Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1986

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Titel/Untertitel:

Neuerscheinungen

Ansicht Scan:

Seite 1

Download Scan:

PDF

b?

Theologische Literaturzeitung III. Jahrgang 1986 Nr. I

66

unauflösbaren Beieinander von Erfahrung des Negativen und Sehnsucht
nach Befreiung, Versöhnung, Erlösung behaftet; daß aber die
Hoffnung auf Erlösung als solche A. mit christlichem Glauben und
christlicher Theologie verbindet. Die Rezeption A.s durch die Theologie
stecke erst in den Anlangen - was nicht zuletzt in den immensen
Schwierigkeiten begründet liegt, die insbesondere das philosophische
Spätwerk A.s für das Verstehen bereitet.

Nach einer Einleitung sind zwei Hauptteile der Darstellung der einschlägigen
Gedanken A.s gewidmet. In Teil A „Zur Denkpraxis negativer
Dialektik" macht der Vf. deutlich, daß A. bewußt auf jede Form
eines Systems verzichtet, weil er davon ausgeht, daß Begriffe, Systeme,
Theorien die Wirklichkeit allemal vergewaltigt haben. Vielmehr geht
es A. darum, durch „Konstellationen", das sind erhellende Zusammenordnungen
von Elementen erfahrener Wirklichkeit, diese Wirklichkeit
in ihren Verflechtungen in den Blick zu rücken, und zwar als
Wirklichkeit eines unverrechenbar „falschen Zustands", des Todes,
wofür Auschwitz unübcrholbares grauenvolles Symbol und zugleich
»Sitz im Leben" der Erkenntnis ist. Nur „negative Dialektik", die im
Gegensatz zu Kant und vor allem zu Hegel die Wirklichkeit bei ihrer
Nicht-Identität behaftet, wird dem „Vorrang des Objekts" wirklich
gerecht. Solche absolute Entfremdung ist ein gcsellschaftlich-natur-
hafter Zustand, dem auch nicht durch verändernde Praxis beizukommen
ist. Allerdings; Wo die Radikalität des Negativen ausgehalten
w'rd, leuchtet eben darin - sozusagen auf dem Scheitelpunkt der
Negation - der Schein des „Scheinlosen": Erlösung als Hoffnung
auf.

Teil B „Konstellationen inverser Theologie" versucht dann nachzuzeichnen
, wie A. materialiter das Beieinander von absolut Negati-
vcm und Aufleuchten von HofTnung füllt. Ein entscheidendes
Moment ist hier A.s Zusammenschau von menschlicher Geschichte
und Natur als Naturgeschichte, und zwar unter dem Gesichtspunkt
d»r Vergänglichkeit, des „Vergängnisses"; sodann seine Beurteilung
der Aufklärung, die der aus dem Mythos (Odysseus!) hervorgegangene
Versuch einer Beherrschung der Naturgewalt ist, der aber selbst - und
zwar im Zuge der „Selbstkonstitution der Subjektivität" als einem
neuen Mythos - zu neuen Formen der Unterdrückung, der Entfremdung
, des Grauens geführt hat. Das Aufscheinen von Erlösung inmitten
solcher Entfremdung ist nicht begrifflich fixierbar. Es gilt das
»Bilderverbot"; die Vermenschlichung Gottes im Christentum, die
Versöhnung als bereits gegebene behauptet, ist das „proton pseudos"
des Christentums (133), dem die messianischc Eschatologic jüdischen
Glaubens vorzuziehen ist. Das Denken hat erdverhaftet zu bleiben, im
Schatten auszuharren. Denn: „Dem Schatten nachzudenken - inverse
Theologie - heißt... für A. dem Lichte dienen. Das ist die Denk-
Praxis negativer Dialektik, die sich ans Bilderverbot hält." (136)
Solchem Licht, solcher aufscheinenden Erlösung, solchem „Mehr"
Ur>d „Anderem" als Grund und Ziel der Welt wird eher die Kunst als
die Philosophie inne, insbesondere die Musik (1451T; hier bezieht sich
der Vf. auf die ästhetische Theorie A.s; vgl. schon den Exkurs S. I OOfT)
~ nicht freilich im Sinne einer Form von Sclbsterlösung (so der Vorwurf
von theologischer Seite), sondern eines Widerfahrnisses, wie es
s'ch schon in der Schönheit der Natur anzeigen kann. Mit Kafka hat
gemeinsam: „Die Hoffnung erneuert sich aus ihrem Gegenteil, weil
geglaubt wird, daß das, was ist, nicht alles ist." (170)

