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Ausgabe:

1986

Spalte:

899-901

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Titel/Untertitel:

Flugschriften als Massenmedium der Reformationszeit 1986

Rezensent:

Bräuer, Siegfried

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899

Theologische Literaturzeitung 111. Jahrgang 1986 Nr. 12

900

chert, auch sind sogar Erscheinungen des Jahres 1984 berücksichtigt.
Seine vornehme wissenschaftliche Leistung ist nur dadurch wertvoller
geworden.

Cambridge Robert W. Scribner

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Köhler. Hans-Joachim [Hg.]: Flugschriften als Massenmedium der
Reformationszeit. Beiträge zum Tübinger Symposion 1980. Stuttgart
: Klett-Cotta 1981. XII, 636 S. m. Abb. gr. 8° = Spätmittelalter
und Frühe Neuzeit. Tübinger Beiträge zur Geschichtsforschung,
13. Lw. DM 136,-.

Auf dem Höhepunkt der Arbeiten am Tübinger Flugschriftenprojekt
organisierte H.-J. Köhler vom 21.-23. 3. 1980 eine interdisziplinäre
Tagung, deren Referate (teilweise in überarbeiteter Form)
der vorliegende Bd. enthält. In seinem Einleitungsvortrag informiert
der Hg. umfassend über „Fragestellungen und Methoden zur Interpretation
frühneuzeitlicher Flugschriften" (1-27), z.B. über die
Methoden der kommunikationswissenschaftlichen Wirkungsforschung
, der Literatursoziologie und Literaturgeschichte, vor allem
die der quantifizierenden Inhaltsanalyse. Es liegt auf der Hand, daß
der Einsatz dieser relativ neuen wissenschaftlichen Forschungsrichtungen
für die Aufarbeitung des Flugschriftenbestandes vorerst
weitgehend Postulat bleibt, zumal die Terminologie häufig noch
unzureichend durchgeklärt ist (z. B. Abgrenzung der Wirkungs- von
der Rezeptionsforschung). Dem Grundsatzreferat schließen sich
Überblicksreferate an, die vorwiegend den Sachstand bestimmter
Teildisziplinen der Flugschriftenforschung wiedergeben: Michael A.
Pegg: Short Title Catalogues. Notes on Identity of Texts (29-41);
Frederic Hartweg: Buchdruck und Druckersprachen der frühneuhochdeutschen
Periode (43-64, wichtig bes. 61-63: Beobachtungen
zum Nachdruck der 12 Artikel der Bauern). Dem Anliegen, daß
die Flugschrift nur als Teil eines kommunikativen Gesamtprozesses
der Reformationszeit neben dem Hören (Vorlesung, Diskussion,
Gesang), Schauen (Einblattdruck, Buchillustration, Bilderbogen) und
Aktion (Schauspielaufiührungen) zu sehen sind, geht Robert W.
Scribner nach: Flugblatt und Analphabetentum. Wie kam der
gemeine Mann zu reformatorischen Ideen (65-76)? Monika
Rössing-Hager untersucht anhand der Syntax einiger Textausschnitte
von Eberlins 3. Bundesgenossen die Frage: Wie stark findet
der nicht-lesekundige Rezipient Berücksichtigung in den Flugschriften
(77-137)? Sie kann „deutlich Merkmale einer hörerorientierten
Sprache" (135) feststellen. Die Frage, was den nicht-lesekundigen
Rezipienten der Reformationszeit durch Prediger und Autoren tatsächlich
zugemutet werden konnte und auch wurde, wäre einmal umfassender
zu erörtern, um die Wirkung der Flugschriften zu erhellen.
Im allgemeinen Bereich verbleibende Beobachtungen (vor allem auf
G. Freytags Sammlung basierend) enthalten die Darlegungen von
Richard G. Cole: The Reformation Pamphlet and Communi-
cation Processes (139-161). Auf die Unterschiede in den Rezeptionsbedingungen
, zugleich aber auch auf den Zusammenhang der tagesliterarischen
Gattungen bzw. Medien der frühen Neuzeit unter funk-
tionsgcschichtlichem Aspekt weist Peter U kena anhand von Bullingers
Lucretia-Drama hin: Flugschriften und angewandte Medien im
Kommunikationsprozeß zwischen Reformation und Frühaufklärung
(163-169). Durch die wenig eindringende Darstellung und die recht
zufällige Materialbasis(H. Kettenbach, W. Linck,J. Strauß, H. Sachs,
J. Ebcrlin) vermag der Beitrag von Steven Ozment: The Social
History of the Reformation: What can we learn from Pamphlets
(171-203) wenig Neues zu der interessanten Frage beibringen. Tiefer
lotet das an der Konzeption von der frühbürgerlichen Revolution
orientierte Referat von Adolf Laube: Zur Rolle sozialökonomischer
Fragen in frühreformatorischen Flugschriften (205-224). Das Ergebnis
(224: „Sozialökonomische Reformvorstcllungen gehören ebenso
