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Ausgabe:

1986

Spalte:

67-70

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Wenz, Gunther

Titel/Untertitel:

Geschichte der Versöhnungslehre in der evangelischen Theologie der Neuzeit, Bd. 1 1986

Rezensent:

Koppehl, Thomas

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Theologische Literaturzeitung III. Jahrgang 1986 Nr. 1

68

Systematische Theologie: Dogmatik

VVenz, Gunther: Geschichte der Versöhnungslchrc in der evangelischen
Theologie der Neuzeit. Bd. I. München: Kaiser 1984.476 S.
gr. 8"= Münchener Universitäts-Schriften. Fachber. Evang. Theologie
. Münchener Monographien zur historischen u. systematischen
Theologie, 9.

Die hier vorgelegte Geschichte der Versöhnungslehre ist eine erweiterte
Fassung der Habilitationsschrift des Autors. Sie stellt in exemplarischer
Auswahl die Entwicklung des VersöhnungsbegrilTs innerhalb
der deutschen evangelischen Theologie dar. Der Verfasser sieht
sie in enger Beziehung zur Geschichte neuzeitlichen Strebens nach
menschlicher Autonomie.

Den Ausgangspunkt der Arbeit bilden die beiden klassischen
Geschichtsdarstellungcn des 19. Jahrhunderts auf dem Gebiet der
Versöhnungslehre, die F. Chr. Baurs und A. Ritschis. In ihrer Gegensätzlichkeit
eröffnen diese Darstellungen den geistigen Horizont, der
es dem Verfasser ermöglichen soll, aus einem „bestimmten(r) herme-
neutischen(r) Schwebezustand" (25) heraus dem Versöhnungsgedanken
zu folgen; d. h.: Weder soll der „materiale(r) Gegenstand in
der Weise unmittelbarer Sich-selbst-Gleichheit" vorausgesetzt werden
noch zum „bloßen Mittel kritisch-konstruktiver Sclbstauslegung
des Interpreten" (25) herabsinken. Beide Verlähren wären „dem Verdacht
bloßer Standpunktbedingtheit" und „positioneller Selbstdurchsetzung
" (25) preisgegeben. Die Alternative dazu ist Für den Verfasser
jedoch nicht eine „rhapsodische Aneinanderreihung von bestimmten
Vorstellungsgehaltcn" (24). Vielmehr geht es ihm um ein kritisches
Konstruieren der neuzeitlichen Entwicklung des Versöhnungsgedankens
, die mit der Entwicklung des Bewußtseins der Moderne verbunden
ist. Dieses Bewußtsein versteht sich im Kontext einer „Geschichte
sich realisierender Freiheit" (30), so daß dem Zusammenhang von
Versöhnungsichre und neuzeitlichen Freiheitsbewußtscin das eigentliche
Interesse des Verfassers gilt. Die Geschichte der Versöhnungslehre
soll als eine Geschichte neuzeitlicher Emanzipation verstanden
und dargestellt werden. (30) Bezeichnenderweise ist Emanuel Hirsch
nach dem Urteil des Verfassers der eindrucksvollste Darsteller eines
so verstandenen „theologiegeschichtlichen Prozesses neuzeitlicher
Emanzipation". (13)

Das Herzstück des hier zu rezensierenden ersten Teils bildet die
Konzeption G. W. F. Hegels. Er hat als erster in der „Struktur der
Sclbstexplikation im anderen" den „vollen Begriff der Subjektivität
erfaßt" (286) - „das Subjekt erlangt seine adäquate Verfassung erst im
Durchgang durch das Scheitern unmittelbarer Selbstbestimmung"
(284). Weigert sich die Subjektivität, diesen Durchgang zu vollziehen,
und strebt sie danach, in unmittelbarer Selbstbestimmung zu verweilen
, ist sie sündig. (418)

Die Herausbildung dieses Gedankens unmittelbarer Selbstbestimmung
(vgl. 183; 200; 231) und seine Auswirkungen auf die Versöhnungslehre
beschreiben die ersten drei Abschnitte. Dabei kommt es zu
der merkwürdigen Konstellation, daß die Darstellung der Versöhnungslehre
der Neuzeit nach kurzer Skizzierung einer Vorgeschichte
(Anselm, Luther, Orthodoxie) für den Verfasser mit der Negation der
zentralen Aussagen der kirchlichen Versöhnungslehre durch den
häretischen Ansatz der Sozinianer beginnen muß. Zugunsten sittlicher
Selbständigkeit und aus der moralischen Sorge, die ja bereits in
der Reformationszeit laut geworden war, daß der „Christ .auf Christi
Kreide zeche'" (89), bestritten die Sozinianer jegliche Übertragbarkeit
von Verdienst, Schuld und Strafe von einem Menschen auf den anderen
und damit auch die Zurechenbarkeit des Verdienstes Christi. Der
Verfasser zeigt eindrücklich, wie diese grundsätzliche Verneinung des
Imputationsgcdankens bis ins 19. Jahrhundert hinein unter vielerlei
Modifikationen immer wiederkehrt. Verbunden ist damit eine Individualisierung
, ja Privatisierung, des Subjekt- wie desGottesbegrilfs.

