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Ausgabe:

1986

Spalte:

123-125

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Cordes, Cord

Titel/Untertitel:

Geschichte der Kirchengemeinden der Ev.-Luth. Landeskirche Hannovers 1848 - 1980 1986

Rezensent:

Beyer, Franz-Heinrich

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Theologische Literaturzeitung 111. Jahrgang 1986 Nr. 2

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Diese großräumigen Interpretationslinien sind etwas verwirrend.
Verbleibt man in der Weimarer Republik, so ist die vom Vf. für die
Jahre nach 1927 konstatierte Weichenstellung wohl als Versuch zu
bewerten, den interpretatorisch nicht hintergehbaren Vernunftrepublikanismus
einer anderen Bewertung zuzuführen, als es in der Forschung
bislang geschehen ist. Die kooperative Loyalität, deren
Brüchigkeit insgesamt übrigens auch von einem so besonnenen Autor
wie Wright gesehen wird, erscheint jetzt lediglich im Rahmen einer
Akzeptanz der zwischen Staat und Kirche bis dahin geknüpften
Beziehungen in Sachfragen von beiderseitigem Interesse. Damit wird
der Begriff Vernunftrepublikanismus auf eine pejorative Ebene verwiesen
: bloße politische Anpassung (vgl. auch den Titel der Studie).
Ob dies der tatsächlichen Realität des gewiß fragilen Gebildes Vernunftrepublikanismus
im evangelischen Kirchentum gerecht zu
werden vermag, ist die Frage. Entsprechend der inhaltlichen Aushöhlung
des Begriffs ist es dann möglich, Vernunftrepublikanismus
auch schon für die Anfangsphase der Republik unter DEKA-Präsi-
dent Möller zu konstatieren, nur eben als gleichsam bloß administrativgespeiste
Gesinnung.

Im methodischen Ansatz steht der Vf. der Studie von J. Jacke insofern
nahe, als er gleichfalls beim institutionellen Selbstverständnis der
(altpreußischen) Kirche ansetzt. Während Jacke die unbefriedigt
gebliebenen Einflußwünsche betont, favorisiert der Vf. den prinzipiell
republikwiderständigen Ansatz von Volkskirchc im Doppelaspekt
von aktiver Demokratiefeindschaft und „politischem Quietismus".

Die Arbeit selbst, strikt bezogen auf die Evangelische Kirche der
APU und in ihrer zeitlichen Limitierung 1917-1927 der Versuch
einer neuen Rhythmisierung des kirchengeschichtlichen Prozesses
aus den soeben geschilderten Grundannahmen, entfaltet in sieben
Kapiteln die Persistenz der behaupteten volkskirchlichen Ideologiefaktoren
unter dem Wunschbild der christlichen (germanischen)
Gesellschaft: in den Debatten um Krieg und Kriegsschuld, kirchlichen
Neuaufbau, Schulpolitik und Kulturleben, nationalistische
Rechte, Stellung zu den Juden ("antisemitism funetioned as part of
the Volkskirche's negative identity" - S. 199) und zu den Sozialisten
.

Die Kritik muß sich gegen ein übergeneralisiertes Verständnis von
Volkskirche richten, das die differenten ekklesiologischen, sozialen
und politischen Inhalte dieses protestantischen Epochenphänomens
nicht hinlänglich in den Blick bekommt und, indem es mit einem
idealtypisch-negativen Konstrukt arbeitet, notwendig zu einer „überpessimistischen
" Sicht gelangen muß. Hier macht sich empfindlich
bemerkbar, daß der Vf. neueste Forschungsergebnisse zur volkskirchlichen
Problematik nicht zur Kenntnis genommen hat, etwa die
Studie von K.Meier: Volkskirche 1918-1945. Ekklesiologie und
Zeitgeschichte. München 1982.

Leipzig Kurt Nowak

Cordes, Cord: Geschichte der Kirchengemeinden der Ev.-Iuth.
Landeskirche Hannovers 1848-1980. Hannover: Lutherhaus Verlag
1983.244 S.8 Kart. DM 12,80.

Der Titel des Buches - die Abschnitte wurden zuerst einzeln im
JGNKG veröffentlicht - weckt Interesse: Keine Geschichte der Landeskirche
Hannovers, sondern eine „Geschichte der Kirchengemeinden
" dieser Landeskirche wird angekündigt. Dabei handelt es sich
jedoch weniger um das Programm einer Kirchengeschichte „von
unten", als vielmehr um die Beschreibung der Entstehung der evangelischen
Kirchengemeinde (KG) als einer „von vielen möglichen
Sozialformen christlicher Verkündigung und Vereinigung" (S. 7),
sowie ihrer Entwicklung angesichts der Gegebenheiten und Herausforderungen
der letzten 130 Jahre. Dabei stellen die historisch entscheidenden
Jahre 1914, 1933, 1945, sowie die sechziger Jahre (1965)
die Zäsuren für die fünf Kapitel dar.

