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Ausgabe:

1986

Spalte:

105-107

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Kühschelm, Roman

Titel/Untertitel:

Jüngerverfolgung und Geschick Jesu 1986

Rezensent:

Wrege, Hans-Theo

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Theologische Literaturzeitung III. Jahrgang 1986 Nr. 2

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brink of radical transformation" (174)?- Es spricht für M., daß er ein
solches Kausalverhältnis nicht postuliert, sondern nur zur Diskussion
stellt (ähnlich 191). Man kann nur hoffen, daß diese verblüffende
Erklärung zur Entstehung der Apokalyptik genügend Beachtung
findet.

Die Umsicht in der Anwendung sozialwissensehaltlichcr Theorien leitet M.
das ganze Buch hindurch. Im erwähnten Johannes-Aufsatz (vgl. Anm. I) ist die
soziologische Analyse bedeutend weiter getrieben als im vorliegenden Buch.
Die vorsichtige Vorgehensweise von M. kann man je nach Standpunkt als
Stärke oder als Schwäche auslegen. Der Verzicht auf^llzu weitreichende
Schlußfolgerungen macht die Arbeit konsensfähiger. aber auch ärmer. Es
stehen heute in der Soziologie und Sozialpsychologie bedeutend mehr elabo-
ricrtc Konzepte zur Verfügung, als M. sie anwendet. Theißen ist hier konsequenter
. Beispielsweise hätte M. den Begriff der symbolischen Sinnwelt aus der
"tssenssoziologie viel stringentcr auf die pln. Theologie anwenden können, die
Autorität des Paulus (die in Kap. 4 besprochen wird) und die Gruppenkohäsion
seiner Gemeinden mit sozialpsychologischcn Konzepten untersuchen können.
Die wichtigste Theorie der Sozialpsychologic.die Theorie der kognitiven Dissonanz
, streift er nur( 173 f), ohne sie wirklich zu verwenden.

In den Kapiteln 3 und 4 geht es M. um die Erfassung der sozialen
Struktur der pln. Gemeinden. Er zeigt auf, was die Ekklesia mit den
zeitgenössischen Gemeinschaftsmodcllen gemeinsam hat und was sie
von ihnen unterscheidet. (Bei der Besprechung der Hausgemeinde
vermißt man die Berücksichtigung der Untersuchung von KlauckF)
Taule und Abendmahl werden verstanden als "symbolic expression
of the group's solidarity and of its boundaries" (102). Die Sprache der
Eaulusbricfe wird - analysiert unter den Überschriften "The
Eanguage of Belonging" (85-94) und "The Language of Separation"
(94-96) - in ihrer Funktion Für die Gruppcnkohäsion und die Unterscheidung
von der Außenwelt durchsichtig gemacht. In Kap. 5 behandelt
M. die „Rituale" der frühen Christen (Taufe und Abendmahl,
aber auch "minor rituals" wie z. B. feste Formen des Singens und
Sprechens) und sucht sie mit dem sprachphilosophischen Begriff
-Performativ" zu begreifen (142): Welche soziale Funktion haben sie?
~ In Beantwortung dieser Frage arbeitet M. für die Taufe deren Initia-
Oonscharakter heraus. Im abschließenden Kap. 6 untersucht M.
Aspekte der pln. Theologie. Um Kreuz und Auferstehung Jesu herum
erbauten Paulus und seine Gemeinde eine neue symbolische Welt mit
besonderem Akzent auf Symbolen der Einheit, Gleichheit und Liebe
(vgl. bes. 180; 192).

Die Arbeit von M. ist fest in der exegetischen Diskussion verwur-
Ze't; auch die deutsche Forschung ist gut berücksichtigt. Eine Fülle
von exegetischen Einzclergebnisscn wird zutage gefordert. Ausführ-
hche Register runden das gut gelungene Buch ab.

Siegen WalterRebell

The Man from Heaven in Johannine Sectarianism. JBL9I, 1972, 44-72
(= Die Funktion des vom Himmel herabgestiegenen Offenbarers für das
Selbstvcrständnis der johanncischen Gemeinde, in: Wayne A. Meeks [Hrsg.],
?-"r Soziologie des Urchristentums, München 1979,245-283).

Auch Gerd Theißen schrieb seine soziologischen Studien zum NT in einer
aPologetisehen Situation, vgl. Studien zur Soziologie des Urchristentums.
WUNT I9.2I983,III.

E- L. Berger/T. Luckmann. The Social Construction of Reality, Garden
Cuy-NewYork 1966.

H.-J. Klauck. Hausgemeinde und Hauskirche im frühen Christentum.
SßS 103, 1981.

"■ühschelm, Roman: Jüngerverfolgung und Geschick Jesu. Eine
e"egetisch-bibclthcologische Untersuchung der synoptischen
Verfolgungsankündigung Mk 13.9-13 par und Mt 23,29.36 par.
K-losterneuburg: Österr. Kath. Bibelwerk 1983. 337 S. 8° = Österreichische
Biblische Studien, 5. Kart. ÖS 338.-.

