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Ausgabe:

1986

Spalte:

57-59

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Podskalsky, Gerhard

Titel/Untertitel:

Christentum und theologische Literatur in der Kiever Rus' 1986

Rezensent:

Döpmann, Hans-Dieter

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Theologische Literaturzeitung III. Jahrgang 1986 Nr. I

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sorgsam entschlägt, und in der prononciert durchgerührten Einheitsthese
. Kritische Bedenken müssen dem allzu großen Umfang des
Buches gelten. Bei manchen Passagen, die sachlich keinen Fortsehritt
über bereits Gesagtes hinaus erbringen, wären zugunsten der Lesbarkeit
Kürzungen vorstellbar gewesen. Ein Problem eigener Art liegt
darin, über eine so große Textstrecke hinweg einen variationsfähigen
sprachliehen Atem zu behalten. Dem theologichistorisch zweifellos
sehr beachtlichen Wurf von Graf sähe man gelegentlich gern eine
Studie über Strauß im Spiegel seiner Kritiker (und Apologeten) angeschlossen
, zumal der Vf. ihr mit einer Spczialbibliographie (617 bis
621) schon vorgearbeitet hat.

Leipzig Kurt Nowak

Kirchen- und Konfessionskunde

' »dskalxkv. (rerhard: Christentum und theologische Literatur in der
hiever Rus' (988-1237). München: Beck 1982. XIII. 361 S. m.
1 Ktcgr. 8 Lw. DM 158,-.

hl den letzten zweihundert Jahren konnte das altrussisehe Schrifttum
weitgehend ediert werden. Gerade die sowjetische Litcraturfor-
schung bemüht sich, wie Vf. hervorhebt, um die systematische Aufarbeitung
aller verfügbaren Handschriften und die Herausgabe neuer,
kritischer Editionen. Allerdings erfolgten die Untersuchungen dieses
Schrifttums bisher vorwiegend unter philologischem, historischem.
s°zialkritischcm und litcraturgcschichtlichem Gesichtspunkt.

Noch fehlte eine umfassende Behandlung der altrussischen Literatur
in theologischer und thcologicgcschichtlichcr Sicht. Nunmehr hat
P' fodskalsky. Theologe. Byzantinist und Slavist. als Ergebnis langjähriger
Arbeit und im Blick auf die im Jahre 1988 bevorstehende
Jahrtausendfeier der C hristianisierung Rußlands ein Handbuch der
theologischen Literatur in der Kicver Rus' geschaffen und damit das
Sei verbunden. ..dem Einfluß und Wandel byzantinischen Geisteslebens
in einem anderen, weil neuen kulturellen Umfeld nachzugeben
" (S. IX). Dabei hielt er sieh in Aufriß und Methode an das
hewährtc Standardwerk von Hans-Georg Beck: Kirche und theologische
Literatur im byzantinischen Reich. München 1959.21977.

Ein erster Hauptteil: ..Die russische Kirche: Entstehung - Organisation
- Geistiges Leben" (S. I 1-82) dient als Hintergrund Tür die
theologische Betrachtung der einzelnen literarischen Werke. Er
behandelt die Christianisierung Rußlands, die Errichtung der russischen
Mctropolie, die einzelnen Bischofssitze, das Verhältnis von
Staat und Kirche. Synoden und häretische Bewegungen, das Mönch-
tum und die Klöster, die mit Kyrill und Method beginnende
s'avische Übersetzungsliteratur, die Bildung in der Kicver Rus', Kicv
und das gesamtrussische (ostslavische) Erbe, den jüdischen Einfluß
durch das Chasaren reich und gibt einen Ausblick auf die Bedeutung
dcs Tatarencinfalls.

bereits in diesem Hauptteil, der die unterschiedlichen Hypothesen
des heutigen Forschungsstands vor Augen führt, richtet Vf. den Blick
auf seine nachfolgenden Untersuchungen, läßt bereits vom kirchenge-
schichtlichcn Überblick her Ergebnisse seiner literarischen Analysen
anklingen.

Dies erfolgt im zweiten Hauptteil: „Die theologische Literatur der
K|evcr Rus'" (S. 83-271). Vf. bietet eine Bestandsaufnahme der im
kJruck auffindbaren Denkmäler mit Angabe der wichtigeren älteren
Und der jeweils gültigen Editionen sowie eine Vollständigkeit anstre-
endc Erfassung der vor allem die theologische Fragestellung betref-
kenden Sekundärliteratur. Er analysiert die einzelnen Schriften im
ezug zur (iesamtentwieklung und versucht, soweit möglich, deren
irkungsgcsehichte anzusprechen. Auch finden sich zahlreiche
-rläuterungen von Einzelbcgriffen.