Der Begriff „Kirchengemeinde" wird dort konkret faßbar, wo die
traditionelle Struktur der Parochie als Verwaltungs- und Betreuungsbezirk
des von den Behörden eingesetzten Pfarrers in den sozialen
Organismus KG verändert wurde. Die rechtliche Grundlage dafür
wurde im Königreich Hannover durch das „Gesetz über Kirchen-und
Schulvorstände" aus dem Jahre 1848 gelegt. Danach sollte jede KG
einen gewählten Vorstand haben. So wurde die KG zum „Subjekt",
sowohl bei der eigenen Vermögensverwaltung, als auch in der Anerkennung
als „Körperschaft öffentlichen Rechts". Die Bestrebungen,
die KG auch mit Aufgaben und Befugnissen für das innere Gcmeinde-
leben auszustatten, führten zu der 1863 von der Vorsynode beschlossenen
„Kirchenvorstands- und Synodalordnung". Der Realisierung
und Entfaltung der damit der KG gegebenen Möglichkeiten und Aufgaben
wird in den weiteren Kapiteln nachgegangen.

Die Bemühungen um eine „wirkliche Gemeinde", in der die
Gemeindcglieder als mündige Christen Verantwortung füreinander
und für den Auftrag der Gemeinde übernehmen sollten, waren in den
letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts besonders intensiv und sind
seither sowohl mit dem Namen Theodor Lohmann, Emil Sülze und
Gerhard Uhlhorn, aber auch mit den Stichworten Gemeinde-bezirk.
-haus, -blatt, -abend etc. verbunden. Damit sind Realisierungen der
gegebenen Möglichkeiten aufgezeigt, die so aber nicht in allen KG zu
erkennen waren. Kapitel II beschreibt den Zeitraum 1914-1933. Die
bewährte rechtliche Formung der KG ging in die Verfassung der
Landeskirche von 1922 ein, in der das Pfarramt im Zusammenhang
mit den Aufgaben der KG behandelt wurde. Nun wurde erstmals auch
den Frauen das Wahlrecht und die Wählbarkeit für den Vorstand
zugesprochen. Angaben über das gottesdienstliche Leben, über die
verstärkte Einrichtung von Gemeindeämtern und über die Diakonie
der Gemeinden belegen anschaulich, wie die KG ihrer Aufgabe und
den Herausforderungen der Zeit gerecht zu werden versuchten (1922
wurde ein Landesjugendpfarrcr und 1928 ein Sozialpfarrer berufen).
Dabei wird auch die Bedeutung der freien Vereine und Verbände zur
Förderung von Gemeindeaufgaben hervorgehoben. In Kapitel III, das
den Zeitraum 1933-1945 behandelt, kann innerhalb einer solchen
Abhandlung nur sehr pauschal und schlaglichtartig über die KG der
„intakten" hannoverschen Landeskirche berichtet werden. In dieser
Epoche wurde die KG zur alleinigen Basis aller gemeindefördernder
Aktivitäten. 1937 wurde das Amt für Gemeindedienst gegründet.

Mit Kapitel IV beginnt der zweite, ausführliche Teil der Darstellung
(S. 97-241), der die Beschreibung der Situation der KG in der
hannoverschen Landeskirche von 1945 bis zur Gegenwart zum
Gegenstand hat (Kap. IV umfaßt die Jahre 1945-1965, Kap. V
1965-1980). „Die kirchlichen Strukturen bestanden kontinuierlich
fort", heißt es zur Situation im Jahre 1945 (S. 98). In der Folgezeit
kam es jedoch zu einschneidenden Veränderungen, die die Eigenverantwortlichkeit
der KG betrafen. Die KG hatte ursprünglich das
Recht, von ihren Mitgliedern Kirchensteuern einzuziehen, und sie
machte von diesem Recht Gebrauch. Seit 1950 wird diese Steuer
zentral als Landeskirchensteuer eingezogen. Die KG erhalten davon
bestimmte Zuwendungen. Der verwaltungstechnischen Vereinfachung
auf der einen Seite steht auf der anderen Seite eine Einschränkung
des Rechts der KG auf Selbstverwaltung gegenüber. Noch deutlicher
wird dieses erfahren in der Verlagerung aller Verwaltungsangelegenheiten
in die Rentämter (die späteren Kirchenkreisämter). Die
damit angedeuteten Herausforderungen und Konsequenzen der konkreten
Zeitumstände betrafen und betreffen jedoch alle Bereiche der
Tätigkeit der KG, und das gleich in mehrfacher Weise. Das wird deutlich
in den Ausführungen über die Mitarbeiter in den Gemeinden und
über die entsprechenden arbeitsrechtlichen Regelungen, sowie über
die diakonischen Einrichtungen und Aktivitäten in den KG. Aber
auch das gottesdienstliche Leben, die Männer-, Frauen- und Jugendarbeit
weisen eine Vielfalt von Formen und Konzeptionen auf. Eine
besondere Herausforderung ergab sich für die KG durch den verstärkten
Ausbau der „funktionalen Dienste", die in der Zuwendung zu
bestimmten Problem-oder Berufsgruppen zwangsläufig Möglichkei-