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Ausgabe:

1986

Spalte:

70-72

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Bujo, Bénézet

Titel/Untertitel:

Die Begruendung des Sittlichen 1986

Rezensent:

Engelhardt, Paulus

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Theologische Literaturzeitung III. Jahrgang 1986 Nr. 1

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der gesamten Sündenauffassung" (418) fordert. Indem die Subjektivität
sich aus jenem dialektischen Prozeß ausschließt, anstatt ihre „all-
gemeine(n) Negationsfähigkeit . . . auch auf sich selbst zu applizieren
", wird sie sündig. (418)

Den Schluß des Bandes bildet ein mehr summarisch-kritischer
Überblick über die Haltung von Biblizismus und restaurativen
Konservativismus zum Problem der Versöhnung.

Positiv hervorzuheben an dem hier vorgelegten Werk ist die
anschauliche Darstellung. Unabhängig von der hcrmcncutisch-
theologischen Position des Verfassers erhält der Leser einen guten
Einblick in auch schwerer zugängliche Teile der Thcologiegcschichte
der letzten drei Jahrhunderte, weil die einzelnen Positionen und
wichtige Beurteilungen der Forschungsgeschichte im Zitat vorgestellt
werden. So entsteht ein vielstimmiger Dialog, der zum Weiterarbeiten
und Mitdenken einlädt. Dabei ist besonders gelungen, daß bestimmte
Lehrentwicklungen an einzelnen Personen mit ihren Biographien anschaulich
werden.

Da der Verfasser mit seinem Werk einen systematischen Entwurf
beabsichtigt, soll sein Ansatz befragt werden, ob und inwiefern mit
"im theologisch und historisch sachgerecht gearbeitet werden kann.
Setzt das Denken und Urteilen aus einem „hcrmencutischcn Schwebezustand
" nicht unkritisch ein Bezugssystem voraus, dessen
Axiomen es bewußt oder unbewußt verhaftet bleibt? Auch der Versuch
eines den Einzelstandpunkt .aufhebenden' prozessualen
Denkens bleibt faktisch ein Standpunkt menschlicher Subjektivität,
der sich daran messen lassen muß. ob er dem jeweiligen Gegenstand
seiner Darstellung gerecht geworden ist. Schon der Einsatz des Verfassers
bei den Darstellungen von Baur und Ritsehl impliziert eine Reihe
von dogmatischen und historischen Entscheidungen, die nicht nur die
Sicht auf die Geschichte der Versöhnungslchrc. sondern auch auf den
Gegenstand dieser Lehre, der in Jesus Christus geschehenen Versöh-
nung. in einer bestimmten Weise prägen. Mit dem Denken des in den
Einzeldarstellungen dieser Geschichte Gedachten (vgl. 300 ist aber
noch keineswegs das Kriterium dalür gegeben, inwiefern das, was da
Sedacht wurde, seinem Gegenstand entspricht. So kommt denn auch
ie vom Verfasser vorausgesetzte Aufgeschlossenheit des Versöhnungsgedankens
für die „Geschichte des modernen Frcihcitsbewußt-
scins ' (30) als eigentliches Kriterium in Anwendung.'nach dem die
Darstellungen der Versöhnungsichre faktisch ausgewählt, geordnet
und beurteilt werden. Mit diesem nicht eigentlich theologischen
Kriterium muß die Frage nach der Wahrheit dieser Darstellungen,
a'so die Frage nach ihrem wahrheitsgemäßen Bezug auf die Versöhnung
Jesu Christi, in den Hintergrund treten. Damit ist noch nicht
ausgeschlossen. daß die Geschichte der Versöhnungslchrc angemessen
nur eben unter einem besonderen Aspekt in den Blick kommt.

Die Anordnung und Beurteilung der einzelnen Darstellungen der
^ersöhnungslehre durch den Verfasser zeigt aber, daß wichtige
Vertreter der Geschichte des Versöhnungsbcgriffs auf Grund jenes
esonderen Kriteriums nur unzureichend berücksichtigt werden, bzw.
'bre Bedeutung lür die Versöhnungslehre nicht differenziert genug
erfaßt werden kann. So ist der Einsatz der Darstellung bei den Sozinia-
uern aut die vom Verfasser in seinem Kriterium vorausgesetzte Auf-
fessung von neuzeitlicher Autonomie begründet. Damit ist für die
konstruktive Einbeziehung reformatorischer Theologie in den Entwicklungsgang
wie lür die unvoreingenommene Würdigung der nachfolgenden
Orthodoxie der Weg verstellt, und das. obwohl der Verfas-
Ser in Luthers Fassung der Imputation eine Überwindung des bloß
Eorensischen und in seinem theologischen Denken eine Selbständigst
des Menschen erreicht sieht, die „grundsätzlich von jeder Fremdbestimmung
befreit ist" (99). Warum beginnt eine Geschichte der
ersöhnungslehre aus dem Blickpunkt neuzeitlicher Autonomie
ficht mit dieser Position? Aber auch wenn es darum geht, die Unterschiede
etwa zwischen Pietismus und Neologic, Rationalismus und
Erweckungsbcweguhg exakt herauszuarbeiten und sie für die Darstellung
der Entwicklung des Versöhnungsbcgriffs fruchtbar zu machen.
erdcn Schwächen der genannten Voraussetzung des Verfassers sichtbar
. Es ist ein zu berücksichtigender Unterschied, ob und in welchem
Maße Subjektivität in ihrem Anspruch auf Selbstbestimmung sich auf
Christus bezieht oder auf natürliche Vernunft. Diese Unterschiede
verschwimmen dem Verfasser unter der formalen Kategorie der
unmittelbaren Selbstbestimmung, unter die der Großteil der behandelten
Entwürfe fällt.

