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Ausgabe:

1986

Spalte:

803-806

Kategorie:

Allgemeines

Titel/Untertitel:

Hoffnung der Kirche und Erneuerung der Welt 1986

Rezensent:

Bräuer, Siegfried

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803

Theologische Literaturzeitung III. Jahrgang 1986 Nr. 11

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zugeben und im Gleichnis selbst schon ein Ereignis der Gottesherrschaft
zu sehen. Hinsichtlich der Wunderberichte verurteilt K.
totale historische Skepsis ebenso wie fundamentalistische Kritiklosigkeit
. Ihre Charakterisierung als „symbolische Handlungen" (Thcißen)
ist für K. ebenso unannehmbar wie ihre Bestimmung als „theologische
Kunstprodukte" (Schmithals).

In einem fünften Komplex geht es um Arbeiten zum persönlichen
Anspruch Jesu. Verständlicherweise dominieren Beiträge zur
Menschensohnfrage. Strittig ist noch immer, ob es überhaupt eine
vorchristliche apokalyptische Menschcnsohncrwartung gab. aber
ebenso, ob Jesus überhaupt vom Menschensohn sprach und wenn
doch - wofür K. mit Nachdruck eintritt-, in welchem Sinne. Ein auch
nur annähernder Konsensus ist nicht in Sicht.

Ein letzter sechster Komplex stellt Arbeiten zu Prozeß und
Kreuzestod Jesu vor. Den großen, die folgende Diskussion stark bestimmenden
Monographien von Blinzlet", Winter und Brandon steht
K. in wesentlichen Punkten kritisch gegenüber. Im Rückblick zeigt
sich, daß der Frage nach der vielfach bezweifelten Historizität der
Verhandlung vor dem Hohenrat besondere Bedeutung zukommt. K.
entscheidet sich an dieser Stelle eher konservativ, während er hinsichtlich
der Barrabasszcne ebenso kritisch bleibt wie hinsichtlich
eines soteriologisch bestimmten Todesverständnisses Jesu.

Beachtung verdient endlich das von K. dankenswerterweise hinzugefügte
Nachwort (535-541). Gegenüber historischer und theologischer
Skepsis hält er an der Überzeugung fest, „daß sich ein Zugang
zum Jesus der Geschichte nur mit den Mitteln der kritischen
Geschichtsforschung gewinnen läßt" (S. 536). Charakteristisch für die
Jesusforschung der Jahre 1950-1980 ist nach K. der wachsende Anteil
von Seiten jüdischer und katholischer Autoren, die verstärkte
Methoden- und Kritcriendiskussion, die weite Austächcrung der
Jesusforschung insgesamt, aber auch der sich aufdrängende „Eindruck
eines völligen Meinungswirrwarrs" namentlich bei der Glcichnisfor-
schung und bei der Menschensohnfrage (S. 539). Einen wenigstens anfänglichen
Konsensus sieht K. sich dennoch abzeichnen hinsichtlich
der Unmöglichkeit einer biographisch-chronologischen Jesus-
Darstellung, hinsichtlich der grundlegenden Rolle der Erwartung der
kommenden Gottesherrschaft und hinsichtlich eines absoluten
Autoritätsanspruches, der der Verkündigung Jesu zugrunde liegt
(S. 540). Das ist gewiß nicht sehr viel, wiederum aberdoch so viel, um
nachfolgende Generationen in eine verantwortungsbewußte Weiterarbeit
zu rufen. Man muß nicht alle Urteile des Jubilars teilen, um
sich dennoch von seinem kritisch-positiven Engagement anstecken zu
lassen.

Greifswald Günter Haufe

[Lindt. Andreast:] Hoffnung der Kirche und Erneuerung der Welt.

Beiträge zu den ökumenischen, sozialen und politischen Wirkungen
des Pietismus. Festschrift für Andreas Lindt zum 65. Geburtstag
am 2. Juli 1985. Unter Mitarb. von R. Herren u. H. Kocher hg.
von A. Schindler, R. Dellsperger, M. Brecht. Göttingen: Vandcn-
hoeck & Ruprecht 1985. XX. 397 S„ 4 Tal". 8" = Pietismus und
Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus
. 11-1985. Kart. DM68.-.

Die Hgg. schließen ihr auf den 2. Juli 1985 datiertes Grußwort mit
dem Wunsch, Andreas Lindt möge nunmehr nach dem Rücktritt vom
Lehramt „noch Jahre fruchtbarer Forschungs- und Publikationstätig-
keif' erleben (XVIII). Der Wunsch blieb unerfüllt. A. Lindl verstarb
bereits am 9. Oktober 1985. Die Festschrift ist somit zugleich Ge-
dcnkschrilL Ihre Beiträge gruppieren sich um die Themen, zu denen
vom Pietismus Linien hinführen und denen sich A. Lindt zugleich in
seinen Forschungen zugewendet hatte: Ökumene, religiöser Sozialismus
, Kirchenkampf.