Vf. sieht sich einer „verstärkten Einbeziehung fundamentaler
lextlinguistischer Erkenntnisse" verpflichtet, geht darum vom prinzipiellen
Vorrang der Synchronie vor der Diachronie aus (12) und sieht

sich dabei durch die methodischen Perspektiven von Fohrer,
Hoffmann, Huber, Marken und Wanke (in kritischer Weiterführung
der Ansätze von Richter) bestimmt. Diese Vorentscheidung hat weitreichende
Auswirkungen für den Aufbau der Arbeit. Unter synchro-
nischen Gesichtspunkten, d. h. unter konsequenter Absehung von
ihrer Entstehungsgeschichte werden die Texte in immer der gleichen
Reihenfolge einer Kontextkritik (22ff), der sprachlichen Analyse,
bestehend aus syntaktischer, stilistischer, phonetischer, semantischer,
strukturaler, pragmatisch-funktionaler Analyse (34ff). sowie der
Form-, Gattungs- und Textsortenkritik und der Frage nach dem „Sitz
im Leben" (73ff) unterzogen. Erst mit der Traditions- und Motivkritik
wendet sich Vf. der Entstehungsgeschichte der Texte zu (91 ff),
um dann die so erhobenen Gesichtspunkte noch literar-, überliefe -
rungs- und redaktionskritisch zu untersuchen (108ff). Die inhaltliche
Auslegung zerfallt in eine Exegese der Einzelverse (163ff) und eine
„Theologische Auslegung" der Texte im Rahmen der Gesamtkonzeption
ihrer Evangelien (260ff). Für jeden, der sich nicht auf den o. a.
Methodenkanon festgelegt hat, muß schon dieser stark formalisierte
Aufbau Probleme aufwerfen.

So ist z. B. der „Sitz im Leben" als Schwerpunkt formgeschicht-
lichcr Arbeit zu würdigen (83). Vf. vermeidet hier aber jenen diachronischen
, hier also traditionsgeschichtlichen Aspekt und weist den
„Sitz im Leben" unter dem synchronischen Systemzwang der
redaktionellen Letztgestalt des Evangeliums zu. Ein Text wie
Mk 13,9 ff „spiegelt unverkennbar die Gegenwart des zweiten Evangelisten
und seiner Gemeinde wider" (83). Die Pointe liegt in dem
„und", durch das die Unterscheidung von Tradition und Redaktion
verwischt wird. Die Folge: Vf. muß diese Unterscheidung im diachronischen
Teil (110ff) nachholen, ohne freilich die gegenseitige Zuordnung
wie Trennung von Überlieferung und Auslegung wirklich
durchzuarbeiten. Das hier ungelöste Problem wird dann in den theologischen
Schlußteil weitergeschleppt: 260ff. Theologische Qualität
aber ist auf allen Stufen der Überlieferung und keineswegs erst auf der
Ebene der Endredaktion (oder des historischen Jesus) zu erkennen, ein
Hinweis darauf, daß Theologie ein zutiefst geschichtliches Unternehmen
ist. Die dogmatisch gesetzte Priorität der Synchronie vor der Diachronie
gerät damit zu einer sehr fragwürdigen Voraussetzung für das
Verständnis der NT-Texte. So erscheint es mir denn auch im ersten
Teil der Arbeit fraglich, ob ich mehr über die Stringenz einer Methodik
oder die Texte selbst erfahre - eine Frage, die sich wegen der
methodischen Prinzipientreue des Vf. in Wirklichkeit an dessen
Gewährsleute richtet.

Mit den folgenden Einzelhinweisen möchte ich den Anschein einer
methodisch gesicherten Objektivität der Arbeit hinterfragen. Vf. sucht
möglichst eindeutig symmetrische Formalstrukturen in den Texten
nachzuweisen, - Versuche, die sehr oft nicht überzeugen können. So
müßte z. B. in Mk 13,9bcd das Element A'eigentlich als C bezeichnet
werden, würde so aber die vorausgesetzte Systematik sprengen (42).
Ebenso können Mikro- und Makrostruktur für Mt 23,29ff/Lk 11,47FF
vielfach anders als vom Vf. dekretiert beschrieben werden (62 ff, 67 ff).
Viel zu wenig wird auch die offene Problematik des Methodensystems
kritisch gegenüber den Gewährsleuten diskutiert (immerhin 61,73).
Denn wie etwa Motive und Traditionen zusammenhängen bzw. zu
unterscheiden sind, ist Stoff Für mehr als eine Anm. (91). Auch die
linguistische Nomenklatur hat ihre Tücken (vgl. z. B. die unterschiedlichen
Bezeichnungen der „wegen . . ."-Elemente Mk 13,9: „Aktant",
42;und Lk 21,12: „kausalerCircumstant,45).

Im diachronischen Teil gelingt es Vf., klare Linien zur Begründung
seiner Position zu finden, ohne sich im Dickicht der reichlich herangezogenen
Literatur zu verirren. Hier wird auch deutlich, was ihn zur
Untersuchung gerade dieser Texte bewogen hatte. Es geht um eine
exegetische Reflexion jener Trendumkehr (9), die das theologische
Interesse von der Hoffnung auf Befreiung zu einer angemessenen Würdigung
des Leidens verschoben hat (271 ff, 307). Vf. entnimmt den
Texten eine Abgrenzung gegen eine LeidensunFähigkeit ebenso wie
gegen eine passive Leidensseligkeit (303ff, 307ff). Sehr zu recht betont