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Ausgabe:

1986

Kategorie:

Judaistik

Titel/Untertitel:

Neuerscheinungen

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Theologische Literaturzeitung 11 I.Jahrgang 1986 Nr. 2

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Nicht minder scharf geht der Verfasser mit dem ins Gericht, was er
als die dem Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament
zugrundeliegende Hermeneutik glaubt erkannt zu haben. Hier
schließt er sich eng an die bekannte Kritik von J. Barr an, die er in
einem Punkt noch zuspitzt: der dort geübte Umgang mit den neutesta-
mentlichen Texten versperre den Weg zur Erfassung von deren
geschichtlicher und religionsgeschichtlicher Situation. Dagegen wird
(überraschenderweise) die sogar an den Namen festzumachende
Beziehung zwischen dem ThWb und einer ideologisch präformierten
und ideologiekritisch zu beleuchtenden Spätjudentumsforschung in
diesem Zusammenhang nicht angesprochen; obwohl sich hier eine
Gelegenheit geboten hätte, das Ineinandergreifen von Methodenkritik
und Ideologiekritik zu veranschaulichen.

Daß der überlieferungsgeschichtliche Ansatz der Spannung standhalten
muß zwischen dem Überlieferten und seiner Gestallung,
zwischen dem Geschehen und der Tradition von Geschichte wird bis
zum Ausgangspunkt, dem Gegenüber von Wellhausen und Gunkel,
zurück verfolgt. Die letzte in die Darstellung einbezogene Phase, die
sog. nachbultmannsche, die im Zeichen von „Sachkritik und neuer
Hermeneutik" gesehen wird, führt vollends in die Sackgasse durch die
Abwertung der Aussage zugunsten des „Sprachgeschehens".

Mit solchen methodenkritischen Darbietungen verknüpfen sich die
den eigentlichen Gegenstand der Untersuchung berührenden inhaltlichen
Probleme. Hier sei auf drei Gesichtspunkte verwiesen. Da ist
einmal die Behauptung vom Ende der Geschichte Israels, von Wellhausen
klassisch formuliert und bis zu M. Noth wirksam. Das Judentum
wird zur Versteinerungsform der nachexilischen Religion Israels;
das sog. Spätjudentum der neutestamentlichen Zeit zu einem Ausklang
ohne die Chance einer Fortentwicklung. Nicht minder kritisch
ist die Bewertung der These vom normativen Judentum. Man glaubte
es in den rabbinischen Quellen gefunden zu haben und setzte es mit
dem Pharisäismus der Zeit vor 70 n. Chr. gleich, in dem man die das
gesamte Judentum prägende Kraft sah. Diese Sichtweise, durch die
Parallelensammlung von Strack und Billerbeck gefordert, wurde
inzwischen durch J. Neusners und seiner Schule kritische Arbeit
destruiert, die deshalb mit Recht in die vorliegende Darstellung einbezogen
wurde. Schließlich ist die Betrachtung der jüdischen Apokalyp-
tik als eines Verfallsphänomens angesprochen, eine Sicht, die von
einem evolutionistischen Bild ausgeht, von dem aus der Prophetismus
als Höhepunkt der alttestamentlichen Religion erscheint.

Man kann unter diesem Aspekt das Ergebnis der Untersuchung als
im besten Sinne aufklärend ansprechen. Was im Blick auf das Verhältnis
von Judentum und frühem Christentum als tradiertes Geschichtsbild
auch apologetisch zur Wirkung kam, erwies sich als Ergebnis
weithin unreflektierten Umgangs mit den geschichtlichen Erscheinungen
wie mit den Quellen. Der Vf. ist sich des negativen Eindrucks
seiner „Zwischenbilanz" (S. 194) bewußt. Hinter seiner Kritik steht
jedoch ein entschieden positiver Anspruch. Er möchte eine Sicht
anbahnen, die das Christentum aus seiner jüdischen Wurzel und in
der Kontinuität mit der ganzen alttestamentlichen Geschichte verstehen
will. Sie liegt wohl nicht weit ab von dem Konzept, das vor mehr
als zwei Jahrzehnten im Kreis um W. Pannenberg entwickelt wurde.
Von hier aus ergibt sich der Schluß, daß eine konsequente Wahrnehmung
der israelitisch-jüdisch-urchristlichen Geschichte als „faktische
Einheit eines Überlieferungsprozesses" (S. 197) aufgefaßt auch das
Ende der Spätjudentumstheorie bedeutet.

Leipzig - Hai le (Saale) Wolfgang Wiefel

Neusner, Jacob: Stable Symbols in a Shifting Society: The Delusion ofthe
Monolithic Gentile in Documents of Late Fourth-Century Judaism. In: "To
See Ourselves as Others See Us", ed. by J. Neusner and E. S. Frerichs.
S. 374-396.

Zias, Joseph, and Eliezer Sekeles: The Crucified Man from Giv'at ha Mivtar:
A Reappraisal (IEJ 35,1985,22-27).