Den Auftakt macht Pierre Barthel mit einer breit angelegten Untersuchung
der „«Lettre Missive» (1717) des Nicolas S. de Trcytorrens"
(1-39), in denen eine eigenständige und sowohl gegen die Orthodoxie

als auch gegen die chiliastische Föderaltheologie gerichtete Auflassung
von heilsgeschichtlichen Ökonomien und ein cntsakralisicrtcs
und moralisiertes Verständnis der urchristlichen Riten vertreten
wurde. Eventuell sind diese Überzeugungen auf radikalpietistische
Lehren in Bern zu Anläng des 18. Jh. zurückzuführen. Dem auf der
Traditionslinic des mystischen Spiritualismus beruhenden Einspruch
Samuel Güldins gegen Z.inzcndorfs Unionstätigkeit in Pennsylvania
1742 spürt Rudolf Dellsperger in seinem Beitrag „Kirchengemeinschaft
und Gewissensfreiheit" (40-58) nach. D. macht wahrscheinlich
, daß hinter der von Güldin vertretenen Priorität der christlichen
Freiheit vor der Einheit die Erfahrungen der ersten Generation der
Immigranten stehen, die letztlich aber im Berner Pietistenkonflikt um
die Wende vom I 7. zum 18. Jh. wurzeln. - Eine Darstellung der Kontroverse
zwischen calvinistischcn und wesleyanischen Methodisten
im 18. Jh. gibt Patrick Ph. Streif in seinem Aulsatz: „Der ökumenische
Geist im frühen Methodismus" (59-77). Es folgt ein nur wenig
in die Tiefe führender Vergleich des schriftgemäßen Lebens in der
Heiligung in Gestalt des sozialen Engagements, der missionarischen
(iesinnung und ökumenischen Offenheit in unterschiedlichen Ausprägungen
des Pietismus (Spener, Francke, Zinzendorf) und in der
britischen evangelikalen Erweckungsbcwegung (Wcslcy. Wilberforcc.
Evangelische .Allianz) von Hans Hauzenberger (78-93). - Zwei Beiträge
konzentrieren sich auf Lavatcr. Ulrich Im Hof. „Pietismus und
ökumenischer Patriotismus. Zu Lavaters .Schweizerliedern""
(94-1 10), Horst fVeigelt: „Das Verständnis vom Zwischenzustand bei
Lavatcr" (1 I 1-126). Im Zuge seiner aus patriotisch-politischer Wiedergeburtsgesinnung
gespeisten Arbeit an historischen Liedern beabsichtigte
Lavatcr übrigens - längst bevor das Thema im 19. Jh. Mode
wurde - die Episode von der Kappcler Milchsuppe des Jahres I 529
literarisch zu gestalten (1010- Der Gedanke einer postmortalen
Potenzierung der menschlichen Kräfte und Anlagen, der vor allem
den späteren Lavatcr beschäftigte, übte bis in die Mitte unseres Jahrhunderts
seinen Einfluß aus. - „Die Kirchengeschichtsschreibung beschäftigt
sich nicht eben häutig mit der Unterrichts- und Massenliteratur
, obwohl sie zweifellos weiter und prägender gewirkt hat als so
manches wissenschaftliche und hochtheologischc Buch", stellt Martin
Brecht zu Eingang seines Aufsatzes „Christian Gottlob Barths .Zweimal
zweiundlünfzig biblische Geschichten', ein weltweiter Bestseller
unter den Schulbüchern der Erweckungsbcwegung" zu Recht fest
(127-138). Vor allem auf der Grundlage der Biographie von Karl
Werner (Calw. 1865-1869) gibt B. einen Überblick über Barths Wirken
bis zur Gründung des Calwer Verlagsvereins, über dessen erfolgreichsten
Titel, Barths biblische Geschichten, die bis 1945 in 487 Auflagen
erschienen (B. erwähnt nur die 465. Aull, von 1928) und von
denen über 70 Übersetzungen existieren. B.s Skizze kann kein Ersatz
für die von Christine Recnts geforderte „genauere Klärung" der Ablösung
von Johann Hübners Erfolgsbuch. „Zweymal zwey und lünffzig
Auserlesene Biblische Historien" sein. (Chr. Reents: „Die Bibel als
Schul-und Hausbuch Tür Kinder. Göttingen 1984, 361-ThLZ III,
1986, 1770- Über Recnts praktisch-theologische Fragestellung hinausgehend
verweist er auf eine Reihe untersuchungswürdiger Problemstellungen
,den Einflußdercnglischen Traktatgesellschaft aufdic
Anfänge der pietistischen deutschen Jugendliteratur im 19. Jh. beispielsweise
, der Bedeutung des Calwer Vcrlagsvereins für den schwäbischen
Pietismus und weit darüber hinaus sowie die ökumenische
Bedeutung von Barths „Biblischen Geschichten". - Dem Schicksal
der Basler Firma C. F. Spittlcr (Pilgermission) in Jerusalem geht Alex
Carrhel nach: „Der Bankier Johannes Fruttiger und seine Zeitgenossen
" (139-158). - Den Themenkreis „Pietismus und soziale Frage"
eröffnet Markus Mattmüller, u. a. in Fortführung und Ergänzung
seines Beitrages in „Ecclesia semper reformanda". der Festschrift zum
Basler Reformationsjubiläum von 1979 (vgl. ThLZ 107. 1982. I 180.
mit einer Arbeit über „Das Evangelium in einer Industriestadt: Die
Gründung der Basler Stadtmission (I 859)" (I 59-1 72). Der Nachweis,
daß „die Evangelische Gesellschaft für Stadtmission" I 859 als Reaktion
auf den doppelten Schock lür die frommen Basier, galoppieren-