Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1986

Spalte:

853-855

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Schwager, Raymund

Titel/Untertitel:

Der wunderbare Tausch 1986

Rezensent:

Wenz, Gunther

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

853

Theologische Literaturzeitung III. Jahrgang 1986 Nr. 11

854

Systematische Theologie: Dogmatik

Schwager. Raymund: Der wunderbare l ausch. Zur Geschichte und
Deutung der Erlösungslehre. München: Kösel 1986. 327 S. 8".
Kart. DM 34.-.

In seinem Werk «La violence et le sacre» (Paris 1972) vertrat der
französische Literaturwissenschaftler und Fthnologe Rene Girard die
These, die sakral regulierte Entladung sozialer Aggressionspotentiale
auf ein zufällig gewähltes Ersatzobjekt sei der einheitliche Ursprungsvorgang
zur Befriedung und Stabilisierung des gesellschaftlichen
Zusammenlebens. Während die menschliche Aggressivität aufgrund
ihrer mimetischen Struktur von Natur aus zu unkontrollierter
Wechselseitigkeit, zum bellum omnium contra omnes neige, werde
durch den sog. Siindcnbockmechanismus die diffuse Gewalttätigkeit
auf ein Opfer konzentriert mit der Folge, daß die Reziprozität der
Gewalt zumindest zeitweise unterbrochen und bis auf weiteres friedliche
Koexistenz ermöglicht werde. Am Beispiel kollektiver Opferriten
der Religionen, die er allesamt dem Sündenbocksyndrom nachgebildet
findet, versucht Girard diesen Zusammenhang im einzelnen
zu erläutern. Bemerkenswert ist dabei u. a. der Hinweis auf die stets
ambivalente Einschätzung des Opfers, das als Inbegriff sowohl des
Fluches, als auch des Heils, des Todes und des Lebens gelte.

R. Schwager. Professor für Dogmatische Theologie an der Universität
Innsbruck, hat es sieh zur Aufgabe gemacht, die Bedeutung der
Girardschcn Hypothesen überdie Mechanismen dcrCiewall und ihrer
Nachahmung sowie über die soziokulturellc Funktion des sakralen
Opfers im Kontext jüdisch-christlicher Tradition näher zu begründen
und theologisch zu entfalten. Diesem Zweck diente bereits die 1978
publizierte Studie mit dem signifikanten Titel ..Brauehen wir einen
Sündenbock7". in welcher die Thematik von Gewalt und Erlösung in
den biblischen Schriften untersucht wurde mit dem Ziel, zunächst die
alttestamentarische Entwicklung vom Gott der Rache zum Gott des
Friedens nachzuzeichnen, um sodann das neutestamentliche Zeugnis
von Jesus als dem Sündenbock der Welt darzustellen.

Die Beiträge zur Geschichte und Deutung der Frlösungslehrc wollen
als dogmen- und theologiehistorische Fortsetzung dieses herme-
neutisehen Programms gelesen werden. In zehn Tcilstudicn. die zwar
unabhängig voneinander entstanden und zwischen 1980 und 1986
jeweils gesondert in der „Zeitschrift für Katholische Theologie" veröffentlicht
worden sind, die aber gleichwohl von Anläng an als zusammenhängende
Arbeit konzipiert waren, werden einflußreiche Erlö-
sungssysteme der kirchlichen Tradition analysiert, um die Intcgra-
tionslähigkcit und innovative Kraft der Girardschcn Grundannahmen
, die einleitend (8ff) kurz skizziert werden, zu erproben.

Sch. setzt ein mit der Auseinandersetzung zwischen Markion und
Irenäus (lOfTJ, dessen Rekapitulationstheoric in gewisser Weise die
erste systematisierte Sotcriologie christlicher Tradition darstellt. Fs
folgt eine Untersuchung der altkirchlichcn Motive vom Höllcnabstieg
Christi, vom Teufelsbctrug und von dem an Satan erstatteten gerechten
Lösepreis (32 ff). Als herausragende Repräsentanten einer auf die
inkarnatorischc Überwindung der den Menschen umfangenden tödlichen
und teuflischen Vcrdcrbcnsmächte konzentrierten Erlösungslehre
werden sodann Athanasius (54ff) und Gregor von Nyssa (77IF)
vorgestellt. Bereits im Blick auf die soteriologischen Konzepte der
Väterzeit kann Sch. deutlich machen, daß die Frage der Vcrmittclbar-
keit der Freiheit des einzelnen mit seiner vorgegebenen, gewissermaßen
naturhaften Bestimmtheit zum Bösen ein, wenn nicht das entscheidende
Problem christlicher Sotcriologie darstellt. Mit gutem
Grund steht daherdie Freiheits- bzw. Unfreiheitsproblematik im Zentrum
seiner weiteren Untersuchungen. Im Zusammenhang der augu-
stinischen Auseinandersetzung mit Pelagius (101 ff) wird zunächst die
notwendige Krise des griechischen Padcia-Gedankcns dargestellt,
dem auch die altkirchlichcn Theologen weithin verhaftet blieben,
wenngleich sie stets auch, wie Schwager herausarbeitet, eine jeder Erziehung
und freien Entscheidung vorauslicgendc Einwirkung des