Neues Testament

Meeks, Wayne A.: The First Urban Christians. The Social World
of the Apostle Paul. New Häven-London: Yale University Press
1983.299 S., 1 Ktegr. 8'. Lw.£ 15.-.

M. bemüht sich in dem vorliegenden Buch um einen sozialgeschichtlichen
Zugang zum frühen Christentum. Hat er bereits früher
soziologische Fragestellungen an die joh. Gemeinde herangetragen1,
so beschränkt er sich hier auf das pln. Christentum als das am besten
dokumentierte Segment des Urchristentums; die pln. Briefe, die sich
mit den spezifischen Angelegenheiten der lokalen Gemeinden
beschäftigen, sind für die sozialgeschichtliche Befragung in besonderer
Weise geeignet (7). Offenbar ist es immer noch nötig, einen solchen
Zugang zu ntl. Texten zu verteidigen. M. beginnt mit einer Apologie
(1-7)2, in derer zugleich Rechenschaft über seine sozialwissenschaftliche
Vorgehensweise gibt; diese ist eklektisch und - indem er in
lockerer Weise die Wissenssoziologie von Berger/Luckmann' aufnimmt
, Dürkheims Reduktionismus hingegen ablehnt - „moderat
funktionalistisch" (60- Die funktionalistische Sichtweise erklärt auch,
weshalb der Begriff "Social World" im Untertitel des Buches lür M.
eine - für den ntl. Zeitgeschichtler keineswegs selbstverständliche -
Doppelbedeutung hat: gemeint ist nicht nur die äußere Umwelt, sondern
auch die im wissenssoziologischen Sinne „konstruierte" Welt
(8).

Umwelt des frühen Christentums ist für M. vor allem städtische
Umwelt. Er weist nach, wie aus der ländlichen Jesusbewegung sehr
rasch und schon vor Paulus (vgl. die christlichen Gemeinden in
Damaskus und Antiochien) eine städtische Bewegung wurde. "Paul's
world consisted .. . only ofthe cities of the Roman Empire." (9) Folglich
widmet M. sein historisches Einfiihrungskapitcl ganz der "Urban
Environment" des pln. Christentums. Unter Überschriften wie "The
Pcoplc of the City" (13), "Cosmopolis" (15), "Mobility" (16) u. a.
beschreibt er die hellenistische Stadtkultur. Das hellenistische Judentum
(ausdrücklich nicht das rabbinische, vgl. 33f) wird ausführlich
berücksichtigt (32-39). Die Ausführungen sind historisch gut
fundiert, d. h. sie gründen auf Inschriften (auch auf deren statistischer
Auswertung, vgl. 23 u. ö. ), Berichten antiker Schriftsteller und der
einschlägigen Sekundärliteratur. Sie sind der eigentlichen Untersuchung
ntl. Sachverhalte nicht beziehungslos vorangestellt, sondern
mit diesen vielfach verknüpft. Um die Stätten der pln. Wirksamkeit
auszumachen, zieht M. auch kritisch die Apg heran (40ff); die neuere
Hypcrkritik an der Apg als Geschichtsquclle (Lüdemann) findet sich
bei ihm nicht.

Im folgenden Kapitel geht M. dem sozialen Status der pln. Christen
nach. Er weist - in Übereinstimmung mit Theißen u. a. - die vormals
beliebte These, daß die frühen Christen der Unterschicht angehörten
(Deissmann), zugunsten einer differenzierteren Sicht zurück. Nach
Durchführung einer Prosopographie der Personen, die in den Paulusbriefen
genannt werden (55-63), sieht er den freien Handwerker und
den kleinen Händler als typische Christen an (73). Äußerst hilfreich
ist in diesem Zusammenhang eine Differenzierung des Status-Begriffs,
die sich auch bei Theißen so nicht findet (53-55). Status besteht aus
einer Vielzahl von Dimensionen: Macht, berufliches Ansehen, Einkommen
, Bildung . . . Der Rangplatz eines Individuums kann auf den
verschiedenen Dimensionen verschieden sein; eine geringe Korrelation
der Rangplätze bedeutet eine geringe Status-Konsistenz und
damit - sozialwissenschaftlicher Theorie zufolge - "unpleasant expe-
riences that lead people to try to remove the inconsistency by
changing the society, themselvcs, or pereeptions of themselves" (55).
Nun vermag M. im Verlauf seiner Untersuchung zu zeigen, daß
gerade in den pln. Gruppen Status-Inkonsistenz häufig vorgekommen
sein dürfte (vgl. bes. 7f; 73; 174). Folgt daraus die Offenheit dieser
Gruppen für apokalyptische Gedanken, sind sie - um ihre Inkonsi-
stenz gleichsam extcrnal wieder einzuregeln - in besonderer Weise
"reeeptive to Symbols ofthe world as ilself out of joint and on the