Wird dieser an Hegels Philosophie gewonnene- Begriff z. B.
Schleicrmacher wirklich gerecht? (383) Impliziert nicht das Sich-
vom-Erlöscr-bcwirkt-Wissen des Gläubigen, das eine zentrale Stellung
in Schleicrmachers theologischem Denken einnimmt, eine
bewußtseinsimmanente Unterscheidung, die nicht in der Willkür des
Subjekts steht?

Gerade um des Besonderen in C hristus willen möchte der Verlässer
der Tendenz von Hegels Theorie der Subjektivität folgen, die das Ich
über sich hinaus zum Konkreten und anderen führt. (294) Deshalb
kritisiert er Baur. der letztlich doch „das Singulärc der Dominanz des
Allgemeinen unterstellt". (323) Nur auf diese Weise kann aber im
Rahmen der Philosophie Hegels die Absolutheit des göttlichen Selbstbewußtseins
behauptet werden. Aus jener ersten Tendenz, daß
Gottes Selbstwissen des Endlichen notwendig bedarf, folgt nämlich,
daß bei andauernder Existenz, und einmaliger Entwicklung des Endlichen
„die Allmählichkeit des Bewußt werdens auf Gott selbst übertragen
" ist. (Dorner. Entwicklungsgeschichte der Lehre von der
Person Christi II, Berlin 21853, S. 1122) Dieser Schwierigkeit in der
Ciotteslehre muß sich der Verfasser stellen, wenn er Hegels Modell
von Subjektivität einer „bedingungsfrei sich produziercnden(r) Sclbst-
beziehung" (286) als Maßstab benutzt, an dem zum einen der Fortschritt
in der Entwicklung neuzeitlicher Selbstbestimmung ablesbar
ist und der darüber hinaus für die Anordnung und Beurteilung der
Geschichte der Versöhnungsichre ein Kriterium abgibt.

Dem Verfasser ist es in seiner Untersuchung gelungen, ein einheitliches
Bild der Geschichte der Versöhnungslchrc zu entwerfen. Sein
Rekonstruktionsprinzip, das von einer bestimmten Auffassung von
neuzeitlicher Autonomie geprägt ist, zeigt eine große Kraft, außerhalb
oder am Rande der Theologie stehende Entwürfe in den Entwicklungsgang
einzugliedern. Ob damit der Lebensnerv der sich innerhalb
der Kirche entwickelnden Versöhnungslchrc. die ihr Erkenntniskriterium
in der sich durch die Heilige Schrift selbstbez.cugenden Offenbarung
Jesu Christi hat.getroffen ist, bleibt fraglich.

Berlin Thomas Koppohl

Systematische Theologie: Ethik

Bujo. Benczet: Die Begründung des Sittlichen. Zur Frage des Eudämo-
nismus bei Thomas von Aquin. Paderborn-München-Wien-
Zürich: Schöningh 1984. 199 S. gr. 8' = Münchener Universitätsschriften
. Kath.-Theol. Fakultät. Veröffentlichungen des Grab-
mann-lnstitutcs zur Erforschung der mittelalterlichen Theologie
und Philosophie, N. F. 33. Kart. DM 48.-.

Diese Habilitationsschrift des Theologen aus Zaire greift in eine
historische und in eine gegenwärtige Diskussion ein: in die i960
begonnene Diskussion um den eudämonistischen Charakter der Ethik
des Thomas von Aquin und die 1970 begonnene Diskussion um den
teleologischen oder/und dcontologischen Charakter der katholischen
Moralthcologie. Bujo will mit seiner anthropologisch-strukturellen
Klärung der (theologischen) Ethik des Thomas zugleich das Recht
teleologischer Argumentation in jeder christlichen Ethik begründen.
Seine Thomas-Darstellung ist überzeugender als der aktuelle Ethik-
Beitrag, weil die gegenwärtigen Zentralbegriffe der Ich- bzw. Selbst-
Werdung ohne hermeneutische Klärung des Wandels durch den neuzeitlichen
Ansatz in der Subjektivität eingeführt werden. Allerdings
gelingt es dem Vf.. Vorboten der anthropologischen Wende in überraschender
Fülle bei Thomas zu entdecken: die Einbeziehung der
„irdischen Wirklichkeiten" in das /)cn//7»(/o-Verständnis der Summa
TKeologiae (80 u. ö.). von Liebe und Genuß in einen auf die „Vollen-