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Ausgabe:

1986

Spalte:

919-921

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Scharfenberg, Joachim

Titel/Untertitel:

Einführung in die Pastoralpsychologie 1986

Rezensent:

Kiesow, Ernst-Rüdiger

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919

Theologische Literaturzeitung 111. Jahrgang 1986 Nr. 12

920

Praktische Theologie:
Seelsorge/Psychologie

Scharfenberg, Joachim: Einführung in die Pastoralpsychologie.

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1985. 244 S. kl. 8° = UTB
1382. Kart. DM 27,80.

Wenn überhaupt jemand unter den evangelischen Theologen
deutscher Zunge es unternehmen konnte, dieses Buch zu schreiben,
dann war Sch. dafür am ehesten prädestiniert. Auch er ging nur mit
Bedenken an die schwierige Aufgabe und beschränkte sich ausdrücklich
auf eine „Einführung", statt schon ein Lehrbuch oder ein Kompendium
der Pastoralpsychologie (PPs.) mit dem Anspruch einer gewissen
Vollständigkeit zu liefern. Er bezeichnet es in seinem Vorwort
als „ein sehr subjektives Buch" und will „Umkreisungen" des Themas
„Theologie und Psychologie" bieten, „bei denen aus der Ellipse endlich
doch ein Kreis mit einem Mittelpunkt werden sollte". (S. 8) Im
ersten der insgesamt vier Kapitel, unter der Überschrift „Pastoralpsychologie
- Annäherung an ein Zusammenhangswort" (37 S.)
macht der Vf. in § 1 „einige persönliche Vorbemerkungen" zu dem
„grenzüberschreitenden Begriff" der PPs. und zu der Rollendiffusion,
die ihm seine subjektive Existenz als Zeitgenosse, Christ, Pastor, Psychoanalytiker
, theologischer Hochschullehrer und - Mann bei diesem
Vorhaben aufnötigt. Vom Leser erwartet er entweder eine „identifika-
torische" oder eine „exklusive" Aneignung des Gelesenen (S. 17), und
darum erzählt er einerseits Geschichten aus der Praxis, will aber
andrerseits auch zu theoretischen Einsichten führen.

In den anschließenden §§ 3 und 4 schildert er die identifikatorische
Erkenntnis als „Einfühlung" und die objektivierende als „Distanzierung
", wobei für die PPs. natürlich erstere die Methode der Wahl ist,
weil sie nicht dem cartesianischen Sündenfall der Subjekt-Objekt-
Trennung unterliegen solle. Als „Paradigma" für das einfühlende,
identifikatorische Verfahren der PPs. dient dem Vf. aus begreiflichen
Gründen die Psychoanalyse Freuds, bei der die Bearbeitung des
aktuellen Konflikts im Verstehenszirkel zwischen Analytiker und
Patient sowohl erhöhte Selbstwahrnehmung wie auch Bezugnahme
auf mythische Überlieferungen einschließt. Die Analogie zur pastoralpsychologischen
Situation im seelsorgerlichen Gespräch liegt auf
der Hand. Als Beispiele für besondere Abwandlungen des gleichen
Paradigmas folgen in § 5 Einsichten von Kohut, Erikson und Pfister.
In § 6, „Symbol und Definition", begründet der Vf., warum ihm eine
eindeutige Definition der PPs. als nicht möglich erscheint: „Die Definition
informiert, das Symbol gibt zu denken (Ricceur); die Definition
verlangt Auseinandersetzung, das Symbol Zusammensetzen; die
Definition verbreitet Endgültigkeit, das Symbol eröffnet Zukunft; die
Definition tötet ihr Objekt, das Symbol schafft Leben; die Definition
ist das Grundelement von Wissenschaft, das Symbol das Grundelement
von Kunst und Religion." (S. 44)

Angesichts solcher Position, die hier ebenso eindrücklich wie einseitig
formuliert ist, fällt es schwer, überhaupt das Verhältnis der PPs.
zur Psychologie als Wissenschaft zu bestimmen. Der Vf. vertritt die
Meinung, „daß die Pastoralpsychologie sich nicht irgendeiner beliebigen
Psychologie, die zu ganz anderen Zwecken geschaffen wurde, bedienen
kann, sondern daß der Pastoralpsychologe tatsächlich seine
eigene Psychologie schaffen muß". (S. 48) Angestrebt wird eine PPs.,
in der religiöse Praxis, die sich in Symbolen und Mythen äußert, und
psychologische Theorie nicht prinzipiell getrennt sind, sondern in
Korrelation zueinander stehen. Sie soll nicht einfach mit der Psychoanalyse
identisch sein, soll aber wie diese eine hermeneutische, dynamische
, konflikt- und psychohistorisch orientierte Psychologie sein.
Sie dürfte jedoch nicht individualistischer Verengung verfallen, müsse
sich vielmehr ihrer sozialen und politischen Bedeutung bewußt werden
(vgl. S. 49 sowie § 18 „Pastoralpsychologie in einem gesellschaftlichen
Kontext").

