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Ausgabe:

1986

Spalte:

839-841

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Canévet, Mariette

Titel/Untertitel:

Grégoire de Nysse et l'herméneutique biblique 1986

Rezensent:

Treu, Kurt

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Theologische Literaturzeitung 111. Jahrgang 1986 Nr. 11

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wird jedoch einem angekündigten anderen Werk vorbehalten. Bis
dahin muß man sich mit einem Bericht von Otto Schmitz aus dem
Jahr 1951 als Probe begnügen.

Das Buch bringt also sehr viel, auch neue Quellen, von denen insbesondere
die studentischen Briefberichte einen anschaulichen Einblick
„von unten" in die Atmosphäre der Hochschule gewähren. Die
wichtigsten Quellen werden in einem Dokumentationsanhang gebracht
, SOS. von insgesamt 371 S. Dennoch wären noch ein paar
Desitierata zu erwähnen. Auf die gesellschaftliche, kulturelle, weltanschauliche
Dimension wird nur vereinzelt und beiläufig eingegangen.
Die tief sitzenden Probleme, die sich mit Karl Barths Verhältnis zu
manchen seiner deutschen Freunde berühren, teils bei dem Weggang
aus Bonn, teils nach dem Hromädka-Brief, werden nur ganz zurückhaltend
angegangen. Jede Bezugnahme auf die katholische Kirche und
ein auch nur indirekter Vergleich zum Katholizismus fehlen. Gerade
in dem Licht solcher Einschränkungen des Blickfeldes mutet es -
jedenfalls aus der Sicht des ausländischen Rez. - übertrieben an, daß
mehrfach eine grundsätzliche Distanz zu den Lutheranern der
intakten Kirchen hervorgehoben wird. Daß in diesem Zusammenhang
in der Tat prinzipielle Gegensätze auf den Plan traten, läßt sich
natürlich nicht leugnen. Es fragt sich jedoch, ob die Proportionen in
diesem Gegenüber hier nicht verzerrt werden. So läßt sich z. B. historisch
nicht rechtfertigen, daß nur die Kirchenführer aus den
lutherischen Landeskirchen nach dem Kanzlerempfang Ende Januar
1934 als die blamierten erwähnt werden (S. 18). Eine ähnlich negative
Bestimmung der Lutheraner tritt auf den Seiten 95ff (Kapitelüberschrift
: LJnionstheologie und Lutherische Bedenken) sowie S. 100
(Fall Schempp) in Erscheinung. Was hingegen etwa Peter Brunner
anbetrifft, wird diesem lutherischen Mitglied des Wuppertaler Lehrkörpers
zu Recht ökumenische Weite zuerkannt.

Arhus Jens Holgcr Schjnrring

Dogmen- und Theologiegeschichte

Canevet, Mariette: Gregoire de Nysse et Fhermeneutique Biblique.

Etudes des rapports entre le langage et la connaissance de Dieu.
Paris: Etudes Augustiniennes 1983.415 S. 8°.

Gregor von Nyssa findet vielfältige Aufmerksamkeit. Sie spiegelt
sich in der großen Edition, die von Werner Jäger begonnen wurde und
von anderen fortgeführt wird. Die bis jetzt vorliegenden 9 Bände, die
ein 1972 von H. Hörner ediertes Supplementum ergänzt, haben weitere
Studien angeregt und erleichtert.' Die zahlreichen Gregor-
Forscher haben sich auf speziellen Gregor-Kolloquien zusammengefunden
: 1969 in Chevetogne unter dem Thema «Ecriture et culture
philosophique dans la pensee de Gregoire de Nysse» (Actes ed.
M. Harl, Leiden 1971), 1972 in Münster unter der Überschrift „Gregor
von Nyssa und die Philosophie" (Vorträge herausgegeben von
H. Dörrie u. a„ Leiden 1976), 1974 in Leiden (Acta ed. J. C. M. van
Winden und A. van Heck, 1976). An der Spitze der Gregor-Studien in
Frankreich stand Jean Danielou, der seinerzeit mit dem „Leben des
Moses" die Reihe «Sources chretiennes» eröffnet hatte (3. Aufl. Paris
1968). Folgerichtig stand die ihm 1972 gewidmete Festschrift mit dem
Titel „Epektasis" unter einem zentralen Begriff Gregors. Zusammen
mit Danielou hatte Mariette Canevet 1967 Auszüge aus Gregors
Hohelied-Kommentar in französischer Übersetzung herausgegeben
(«La Colombe et la tenebre»). Im gleichen Jahr erschien ihr Artikel
«Gregoire de Nysse» im Dictionnaire de Spiritualite, Ascese et
Mystique (Bd. 6, Sp. 971-1011). Spezialaufsätze folgten. Die vorliegende
Monographie ist also die Frucht intensiver Beschäftigung mit
dem Nyssener ebenso wie genauer Kenntnis der umfangreichen
Sekundärliteratur.

