ln das Libretto für Bachs „Johannespassion" wurden (von einem leicht Konkordanzen der Musik Bachs zur pietistischen Gefühlswelt

unbekannten Verfasser) Teile von Brockes Passionstext übernom- geben könne, wenn andererseits Bachs orthodox-kultische Orientie-

men. Axmacher bespricht im 6. Kapitel die dabei erfolgten signifikan- rung schwer zu bestreiten sei und viele Pietisten doch der kirchlichen

ten Textänderungen. Diese stellten die Bachsche „Johännespassion" Kunstmusik einschränkend bzw. ablehnend gegenüberstanden. Das

irn Unterschied zu Brockes stärker einer kirchlich-orthodoxen Fröm- Dilemma löst sich, wenn man Differenzierungen im Pietismusbegnff

migkeit nahe, freilich sei angesichts der Abkehr vom strengen Satis- vornimmt. Nicht so sehr der kunstmusikabstinente zentrale Pietis-

faktionsgedanken an eine „gemäßigte, gemilderte Orthodoxie" (161) mus, sondern die ästhetisch fruchtbare .lutherische Mystik' - anders

zudenken. auch: die Frömmigkeitsbewegung des 17. und 18. Jh.-dürfte es gewe-

Den Höhepunkt des Buches bringt das 7. Kapitel mit der Unter- sen sein, die bei Bach mit zum Klingen kam. Gerade der Lutheraner
suchung zum Text von Bachs „Matthäuspassion". Elke Axmacher Müller ist es gewesen, der - von Axmacher nicht berücksichtigt - ein
hatte bereits in einer Vorabpublikation (Bach-Jahrbuch 64, 1978, .musikästhetisches' Konzept vertreten hat, das sich aus Traditionen
181 — 191) inre Entdeckung mitgeteilt, daß Teile dieses Librettos auf der Mystik speiste und in radikaler Weise Musikäußerungen mit „Ge-
die Passionspredigten Müllers zurückgehen. Vielleicht hat Bach die- mütsbewegungen" verklammert hat. Musiktheologisch ist also im
Vorgang selbst mitinszeniert. Diese Predigten Müllers gehörten zu Rahmen orthodoxen Luthertums eine Verbindung von Lehr- und
Bachs theologischer Bibliothek, in der überhaupt Müller zu den Ordnungshaftigkeit mit psychologisch vermittelter hoher Emotionali-
bevorzugten Autoren zählte. Axmacher meint nun zeigen zu können, tät denkbar. Man kann also Elke Axmachers Vermutung einer beson-
daß die Akzentveränderungen des Librettisten Picander gegenüber deren Nähe Bachs zu Müller voll unterstützen, muß sie freilich über
Müller sowie weitere Indizien dafür sprächen, daß Picander, fast die Beschränkung auf theologische Einzelaussagen hinausführen und
unmerklich, den Übergang zeige zu einer „pietistisch erscheinenden, den Musikfunktionen im Zusammenhang mit Frömmigkeit nach-
undogmatischen Religiosität, wie sie für die Aufklärung im kirch- fragen.

hchen Bereich kennzeichnend ist" (184). Insgesamt sei der theologi- Auch einen bei Axmacher unberücksichtigten theologisch-inhalt-

sche Wandel des Passionsverständnisses im frühen 18. Jh. durch die liehen Zusammenhang gilt es zu bedenken; und er dürfte, auch

Reduktion einer theozentrischen Versöhnungslehre zu einer christo- für die theologische Gesamtinterpretation der „Matthäuspassion" wie

'ogisch-anthropologischen Liebesbeziehung sowie durch ein stark für ihre Stellung in der ästhetischen Situation des 18. Jh. wichtig sein.

Psychologisch vermitteltes Sünden- und Erlösungsbewußtsein zu Heinrich Müller hat nicht nur eine „innige Herzensfrömmigkeit"

charakterisieren. Die Entwicklung im späten 18. Jh. zöge nur die (217) vertreten, sondern zusammen mit seinem passionstheologisch-

Konsequenz, wenn sie dann das Verständnis des Gottnienschen Jesus satisfaktorischen Konzept eine Erfahrung und Schau, die die gesamte
in das eines göttlichen Menschen umgeprägt habe. . Schöpfungs- und Heilsgeschichte einem mystisch geprägten Liebesbe-