menschgewordenen Logos auf die gesamte Menschheit betonten. Eine
Erlösungslchrc als Ethik menschlicher Nachahmung des Logos bzw.
der Angleiehung an Gott jedenfalls - so die entscheidende systematische
These - ist hamartiologisch zu harmlos, um soteriologisch hilfreich
zu sein. Das ungelöste Problem Augustins. wie das unbedingte
Zuvorkommen göttlicher Gnadenwahl mit der Freiheit menschlicher
Entscheidungstat zusammenzudenken sei, führt sodann zu der an
Maximus Confessor (I35IF) exemplarisch erörterten Fragen, wie die
Freiheit des vom Logos angenommenen Mensehen, näherhin: Wiedas
Zusammenwirken göttlichen und menschlichen Willens in Jesus
Christus genau zu begreifen sei. Bei aller Würdigung des Bemühens,
die menschliche Freiheit des Erlösers zur Geltung zu bringen, erachtet
es Sch. als eine bleibende Grenze der Zwci-Willen-Theoric des
Maximus. daß er keinen urteilenden Willen im Menschen Jesus anerkennen
konnte, ohne ihn vom Willen des Logos loszutrennen.

Mit den Aporien der Systeme von Augustin und Maximus ist die
Problemkonstellation für alles weitere gegeben: Schwagers dogmatisches
Interesse, das er in Auseinandersetzung mit der Satisfaktions-
lehre Anselms (161 IT), der Straflcidenstheorie Luthers (I92ff). der
monumentalen Versöhnungskonzeption der Kirchlichen Dogmatik
Karl Barths (232ff) sowie der „Theodramatik" Hans Urs von Balthasars
(273ff) zur Geltung zu bringen sucht, ist es, zunächst im Binnenbereich
der Christologie die Vermittelbarkeit göttlicher und menschlicher
Freiheit zu begründen und sodann pneumatologisch deutlich zu
machen, daß die mit Jesus Christus gegebene-göttliche Gabe dem
Menschen nicht äußerlich vorgegeben, sondern als Gabe zugleich
dem selbsttätigen menschlichen Freiheitsvollzug übergeben ist. Durch
die in Jesus Christus manifeste Gabe kommt der Mensch also recht
eigentlich zum Bewußtsein seiner selbst und seiner Freiheit, die er von
sieh aus gerade nicht zu erfassen vermag, weil das menschliche Individuum
„von Natur aus" im Banne des Bösen steht und sein Tun immer
schon verstrickt ist in den zwicträchtigen Zusammenhang des Reiches
der Sünde (vgl. Kant, Schleicrmachcr, Ritsehl u. a.). In diesem Sinne
will Sch. denn auch die altkirchliche Idee vom siegreichen Kampf
Christi gegen den Satan nicht als Mythologie verabschieden, sondern
dezidiert festhalten. Allerdings sei unter dem Satan weniger eine
eigenständige fremde Gestalt zu verstehen, als vielmehr jener den einzelnen
Individuen weitgehend verborgene Untergrund menschheitlichen
Trachtens, wie er in jenem kollektiven Wahn der Gewalt manifest
ist, der am Kreuz des Sündenbocks Jesu - im doppelten Sinne des
Wortes-endgültig sich ausgewirkt und ausgelebt hat.

Diese dogmatisch elementare Gedankenfolge versucht Sch., wie
gesagt, in eindringlichen Analysen der soteriologischen Konzeptionen
Anselms, Luthers. Barths und Balthasars unter ständigem Bezug auf
die Hypothesen Girards im Detail zu profilieren. Mit Recht grenzt er
sich dabei gegen einen theologischen Begriff der Freiheit Gottes als
arbiträrer Willkür und gegen eine abstrakte Vorordnung des Prädestinationsgedankens
vor die Inkarnations- und Erlösungslchrc ab und
fordert, den christlichen Gottesgedanken trinitarisch, nämlich konsequent
aus dem Zusammensein göttlicher und menschlicher Freiheit
zu entwickeln, welches Zusammensein Jesus Christus in Person ist.
damit es im Geiste prinzipiell für das Heil aller Menschen aufgeschlossen
sei. Was der katholische Dogmatiker Sch. in diesem Zusammenhang
etwa zum Verhältnis von deus absconditus und deus
rcvclalus bei Luther oder zum Verhältnis von absolut-souveräner
göttlicher Selbstcntsprechung und menschlichem Gehorsam bei Karl
Barth sagt, ist auch und gerade für den evangelischen Theologen
höchst lehrreich und bemerkenswert.

Zu wünschen wäre, daß Sch. seine eindrucksvollen Grundgedanken
zu einer soteriologisch orientierten Freiheitstheologie alsbald auch in
streng systematischer Form und in eigenständiger begrifflicher Entwicklung
darlegt. Insbesondere das Verhältnis von göttlicher Freiheitsgabe
und menschlicher Wahlfrcihcit. auf welcher Schwager nachdrücklich
insistiert, müßte m. E. noch präziser gefaßt werden. Sehe
ich recht, so hat der Begriff der Wahlfrcihcit vor allem die Funktion,
die menschliche Zurechenbarkeit der Sünde zu garantieren und die