Die neuere Forschung hat Gregor vor allem als Philosophen gewürdigt
und dabei seine Grenzen herausgestellt. Mariette Canevet betont

demgegenüber, daß Gregor in erster Linie, und je länger desto mehr,
als Dichter und als Mystiker gesehen werden muß. Sein Denken ist geprägt
vom biblischen Wort und der spirituellen Deutung des Textes.
Er steht damit in der Tradition, wie sie vor allem durch Origenes bestimmt
wird. Zugleich distanziert er sich aber von der zu weit getriebenen
Systematik der verschiedenen Schriftsinne. Als Schüler der
klassischen rhetorischen Ausbildung macht sich Gregor Gedanken
über Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Sprache, wo es um
das Erfassen und Ausdrücken göttlicher Wirklichkeit geht. Für die
Auflösung von Widersprüchen innerhalb der Bibel findet Gregor
einen Leitfaden im Begriff der akolullua2, der logischen Folgerichtigkeit
. Die Diskrepanz zwischen menschlicher Begrenztheit und
göttlicher Unendlichkeit wird überwunden durch den Begriff der
stetigen, aber unendlichen Annäherung. Die an sich naheliegende
Metapher der Leiter, für die die Jakobsleiter biblische Anknüpfung
bieten könnte, ist für diese Vorstellung nicht geeignet: die letzte
Sprosse müßte fehlen.

Der diffizile Inhalt der Studie ist klar gegliedert, durch Einleitungen
und Zusammenfassungen erschlossen. Der l. Teil untersucht grundlegend
den metaphysischen Status der Exegese: Wie verhalten sich
Name und Sache zueinander, wie kann die Sprache Gott erfassen, wie
ist die Bibel zu gebrauchen? Der 2., umfangreichste Teil gibt eine abgewogene
Bewertung der Rolle der einzelnen Bibelbücher, wie sie sich
in Zitaten und Anspielungen niederschlägt. Das ist eine sehr konkrete
und fruchtbare Arbeit, von der zu hoffen ist, daß sie in vergleichbarer
Weise auch Für andere Autoren unternommen wird. Dann würden
Tradition und individuelles Urteil noch deutlicher zu unterscheiden
sein. Die große Bedeutung der Psalmen überrascht nicht. Als Parallele
wäre etwa noch auf die Rolle des Psalters in der Liturgie hinzuweisen,
wofür die so zahlreichen Papyruszeugen handgreifliche Belege bieten.
Daß das Hohelied außerhalb der ihm speziell gewidmeten Exegese
wenig vorkommt, scheint mir nicht so paradox und unerklärlich
(s.S. 127). Diese glühende Lichcslyrik war der jüdischen wie der
christlichen Exegese ein heißes Eisen, das man besser nicht im Vorübergehen
anfaßte. Hervorgehoben sei, wie sich Gregors Ziele und
Geschmack in der unterschiedlichen Heranziehung von Textgruppen
niederschlagen: Die Wunderberichte der Evangelien kommen so gut
wie gar nicht vor, während die Gleichnisse Jesu viel Stoff für
moralische oder allegorische Anwendung liefern, die Geschichte vom
barmherzigen Samariter etwa ein vollständiges Abbild der Heilsgeschichte
. Für das Judentum hat Gregor kein Interesse, also auch nicht
für die alttestamcntlichen Geschichtsbücher und für die entsprechende
Thematik des Römerbriefs. Ebenso fern liegt ihm die Apoka-
lyptik und die Bildwelt der Offenbarung. Zentral hingegen sind jene
Bibelstellen, die in den christologischen Diskussionen des 4. Jh. die
Basis lieferten. Der Christushymnus des Philipperbriefes dient geradezu
als ein Glaubensbekenntnis.

Der 3. Teil behandelt Exegese und Theologie: den Einfluß der
Theologie des 4. Jh., den Einlluß von Gregors eigenem theologischen
System, Anlage und Ziel der großen Abhandlungen, besonders des
Hohelied-Kommentars. Der 4. Teil untersucht Symbolik und Exegese
. Es werden drei „Schemata" von Symbolen unterschieden. Das
„dihäretische Schema", das auch horizontal oder antithetisch genannt
wird, umfaßt den moralischen Bereich von Gut und Böse. Das
„Schema des Vertikalen oder des Aufstieges" umfaßt Bilder wie das
Haus (mit dem nach oben gerichteten Dach), den Turm, den Berg, die
Leiter, aber auch Baum und Quelle. Das „Schema der Innerlichkeit
und der Vereinigung" nimmt die mystisch gedeuteten Bilder des
Hohenliedes auf: Bett, Eingeweide, Verwundung, Baum und Frucht,
Feuer, Gold. Es ist folgerichtig, daß die folgenden Kapitel die Überschneidungen
, Umkehrungen und Paradoxien dieser Symbolsprache
behandeln, die Dynamik von Vereinfachung und neuer Verflechtung,
von Wiederholung und Wiederaufnahme.

Man sieht, Gregor von Nyssa war ein Dichter. Die Autorin hat
die Faszination, die von ihm ausgeht, gespürt und weitergegeben. Zugleich
hat sie die notwendige Distanz des Wissenschaftlers gewahrt, so