Theologiegeschichtlich wird von Axmacher dieser Wandel der Ab- griff einzuordnen wußte. Insofern ist das Beieinander von „dialektisch-

fo'ge Orthodoxie - Pietismus - Aufklärung zugeordnet. Dabei diene religiöser" (satisfaktorisch orientierter) und „unmittelbar religiöser"

der zentrale Pietismus (seit Spener) als Vermittlungsinstanz. Er habe (stärker anthropologisch orientierter) Passionsauffassung (207) nicht

d'e im 16. und 17. Jh. zwar vorhandenen, aber doch dogmatisch erst eine Erscheinung des frühen 18. Jh., sondern findet sich bereits im

gebunden bleibenden, aus mystischen Traditionen stammenden Ele- 17. Jh., u. a. bei Müller. So gesehen lassen sich dann Libretti und Musik

mente der Jesusliebe und des Erfahrungsprinzips immer mehr frei- der Passionen Bachs nicht so sehr als „voller Widersprüche" (218)

gesetzt, ihre Verabsolutierung befördert und somit ihre Säkulari- befindlich begreifen, sondern als eine schöpferische Synthese theolo-

sierung in der Aufklärung ermöglicht. Das Libretto der Bachschen gisch-frömmigkeitsmäßiger Haltungen - ein Grund wohl für die fort-

-Matthäuspassion" sei ein Text voller Widersprüche, weil in ihm das gehend vermehrten Erfahrungen mit den künstlerischen, geistlichen

Neue sich hervordränge, sich aber in seinem Widerspruch gegen das und menschlichen Kräften dieser Bachschen Musik.

A'te noch nicht erkenne. Berlin Christian Bunners

So ergibt sich nach Axmacher auch für Bach eine zwiespältige Sicht.

E,nerseits scheint erganz auf Müllers Frömmigkeitsposition zu stehen Bjbe, und Ikonographie (Themenheft BiKi 40, 1985, Heft 4): „Bibel und Iko-

'•■Orthodoxie" mit „inniger Herzensfrömmigkeit" und „milder Lei- nographie". Kleine Geschichte des Themas mit ein paar Bemerkungen zur

densethik". 217). Andererseits, da es unwahrscheinlich ist, Bach habe Methode (O. Keel) (143-147) - In Israel gab es Bilder. Literarische und

d'e Verschiebungen in den von ihm komponierten Texten nicht archäologische Zeugnisse von Kunst in Israel/Palästina (S. Schroer)(I48-156)

bemerkt, erscheint Bach nicht mehr als strenger Lutheraner, sondern - Das sogenannte altorientalische Weltbild (O. Keel)(S. 157-161)-Das älteste

beteiligt an der ..pietistisch-aufklärerischen Auflösung" (218). Die Bild des Pharao. Vom ^^^^K^U^^J^

Il_. ., . ... . , j ■ i. (S 162-164) - Das mage der Großmächte. Altvorderasiatische Herrscnafts-

Untersuchung läßt diesen Widerspruch ungelöst stehen und spiegelt > und AltesgTestament. Assyrer, Perse, Israe, ,Ch. Ueh.inger)

Oamn die Situation gegenwärtiger Bachforschung wider. Gleichzeitig (165_,72) _ Schriftwort und ßildkunst, oder: Hört der Sehende besser? (M.

VVlrd damit signalisiert, daß Frömmigkeitsbestimmungen für Bach Görg)(l73-179).

nicht nur von Texten aus, sondern ebenso oder mehr aus Geist und Binding, Günther: Die mittelalterliche Ordenskunst der Franziskaner im

Form der Musiksprache ermittelt werden müssen. deutschen Sprachraum (FS 67,1985,287-316).

Das mit charismatischer Findergabe und stupendem Fleiß erarbei- Gebauer, Victor: Bach and Theology: A Heritage Seeking Renewal (Dialog

lete Hauptergebnis der Untersuchung darf in den reichen Belegen für 24,1985,91-95).

die Traditionsgeschichte von Texten und Themen lutherischer Pas- Nowak, Kurt: Dichten als Bewährung. Lyrik und Prosa ehnstheher Autoren

sionsfrömmigkeit gesehen werden, ebenso in den vielen Einzelner] aus der Zeit des Faschismus (Standpunkt 14 1986,32-83).

nommigKeu gesencn wciuc, cut i Ros,in De|mo; Schütz - Bach - Haendel Interpretes de la Palabra (Cua-

Pretationen. Was die Gesamtinterpretation angeht, so wird man tra-J ., ....

. ... . ,. . ... . . dernosdeTeologia7, 1V85, IU1-111).

Ben dürfen, ob dafür ein Koordinatensystem glücklich gewählt ist, in Renate. Rnkes Grabspruch. Ein weiterer Beitrag zu seinem Ver-

dem frömmigkeitsgeschichtliche Phänomene recht stark als Auflö- ständnis(ZRGG 37,1985,355-360).

sungserscheinungen fungieren. In ihrer Zurückhaltung gegenüber Sequeri, Pier Angelo: II teologico e il musicale (Teologia 10, 1985,

"mystischen Traditionen ist die Autorin wissenschaftsgeschichtlich 307-338).

noch dem Standpunkt A. Ritschis verpflichtet; auch ihr Bild von der stiller, Günther. Glaube und Frömmigkeit des Luthertums im Leben und

■Aufklärung schreibt eine Sicht fort, die die möglichen theonomen Werk Johann Sebastian Bachs (ÖR 35, 1986,53-70).