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Ausgabe:

1986

Spalte:

910-913

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Titel/Untertitel:

Entwürfe der Theologie 1986

Rezensent:

Marschner, Ralf

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909

Theologische Literaturzeitung 111. Jahrgang 1986 Nr. 12

910

.Dialektik' ist heute zum Zauberwort geworden, das noch Geheimnisse
eines tieferen Weltverständnisses in sich birgt, gegenüber denen
die Denkformen der klassischen Logik versagen (31). Alternative zu
ihr ist - mit der klassischen Logik-die Kybernetik, und H. meint, mit
dem Gegenüber von Dialektik und Kybernetik zugleich dasjenige von
Ost und West zu erfassen.

Hauptgesprächspartner des Vf. (österreichischer Senior der Philosophen
, geb. 1912) ist B. Liebrucks. Nach diesem leitet die Dialektik
eine neue Epoche ein: eine „zweite Revolution der Denkungsart", die
mit Hegels Dialektik erfolgt sei, nachdem in Kants (erster) „Revolution
der Denkungsart" die Transzendentalphilosophie die platonischaristotelische
Ontologie ablöste. Über Hegels Dialektik hinaus ginge
„der Weg in die zukünftige Philosophie der Sprachlichkeit" (181). H.
sieht die Dialektik mehr als immerwährendes Problem und zeigt eine
Kontinuität der Philosophiegeschichte.

H. fuhrt zunächst - in einem I. Teil des ersten Bandes - in den
Stand der Forschung ein, indem er einige beispielhafte Diskussionsbeiträge
zum Thema: was Dialektik überhaupt sei und daß ihr Wert
und Sinn auch bestritten werden kann, vorführt. In Auswahl darüber
folgendes im einzelnen.

G. Günther versucht, dem, was Dialektik ist, von dem Problem
einer nicht-aristotelischen, d.h. einer mehr als zweiwertigen Logik
aus (die am Satz nur Bejahung und Verneinung kennt) beizukommen.
Aber - so der Einwand -: Gibt es die dritte logische Qualität der
Unentscheidbarkeit oder Unbestimmtheit jenseits der Alternative von
Bejahung und Verneinung? Oder gibt es nur eine relative Unentscheidbarkeit
, die in einem „reicheren System" (V. Kraft) aufgehoben
ist? „Ist die .Dialektik' nicht vielleicht überhaupt jene .Logik', die im
Rahmen der Fundamentalphilosophie (über formale und .Verstan-
des'-Logik hinaus) die Aufgabe zu erfüllen hat, die Kraft dem jeweils
.reicheren System' auflädt?" (28)

Kritisch steht R. Simon-Schäfer der Dialektik gegenüber (42). Er
reduziert ihr Wesen und ihren Sinn auf Darstellung einer Wechselwirkung
bzw. Rückkoppelung (43) und bestreitet, daß dialektisches
Denken etwas Besonderes und ganz anderes im Vergleich zum normalen
analytischen Denken sei. Beides seien komplementäre Verfahrensweisen
(48) ein- und derselben wissenschaftlichen Vernunft.
Außerdem sei die Logik Hegels nicht formalisierbar, d. h. lösbar von
ontologischen Inhalten. So vertritt Simon-Schäfer die Ansicht, „daß
es keine dialektische Logik gibt im Sinne einer kalkulisierbarcn
Methode des Schlicßens" (bei H. S. 48). Was die Dialektik in der
Geschichtsphilosophie anbetrifft, so schreibt Simon-Schäfer: „Zwar
kann die dialektische Triade (These - Antithese - Synthese, F.) nicht
dazu dienen, Voraussagen über die historische Entwicklung zu
machen, jedoch läßt sie sich zur Erklärung abgeschlosssen vorliegender
Entwicklungen verwenden" (bei H. 45).

Weitere Ansätze zur Dialektik-Diskussion besonders um Hegel
sind: Sprachvcrführung und spekulativer Geist der Sprache (so die
Überschrift des Kapitels VII). konkret: „Verführung durch die Mehrdeutigkeit
des Negationsbegriffes" (50) (F. Kainz: Über die Sprach verführung
des Denkens). Neben der Negation hat der Begriff des Widerspruches
umfangreiche Erörterungen gefunden. Während die klassische
Logik ihn zu eliminieren trachtet, sieht ihn die dialektische
Logik in den Dingen selbst. „In diesem Sinne .spitzt' Hegel vieles auf
den Widerspruch hin zu, um dialektisch vorgehen zu können, ohne
daß diese Zuspitzung von der Sache her immer gefordert erscheint.
Der Widerspruch wird dann .konstruiert' (Hegel gerät in die dialektische
Manier)" (73). Zum Studium der Dialektik und ihre Anwendung
wird gesagt, sie sei „in der Praxis ... ein machtvolles Mittel der
Erziehung. Die Dialektik formt eine besondere Denkweise und einen
besonderen Arbeitsstil, die keinen Subjektivismus, keine Erstarrung
und keinen Dogmatismus kennen und allem Neuen, Wachsenden und
Fortschrittlichen gegenüber aufgeschlossen sind" (k60).