Dagegen richtet sich die Kritik des Hugo Grotius und der Arminianer
. Gott als prineeps und rector mundi muß zur Aufrechterhaltung

der öffentlichen Ordnung sowie zur Besserung der Menschheit
strafende Vergeltung ühen. Will Gott die öffentliche Ordnung
aufrechterhalten, dann kann er den Übertreter dieser Ordnung nur
dann von der Gültigkeit des Gesetzes dispensieren, wenn dieser nach
Tugend strebt und sich die ihm rechtmäßig zustehende Strafe verdeutlicht
. Diese Strafe wird dem Sünder in dem Strafcxcmpel am Kreuz
vor Augen geführt.

Im Unterschied zu den Sozinianern hat bei Grotius das Handeln
Gottes also immer eine öffentlich-rechtliche Dimension. Doch
diesem Unterschied steht eine fundamentale Gemeinsamkeit gegenüber
: die strikte Ablehnung des Imputationsgcdankens und die Beförderung
einer Tugend, die Bedingung der Heilsgewißheit ist. Damit ist
das Terrain Für die folgende Entwicklung abgesteckt. Mit angemessener
Gründlichkeit zeigt der Verlässer, wie in der Zeit von Pietismus
und Neologie, deren Verwandtschaß an Conrad Dippel alias Christianus
Democritus anschaulich wird, die Strafcxempelthcorie von
Grotius als die orthodoxe Lehre (!) entweder verteidigt oder destruiert
wird.

Gegenüber allem eudämonistisch ausgerichteten Tugendstreben
wird Kants Rückgang auf das Gesetz als alleinige Triebkraft der Sittlichkeit
vom Verlässer als Fortschritt verzeichnet. Auf dieser Grundlage
bahnt sich im Denken Tieftrunks die Überwindung unmittelbaren
Selbstbewußtseins an. An die Stelle der gebotenen Achtung
tritt die Liehe zum Gesetz. Die Liebe ist „vom Bewußtsein getragen,
sich nach vollzogener Hingabe (sc. an das Gesetz; d. Vf.) im anderen
wiederzufinden und so zu sich selbst zu gelangen". (254f) In Hegels
wissenschaftlichen Entwicklungsgang faßt sich das Bisherige zusammen
. Auf dem Hintergrund der Ausbildung des „vollen Begriffs der
Subjektivität" (286) kommt es bei ihm zur völligen Neugestaltung der
Versöhnungslehre. Sie steht im Widerspruch zu der im Spannungsfeld
Socin-Grotius erfolgten Entwicklung von Versöhnungslehre und
neuzeitlichem Subjektivitätsverständnis. Gegen alle Regeln traditioneller
Ontologie geht Gott in die Endlichkeit bis zur tödlichen Negation
seiner selbst ein, um sich nun seiner selbst bewußt wieder in die
Unendlichkeit zu erheben. Im Verständnis dieser so konzipierten
Geschichte Gottes fallen für Hegel Trinitätslchre, Christologie und
Soteriologie in eins. Die Grundstruktur dieser Geschichte ist am
Modell des Erkenntnisaktes konstruiert. In diesem Zusammenhang
konstatiert der Verfasser eine „Ambivalenz der Hegeischen Systemverfassung
" (337), deren Auswirkungen an den Hegel folgenden
spekulativ-theologischen Entwürfen gezeigt werden. In dem Maße
nämlich wie das Subjekt vor seiner Bewegung in reiner Potcntialität
befindlich gedacht wird, droht sich die „Theorie absoluter Rclationa-
lität" in den „Ungedanken einer Beziehung ohne Bezogene" aufzulösen
(287; vgl. die Interpretation Wagners bei Wenz288f). In dem
Maße aber wie das Subjekt vor seiner Bewegung substantiell gedacht
wird, wird nicht „der Begriff bedingungsfrei sich produzierender
Selbstbcziehung" (286) erreicht, sondern ein autarkes Subjekt vorausgesetzt
, das das andere nicht notwendig zu seiner Selbstkonstituierung
bedarf. Selbst Hegel bleibt an diesem „Begriff in sich identischer
Subjektivität orientiert" (337), bei dem ein wirkliches Überschreiten
zum Konkreten und anderen hin weder notwendig noch möglich
ist.

Schleiermachers Bedeutung liegt demgegenüber darin, „daß er das
Individuelle, Besondere nun wirklich als das .starke andere' des Allgemeinen
zur Geltung zu bringen versuchte" (359). Dennoch fallt er
dem Verfasser hinter Hegel zurück, da er „das Kreisen leerer Selbst-
bezüglichkeit . . . letztlich nicht durchbrochen" zu haben scheint
(347). Das gilt in jeweils modifizierter Form auch für die auf Schleicr-
macher folgende Erweckungstheorie und ihr Umfeld. Von De Wette
über Tholuck bis zu J. Müller wird eine Steigerung in der Wahrnähme
endlichen und sündigen Daseins im Verhältnis zur Wirklichkeit der
Versöhnung sichtbar. Julius Müller erkennt im Bösen das durch keinen
dialektischen Prozeß zu vermittelnde Rätsel der sündigen Existenz
des Menschen. Dem stellt der Verfasser die These Hegels vom
Bösen gegenüber, die nach seinem Urteil eine „fundamentale Kehre