wie politische zum Wesen der Reformation und können nicht künstlich
von den religiös-theologischen getrennt werden."), so wenig überraschend
es ist, stellt dennoch die herkömmliche Auffassung vom
Wesen der Reformation in Frage. Erste und vorerst auch noch wenig
ergiebige Erkenntnisse enthält der Bericht von Juliane Marschalk
über eine Pilotstudie am Historischen Seminar der Universität
Münster zur „Argumentation mit Geschichte in frühneuzeitlichen
Flugschriften" (225-241), bei der reformatorische Quellen quantifizierenden
Auswertungsmethoden unterzogen werden. Der buchgeschichtliche
Vortrag von Erdmann Weyrauch: Überlegungen zur
Bedeutung des Buches im Jahrhundert der Reformation (243-259)
markiert den Forschungsstand auf diesem Gebiet. Mit Bernd
Moetiers Referat: Einige Bemerkungen zum Thema: Predigten in
reformatorischen Flugschriften (261-268), der über die Gattung der
Predigtsummarien in den Flugschriften informiert, beginnt die Reihe
der Beiträge, die sich bestimmten Flugschriftengruppen zuwenden.
Heiko A. Oberm an, von dem inzwischen weitere Beiträge zur Sache
vorliegen, arbeitet heraus, daß die Judenfrage in den Flugschriften als
Epochenspiegel zu verstehen ist und diese Literaturgattung als Steue-
rungsinslrument in der Art der mittelalterlichen Bußpredigt verwandt
wurde (269-284: Zwischen Agitation und Reformation: Die Flugschriften
als .Judenspiegel'). Einen in dieser Form neuen Überblick
über „Jan Hus und der Hussitismus in den Flugschriften des ersten
Jahrzehnts der Reformation" (291-307) gibt Siegfried Hoyer. Von
Bedeutung ist u. a. der Hinweis, daß Quellen und Berichte über die
Taboritcn in der reformatorischen Hussitismusrezeption keine Rolle
spielten (307). Die bislang zu wenig beachteten 1 5 Flugschriften über
das Täuferreich in Münster analysiert Günter Vogler (309-351). Er
weist daraufhin, daß die druckgraphische Titelgestaltung als Mittel
verwendet wurde, um auf die zeitgenössischen Leser einzuwirken. Für
die bekräftigenden Titelworte wie „wahrhaftig" oder „glaubwürdig"
ist allerdings anzunehmen, daß sie schon formelhaften Charakter
hatten. Dem astrologischen Schrifttum wendet sich Max Steinmetz
mit seiner Untersuchung „Johann Virdung von Haßfurt, sein Leben
und seine astrologischen Flugschriften" zu (353-372), die nicht nur
die Kenntnis des altgläubigen Heidelberger Astrologen fördert,
sondern auch die Bedeutung der Astrologie für die Reformation eingrenzt
. Hans-Georg Rott führt den Nachweis, daß sich die unter dem
Pseudonym Pacatius erschienene lateinische Flugschrift (384-395
Faksimilcwiedergabc) wohl gegen Capito und Zell richtete und wahrscheinlich
von den konsequenten Lutheranhängern Lukas Hacklürt
oder Nikolaus Gerbel verfaßt worden ist (373-395: Radikale und
gemäßigte Evangelische im Kampf um Straßburg: das „Judicium" des
Pacatius von 1523). Hildegard Hebenstrei t-Wi I fert, die eine
vollständige Sammlung der Märtyrerfiugschriften ankündigt, stellt die
22 Flugschriften über die Brüsseler Märtyrer, die 1 1 über Kaspar
Tauber und die 5 über Johannes Heuglin vor und arbeitet vor allem
die gattungseigenen Züge (Märtyrerverhaltcn angesichts des Todes,
Beglaubigung des Berichts durch den Verfasser, Angabe des Zweckes
der Veröffentlichung) heraus (397-446). Wertvoll ist der bibliographische
Anhang (428-446). Der umfangreiche Beitrag „Die Beschreibung
und Verzeichnung alter Drucke. Ein Beitrag zur Bibliographie
von Druckschriften des 16. bis 18. Jahrhunderts" von
Christoph Weismann (447-614) ist eine Einheit für sich. Er
besteht aus grundsätzlichen Ausführungen zum Stand der Biblio-
graphik als Teil der historischen Quellenkunde und Richtlinien für
die Beschreibung von Druckschriften des angegebenen Zeitraumes in
zwei Varianten (ausgeführte Form und Kurzform der Druckbeschreibung
) sowie einigen Beilagen (z. B. Verzeichnis der Fachbegriffc und
Prinzipien zur Erstellung von Druckverzeichnissen). Eine separate
Veröffentlichung hätte sicher besser dazu beigetragen, daß die wertvollen
Hinweise und Materialien künftig ihre gebührende Beachtung
finden. Der großzügig ausgestattete Bd. wird durch ein Personen- und
Ortsregister abgeschlossen. Leider ist zu befürchten, daß durch inzwischen
vorgenommene Sparmaßnahmen das Tübinger Flugschrift-