Im 2. Kapitel beschreibt der Vf. „Tätigkeitsfelder des Pastoralpsychologen
" (u. a, Konflikte, Symbolische Kommunikation, Hören

und Erzählen von Geschichten, Interpretation, Sprache; insgesamt
54 S.) und im 3. Kapitel (50 S.) „Pastoralpsychologische Situationen"
(Alleinsein, Zweierbeziehung und Triangulierung, Familie, Gruppe,
Gesellschaft). Das 4. und längste Kapitel des Buches (75 S.) ist der
Frage gewidmet: „Wie lernt man Pastoralpsychologie?" Hier werden
u. a. die Probleme der Selbsterfahrung, Supervision, Gruppenmethodik
und der pastoralpsychologischen Kompetenz angesprochen
, und zwar sowohl im biblischen wie im anthropologischen und
religionspsychologischen Horizont. Dabei bezieht sich der Vf. an
vielen Stellen umfassend und kenntnisreich auch auf die kirchliche
und pastoraltheologische Tradition.

Diese unvermeidlich verkürzende und deshalb eventuell simplifizierende
Übersicht über die Kapiteleinteilung und einige der wichtigsten
Themen des Buches vermag nur einen geringen Eindruck von der
Fülle des Inhalts und von den ebenso subtilen wie weiträumigen, oft
auch phantasieintensiven Gedanken des Vf. zu vermitteln, geschweige
denn von den zahlreichen interessanten Fallberichten, die jeweils den
Ausgangspunkt für die praktischen oder theoretischen Schlußfolgerungen
der einzelnen Diskurse markieren. In der ganzen Darstellung
wird bei aller Lebendigkeit und manchmal verwirrenden Vielfalt doch
eine bewundernswerte innere Systematik durchgehalten, die allein
dem Ziel dient, die PPs. als eine Disziplin sui generis zu entwickeln
und zu erweisen.

Ob der Versuch schon gelungen ist und überhaupt gelingen kann,
wird nicht zuletzt von der Wirkung dieses Buches abhängen und auch
von der weiteren Entwicklung der pastoralpsychologischen Bewegung
, auf deren noch relativ kurze Geschichte der Vf. vielfach Bezug
nimmt. Bisher kann die PPs. ihre wesentliche Herkunft von der
Tiefenpsychologie nicht verleugnen. Das bedeutet Abhängigkeit von
einer pluralistischen Psychosophie, deren wissenschaftliche Konsens-
tahigkeit immer noch nicht generell erreicht ist. Die kritischen Anfragen
z. B. von G. Besier (Seelsorge und Klinische Psychologie,
Göttingen 1980), auf die der Vf., soweit ich sehe, nicht eingeht, haben
ihr Recht, auch wenn Besier seinerseits die Verhaltenstherapie als
einzige Alternative absolut setzt und damit sein eigenes Anliegen
untergräbt. In der DDR hätten wir etwa in der hier vertretenen
Klinischen Psychologie oder in der sich rasch entwickelnden marxistischen
Persönlichkeitspsychologie wichtige Gesprächspartner, um
überprüfbare Grundlagen für die pastoralpsychologische Theoriebildung
und die seelsorgerliche Praxis zu finden. Aber auch in der
BRD kann man wohl kaum an den akademischen Disziplinen der
Allgemeinen, der Pädagogischen, der Medizinischen und der Sozialen
Psychologie so vorbeigehen, wie es in dieser „Einführung" den Anschein
hat.

Gerade wenn die PPs. „auf das Ganze der theologischen Theoriebildung
wie der kirchlichen Praxis bezogen" sein soll (S. 159), bedarf
sie einer soliden, breiten Basis und kann sich nicht nur auf Symbol-
hermeneutik, die z. Z. etwas in Mode ist, oder auf bewährte bzw.
weiterentwickelte psychoanalytische Einsichten stützen. Will sie als
integrative Disziplin im Sinne des Vf. anerkannt werden und die
Dimension der religiösen ebenso wie der psychischen Erfahrung und
Interaktionen in die Praktische Theologie einbringen, dann muß sie
sie auch begrifflich fassen und objektivieren können, d. h. sich der
rationalen Verfahren der Wissenschaft bedienen können (vgl. dagegen
oben das Zitat von S. 44). Vermag sie dies nicht, dürfte sie als eigenständige
wissenschaftliche Disziplin kaum eine Chance haben und
wird bald das Schicksal der sogenannten Pastoralmedizin teilen, für
die zwischen moderner Medizin und kirchlicher Poimenik kein besonderer
Platz war. Psychologie bzw. Religionspsychologie auf der
einen und theologische Anthropologie auf der anderen Seite stellen m.
E. den Rahmen dar, innerhalb dessen die PPs. doch eher An-
wendungs- als Grundlagenwissenschaft sein könnte. Warum sollte sie
sich mit dieser Rolle nicht bescheiden und als pastorale Psychagogik
ihren Dienst tun, auf die es in der Praxis ohnehin meist hinausläuft?
Pastoralpsychologen, wie der Vf. sie voraussetzt, sind wohl nur
wenige Experten und Spezialisten mit psychoanalytischer oder