Methodisch entscheidet sich Vf. für eine Aufgliederung des Mate-
r,als in chronologischer Ordnung nach literarischen Gattungen. Zwar

erweisen sich viele altrussisehe Werke von den Kriterien moderner
Gattungsbegriffe her als mehrdeutig, doch lassen sich in der Kiever
Literatur bereits gattungsspezifische Entwicklungen feststellen. Einzelne
Autoren müssen in mehreren Abschnitten behandelt werden.
Als literarische Genera treten in Erscheinung: Homiletik, Hagio-
graphie. Asketik. Dogmatik/Polcmik. Kanonistisehe Literatur. Wallfahrtsberichte
, ( hronistik mit einem Exkurs über Vladimir Monomach
. Sammelwerke (Sborniki). Anonyma-Pseudcpigrapha und
Sonstiges.

Angesichts der Material- und Aussagefüllc kann der Rezensent
nicht auf Einzelproblcmc eingehen. Deshalb sei hier auf den kurzen
dritten Teil hingewiesen, in dem Vf.. die gewonnenen Erkenntnisse
zusammenfassend. ..Grundzüge der Theologie in der Kiever Rus"'
(S. 273-278) skizziert.

Er verweist auf ein für die Orthodoxie spezifisches Theologieverständnis
: „Nicht die logiseh-diskursive. sondern die rhetorische Entfaltung
des deposltum t'ulci steht dort im Vordergrund; Theologie ist
nicht rational-spekulative Wissenschaft, sondern spirituelle Einführung
und Unterweisung. Nach westlichem Verständnis würde man
also richtiger von östlicher Spiritualität als von der Theologie
sprechen" (S. 273). Besonders in Rußland stehe nicht die theologische
Arbeit, sondern die praktische Übung (Gebet. Fasten. Liturgie.
Ikonenmalerei) im Mittelpunkt, erst Ende des 15. Jh. unternahm
losif von Volokolamsk im „Prosvetitcl" in der Auseinandersetzung
mit den „Judaisicrcnden" den Versuch einer systematischen Darstellungorthodoxen
Glaubens.

Bei fast neunzig Prozent der Handschriften aus der Kiever Zeit handelt
es sich um Übersctzungslitcratur fast ausschließlieh byzantinischen
Ursprungs. Besonderheiten des Kicver Schrifttums ergaben sieh
durch den Wechsel von einem Kulturkrcis in einen anderen.

Als wichtigste Ursache sieht Vf. das Fehlen der klassischen Bildung,
der Philosophie des Piaton und Aristoteles mit ihrer Begriftlichkeit. in
der Kiever Rus'. Da es in der Kiever Epoche weder zu Kontroversen
mit theologischen Häresien noch zu Unionsverhandlungen mit dem
lateinischen Westen kam. ergab sich auch kein Naehholebedarf. So
kam es zum Ausfall einiger Literaturgattungen. Zwar entwickelte sich
infolge der byzantinisch-lateinischen Kontroverse nach dem großen
Schisma von 1054 eine sich an die zeitgenössische byzantinische Literatur
anschließende Polemik. Aber es findet sieh in der Rus' kein einziger
ausschließlich dogmatischer Traktat (S. 170f). Als eigenes Genre
fehlt die Exegese, die Mystik, die Hymnographie. Dagegen erhielten
die Homiletik (Paräncse) und die Hagiographic (Erzählung und
Pancgyrik) in Kiev einen gleichsam überdimensionalen Stellenwert.
Insgesamt findet sieh das intellektuelle Moment nur gelegentlich bei
den griechischstämmigen Metropoliten, während die Autoren der
Rus' sich von dem leiten lassen, was für die Seele nützlich und erbaulich
(dusepoleznyj) ist (S. 274).

Genannt wird weiter die unterschiedliche politische und kulturelle
Situation. Im an der Spitze der christliehen Ökumene stehenden
Byzanz zeige sich eine übernationale Haltung. Dagegen finde sieh in
der Rus' als „kleiner, isolierter und im Innern wenig gefestigter
Fürstenbund" „eine betont nationale Einfarbung aller Lebensbe-
rciehe" (S. 275). Ferner nennt Vf. den für die Rus' charakteristischen
„Doppelglauben", die sich besonders im Bereich der Sitten und
Gebräuche äußernde „bequeme Symbiose von Christentum und
Heidentum" (ebd.). Dazu kommen Grundzüge von geringerer Bedeutung
: Die Quasi-Anonymität vieler Werke; die von Byzanz abweichende
Stellung der Kirche im Staat, dcrzufolge die Kirche neben,
nicht unter dem Fürsten stand und unter der Tatarenherrschaft endgültig
ein Übergewicht erlangte; und schließlich die exklusive Übernahme
der reformierten Studitenregcl Für das Kiever Mönehtum.

Zugleich wird auf die weitgehenden Gemeinsamkeiten hingewiesen
, darunter der Beitrag der griechischstämmigen Metropoliten und
Mönche, die der Rus". besonders im Bereich der Polemik und Kano-
nistik, Zugang zur zeitgenössischen byzantinischen Literatur eröffneten
.