Im 2. Teil des ersten Bandes geht es um die Frage: Welche
Sachaporien der Tradition führen auf das Postulat einer dialektischen
Logik? Den äußerst subtilen Ausführungen des Vf. entnehme ich -

beispielsweise - folgende Stichworte: die Subjekt-Objekt-Relation
und ihr entgegen die „dialektische Identität von Denken und Sein"
(215). Weiter sind zu nennen der Freiheitsbegritf und das Universalienproblem
(Realität der Abstrakta) (bes. 229).

Und auch das Mechanismus-Vitalismus-Problem der Naturphilosophie
werde von dialektischer Logik her handhabbar (260ff).

Schließlich werden von der „dialektischen Theologie" her (gemeint
ist der Barth der frühen KD-Bände) Ansätze für dialektisches Denken
aufgezeigt: „Wie nämlich ist Gott .in seiner' Schöpfung zu denken,
wenn er in absoluter Differenz von ihr unterschieden und doch nicht
in schlechthinnige Transzendenz entlassen werden kann?" „Wie ist
Gott als ,gut' zu denken, wenn es trotz seiner liebenden (zur Schöpfung
jasagenden) Allmacht unleugbar das Böse gibt?" „Wie ist
schließlich die Einheit von Gott und Mensch in Jesus Christus zu
denken?" (358) Die Bezugnahme auf K. Barth wird indes zur Kritik
an ihm. H. wirft ihm Tautologie vor (die Wahrheit der christlichen
Religion stehe auf dem bloßen Namen Jesus Christus, KD 1/2, 376,
bei H. 362) und (der Sache nach) Offenbarungspositivismus.

Der zweite Band ist überschrieben: Zum Logos der Dialektik und
zu seiner Logik. Er unterscheidet sich in seiner Art nicht vom ersten
Band. Eine Vielzahl von Sachproblemen wird angeschnitten, aber
dann doch philosophiehistorisch abgehandelt. Es ist nicht möglich,
dies im einzelnen zu referieren. Nur einiges sei herausgegriffen. Unter
der Überschrift .Theorie und Praxis' wird die Unverfügbarkeit
geschichtlich-gesellschaftlichen Handelns betont. „Es bleibt eine
Illusion, anzunehmen, man könne eine geschichtliche Situation in der
Weise zum Bewußtsein bringen, daß von dieser Bewußtmachung an
der Mensch seine Zukunft - sozusagen als Herr der Geschichte - in die
Hand bekäme. Der Grundsatz analytischer Praxis, durch Bewußtmachung
zu motivieren und die Vergangenheit zu überwinden, ist auf
die Geschichte angewendet ein naiver Anspruch .. . Mit alledem ist
gegen eine so weit wie nur möglich durchgeführte Rationalisierung
der menschlichen Zukunft gegen den Unsinn der Geschichte als
.Schlachtbank' (Hegel) nicht das geringste gesagt. . . . Das in dieser
Hinsicht kritisch grcnzbegrifTlich zu zitierende Eschaton christlicher
Tradition, das keine Verabsolutierung eines innerzeitlichen und
inncrgeschichtlichen Zustandes gestattet, erweist sich von unseren
Ausführungen her als wesentlich fundierter als jede Art von Utopie,
selbst wenn sich verlorene Christen an solche Utopien zur Rettung des
Christentums anbiedern" (850-

Wieweit der Horizont der gesteckten Problematik reicht, zeigt, daß
- unter der Überschrift: Ontologische und transzendentale Begründung
der Ethik - auch die Dialektik von Luthers Schrift .Von der Freiheit
eines Christenmenschen' in den Blick kommt (241 ff).

Die hohe Abstraktion zum Logischen, die das Buch im allgemeinen
kennzeichnet (und äußerst schwer lesbar macht), ist gesprengt, wenn
sich H. auch zum Thema Sinn und Fortschritt in der Geschichte
äußert. Mit Hegel verficht H. einen „Fortschritt im Bewußtsein der
Freiheit" und denkt er „Institutionalisierung" der Freiheit und „Vernünftigkeit
des Willkürlichen" (238IT) zusammen. Vom „Rechtsstaat
" und „Weltbürgerrecht" ist die Rede.

Zur Dialektik selbst abschließend dies: H. ist auf Wahrung der
Kontinuität (zu Kant, ja zu Aristoteles) bedacht und sieht Dialektik
nicht erst bei Hegel. Er widersteht dem, den Begriff der Substanz (eines
Beharrenden im Wechsel) in Dialektik untergehen zu lassen. Rehabilitierung
der Substanz ist sein letztes Wort.

Hans-Georg Fritzsche t

Systematische Theologie: Allgemeines

Bauer, Johannes B. [Hg.]: Entwürfe der Theologie. Graz-Wien-Köln:
Styria 1985. 351 S. 8". geb. öS 298.-.

Das Verhältnis von Subjektivität und Objektivität in der Theologie
gehört zu den umstrittenen und ungelösten Fragen. Auch wenn diese