■m dritten Teil des Buches (C „Modellanalysen als Konfrontation
von Theologie und .negativer Dialektik'") konfrontiert der Vf. den
Genkweg A.s mit drei'Konzeptionen evangelischer Theologie des
20. Jahrhunderts: P. Tillich, J. Möllmann, E. Jüngcl. Im Unterschied
zu A, nimmt Tillich das Zweideutige der Vernunft in eine umfassende
Ontologie (entschärfend) zurück, wobei entscheidend die im Neuen
Sein Jesu als des Christus gegebene, alles Negative überholende Ant-
w°rt ist, was von A: her als „listigste Form der Kunst menschlicher
Se'bstcrhaltung" erseheint (204). Solcher „Logik der Selbstcrhaltung
mittels ... der List der Vernunft" ist - in der Sicht A.s - auch J. Molt-
mann nicht entronnen, wenn er das analogiclose Ereignis der Auf-

erweckung Jesu als Grund göttlicher Verheißungsgeschichte ansieht
(214-216), und wenn er von da aus zu ethischen Appellen kommt
(246). Auch E. Jüngels Versuch, Gott als den „Abwesend-Anwesenden
" zu denken, der sich im Wort dem Glauben zuspricht, und damit
alles Identitätsdenken zu brechen, wird - im Lichte A.s - dem Naturhaft
-Negativen nicht gerecht, das sich auch noch und gerade im Glauben
(als Aberglaube! 280), in der menschlichen Sprache, in der Theologie
manifestiert, deren Differenz zu Gott bzw. dem Evangelium von
Jüngel letztlich verwischt wird (291 0.

In einem abschließenden Teil (D „Die Relevanz, der Denkpraxis
A.s für eine systematische Theologie") fordert der Vf. eine Theologie,
die die Wunden offenhält, die nicht vordergründig auf Umsetzung in
die Praxis drängt (weil das schon eine falsche, die Kritik störende Festlegung
wäre, 302). die sich von religiöser Erfahrung darin unterscheidet
, daß sie nicht die Wirklichkeit der Gnade, sondern ihre Notwendigkeit
darlegt und diese an der Trauer der Menschen ausarbeitet.
Eine solche Theologie hätte die Aporien des Menschscins und in
diesem Sinne das „Gesetz" darzulegen, das ..naturgeschichtliche
Moment" als „Widerpart jeder begrifflich konsistenten Definition des
Menschen" (316) nicht zu überspielen, und sie darf die Hoffnung des
Glaubens nicht mit dem „Optimismus des Machbaren" verwechseln
(319).

Die Arbeit des Vf. ist ganz zweifellos ein wichtiger Beitrag zur
Weiterführung und weiteren Anregung des notwendigen Gesprächs
der Theologie mit Th. W. Adorno. Ein Verdienst dürften schon die
referierenden Partien sein, die - in ihrer Verstchbarkcit. die aber die
Probleme nicht verschleiert - eine echte Hilfe zur Erschließung insbesondere
des philosophischen Spätwerkes A.s darstellen. Die theologische
Dimension dieses Denkens tritt dabei erstaunlich plastisch heraus
. Daß der Vf. in der Konfrontation A.s mit drei evangelischen
Theologen des 20. Jahrhunderts die Theologie kritisch auf ihre
Gefahr, der Fraglichkeit der entfremdeten Welt nicht in zureichendem
Maße standzuhalten, anspricht - ebenso darauf, daß das
Geheimnis Gottes in darstellend-begrifflicher Sprache im Grunde
nicht cinholbar ist - macht deutlich, daß A. der Theologie einen wirklichen
Dienst leisten kann. Die Frage, die nach der Lektüre zurückbleibt
, ist: Gibt es eigentlich keine Rückfragen der Theologie an
Adorno? Der theologische Nerv der Kritik des Vf. an Tillich. Möllmann
und Jüngel - wobei der Vf. sich voll auf den Standpunkt A.s
stellt - scheint mir in die Richtung einer Bestreitung des Perfektums
der Erlösung zu gehen, wie sie der christliche Glaube in Jesus Christus
bekennt und wie sie die Theologie (als Funktion der bekennenden
Gemeinde) nachzusprechen und verstehbar zu machen hat. Kann
aber christliche Theologie - wenn sie dem Bekenntnis des christlichen
Glaubens entsprechen will - sich mit einer messianisehen Eschatolo-
gie einer lediglich ausstehenden, allenfalls als Hoffnung einmal aufblitzenden
Erlösung zufriedengeben, ohne den Grund dieser Hoffnung
in der Erlösung, die in Leben. Tod und Auferwcckung Jesu von Naza-
reth geschehen ist, zu explizieren? Und muß christliche Theologie
nicht dabei bleiben, daß solche geschehene Erlösung auch heute verwandelnd
, Entfremdung lösend wirkt sowie auf den Weg zum Handeln
im Namen dieser Erlösung führt, um Zeichen zu setzen für die
neue, erhoffte Welt Gottes? Darin liegen zugleich wohl unvermeidliche
kritische Rückfragen der Theologie an den Philosophen, Soziologen
und Ästhetiker Adorno. Theologische Arbeit sollte gewiß nicht
ausschließlich, aber sie sollte doch - um Gottes und der Welt willen -
sehr wesentlich auch und gerade dem Lobpreis des Glaubens an die
geschehenen großen Taten Gottes nachdenken und ihn zum Verstehen
bringen.

Wien/Leipzig Ulrich Kühn

Pöhlmann. Horst Georg [Hg.]: Worin besteht der Sinn des Lebens? Gütersloh
: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn 1985. I60S. 8' = GTB. Siebenstern,
1087. Kart. DM 12.80.

Sanders. Andy F.: Religion and Science as Cultural Systems: Polanyi's View
ifthe ProblemofMcaning(NZSystTh 27, 1985 S. 85-99).