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Ausgabe:

1986

Spalte:

906-907

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Titel/Untertitel:

Widerstand aus Glauben 1986

Rezensent:

Haendler, Gert

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Theologische Literaturzeitung 111. Jahrgang 1986 Nr. 12

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Es würde den Rahmen dieses Referates sprengen, darauf im einzelnen
erläuternd einzugehen. Nur so viel: Ordnung umfaßt in diesem
Denken stets die naturhafte Gottbezogenheit des Menschen im
individuellen und sozialen Sinn, impliziert mithin ein Denken in
(neu)thomistischen Strukturen von Natur und Gnade und dementsprechend
eine analogia entis. Aber wie Delp sich in diesem Rahmen
bewegt, macht die Faszination der hier im einzelnen zu verfolgenden
Konkretionen aus. Zumindest aus heutiger Sicht überschätzte er dabei
wohl die Tragfähigkeit dieses Fundaments, wenn er von da aus 1940
den „Krieg als geistige Leistung" (239-248), den Begriff „Heimat"
(249-269) und das „Volk als Ordnungswirklichkeit" (271-299)
theologisch und kirchlich einzuholen versuchte. Vorallem in dem zuletzt
genannten Artikel kam es dann, eben aufgrund jenes vorausgesetzten
Ordnungskonzepts, zu schlimmen Formulierungen - wie
z.B.: „Volk als Ordnung: das ist Volk als Lebensgrund, Volk als
prüfende Norm, Volk als Träger von bindendem Anspruch und
Recht." (292)

Delps Arbeiten zurGeschichte und Geschichtstheologie schließlich
kreisen - im letzten Teil dieses Bandes - um das Problem der überwältigenden
Herrschaftsmacht Gottes einerseits und der vollen Verantwortung
des Menschen andererseits. Von einer ausgeführten
Geschichtstheologie oder gar -philosophie kann allerdings nicht die
Rede sein; vielmehr.geht es auch hier um christliche Apologetik,
wobei die Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit der Öffnung der menschlich
-geschichtlichen Existenz hin auf die Transzendenz - die sehr
selbstverständlich mit dem biblisch-christlichen Gottesverständnis in
eins gesetzt ist - zu entfalten gesucht wird. In immer neuen Anläufen
umkreist Delp diese Thematik - ohne freilich zu einer klaren,
systematisch durchreflektierten Anwort zu gelangen. Seine Ausfuhrungen
bleiben vielmehr weithin thetisch, bisweilen gewaltsam
konstruiert und sind nicht selten rhetorisch überzogen (vgl. dazu
besonders 475-556). Insgesamt muten diese Beiträge als die schwächsten
unterden nachgelassenen Schriften Delps an.

Einen sehr viel stärkeren, überzeugenderen Eindruck vermitteln
seine Predigten und Ansprachen im dritten Band. Sie stammen alle
aus den Kriegsjahren und kreisen durchweg um das Thema des
wahren und ganzen Menschen, seine Gefährdungen, aber auch seine
Möglichkeiten. Der volle Mensch ist derjenige, der in Gott gegründet
ist: aber er soll und muß nun auch von daher leben. Delp proklamiert
ein ausgesprochen mannhaftes, aktives Christentum. „Das ist die
große Möglichkeit, daß wir durch die Welt gehen als Antwort auf all
die Fragen, die sie hat. Und daß wir als großer Segen empfunden und
gesucht werden." (315) Von daher wendet er sich wieder und wieder
kaum verhüllt gegen den Nationalsozialismus: gegen seine Herrschaft
der Angst, die den Menschen zersetzt (72), gegen die Verabso-
luticrung der Macht (130), die Verabsolutierung des Menschen (56,
69, 258, 282, 290, 4290- Am klarsten und schärfsten wird der Widerspruch
gegen die Euthanasie artikuliert: „Das Volk wird sterben, das
den Menschen sterben läßt, und sei es den Menschen in der
alleräußersten Situation. Es ist Empörung gegen den Menschen, der
durch seine Geburt und sein Dasein allein schon Rechte hat, die ihm
niemand nehmen kann und die niemand anrühren darf, ohne den
Menschen zu schänden und sich selbst zu schänden und sich selbst zu
verachten." (2680 Aber es fehlen auch nicht die Töne der Ange-
fochtenheit, der Bedrohung und der Angst. Von der Einsamkeit des
Christen ist die Rede, von seiner Abdrängung aus der Mitte des
Geschehens. Und davon wird gesprochen, daß alle Fragen noch
einmal durchdacht werden müssen; daß die Zeitgenossen nicht von
theologischen Antworten bewegt werden, wohl aber von der Frage
nach dem Menschen und nach Menschlichkeit und Zukunft. Hier
klingen Themen an, die in ähnlicher Weise Dietrich Bonhoeffcr
beschäftigt haben.

Vieles davon wird im vierten Band (Aus dem Gefängnis) aufgenommen
und weitergerührt. Ein erster Teil (19-147) ist eine Art
Tagebuch, in dem Delps Erfahrungen, Nöte und Ängste ebenso ungeschminkt
wie ergreifend zum Ausdruck kommen. „Dieses Leben

zwischen dem Galgen und dem Wunder braucht viel Kraft." (61) Es
folgen tiefgreifende Meditationen (149-305) über den Menschen, den
Sinn und die Erfüllung des Lebens, über die Hoffnung des Christen
und sein Hängen an Gottes Wort. Das umschließt auch harte Kritik
an der Kirche, an ihrem Anstalts- und Behördencharakter. Aber nicht
allein sie trägt Schuld an der Not der Gegenwart, sondern jeder
einzelne Christ. Was ergibt sich daraus? In den „Reflexionen über die
Zukunft" (307-329) heißt es: „Damit ist gesagt, daß ich die ,rein
religiösen' Bemühungen um den Menschen heute für unfruchtbar
halte, da sie den Menschen nicht in der Fülle seiner Not treffen,
sondern, obwohl sie von der Mitte reden, doch an der Peripherie
bleiben ... Es muß um den Menschen gehen, der an der Straße liegt,
um seine Wiederherstellung und um die Entbindung des innersten
Wertes seines Herzens und seines Gemütes." (3160 Obwohl Delps
katholischer Glaubensgrund gerade auch in diesen Texten unübersehbar
ist und bleibt, gewinnen die Darlegungen in dieser Zeit im
Gefängnis eine derartige Dichte und Tiefe, daß von konfessioneller
Enge oder auch nur Besonderheit keine Rede mehr sein kann. Hier ist
ein Mensch in die Mitte des christlichen Glaubens und Lebens vorgestoßen
und hat dementsprechend Grundfragen der christlichen
Existenz in unserem Jahrhundert so faszinierend wie verpflichtend
ausgesprochen. - Materialien zum Prozeß (336-364), Texte von den
Beratungen im Kreisauer Kreis (365-407) sowie das Urteil des Volksgerichtshofes
(409-434) beschließen diesen reichen Band.

Überblickt man das gesamte, mit guten Einführungen und knappen
Kommentaren vorzüglich edierte Material in diesen Bänden, wird
vollends deutlich, daß sie eine große Einheit bilden. Theologie und
Philosophie. Apologetik, Predigt und Zeugnis umkreisen nicht nur
sachlich überall dieselben Themen, sondern sie sind vor allem durchweg
zusammengehalten und geprägt von der beeindruckenden Persönlichkeit
des Menschen und Christen Alfred Delp. Es bleibt zu
hoffen, daß dieses wichtige wegweisende Erbe aus dunkler Zeit in
unseren Tagen nicht übergangen wird, sondern breite Beachtung und
mehr noch intensive Nutzung finden möchte.

Gießen Martin Grcschal

Drobisch, Klaus, und Gerhard Fischer [Hg.]: Widerstand aus
Glauben. Christen in der Auseinandersetzung mit dem Hitlerfaschismus
. Berlin: Union Verlag 1985.444 S. 8". Lw. M 16,80.

Der Band setzt eine Dokumentation fort, die 1980 unter dem Titel
„Ihr Gewissen gebot es" im gleichen Verlag erschienen war. Die große
Vielfalt des Materials wird in 5 Abschnitte gegliedert. I: Tödliche
Gefahr über unserem Volk. Vom Widerspruch zum Widerstand gegen
die Nazidiktatur 1933-1935; II: Gemeinsamer Kampf tut not.
Aufbegehren gegen Unrecht, Verfolgung und Kriegsvorbereitungen
1936-1939; III: Widersetzt euch der Unmenschlichkeit! Proteste
gegen faschistischen Krieg und Massenmord 1939-1942; IV: Mit
allen Kräften gegen Hitler. Um gerechten Frieden und ein freies
Deutschland 1943-1945; V: Die Chance der Befreiung. Für einen
demokratischen Neubeginn 1945/46. Vorangestellt wurde der Dokumentation
ein Überblick „Christen im deutschen Widerstand
1933-1945" (17-33). Der Band endet mit einer Rundfunkansprache
von Landesbischof Mitzenheim vor den ersten Wahlen in der
damaligen sowjetischen Besatzungszone 1946 (419-422). Die Dokumente
sind dem historischen Ablauf entsprechend geordnet, auch
wenn es sich um Quellen handelt, die erst später gedruckt wurden. An
3 Quellen, die hintereinander stehen, sei das gezeigt. Man liest eine
Mitteilung des Reichsbruderrates der Bekennenden Kirche von Ende
Juni 1937, die dem Kirchlichen Jahrbuch 1933-1944 entnommen
wurde, das 1948 erschien (151-155). Es folgt ein Artikel von Franz
Dahlem über Martin Niemöller, der in der Monatsschrift „Standpunkt
" 1982 gedruckt war, der jedoch Äußerungen der „Deutschen
Volkszeitung" und der „Roten Fahne" zitiert, die 1939 in Paris
erschienen war und auf Niemöllers Verhaftung 1937 Bezug nahm.