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Ausgabe:

1986

Spalte:

776-777

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Neuner, Peter

Titel/Untertitel:

Kleines Handbuch der Ökumene 1986

Rezensent:

Kühne, Hans-Jochen

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Theologische Literaturzeitung 111. Jahrgang 1986 Nr. 10

776

durch einen informativen und aktualisierten Anhang: I. Die dreizehn
Evangelisationszyklen (363-404), II. Die lateinamerikanische Kirche
von Medellin bis Puebla, 1972-1979 (405-428), III. Die Kirche in
Nikaragua, 1979-1983 (429-447) sowie durch eine 1973 von Maria
Mercedes Esandi zusammengestellte und nach Regionen und Nationen
eingeteilte aktuelle Bibliographie über Kirchengeschichte in
Lateinamerika (449-475).

Dussels Methodologie und Philosophie der Geschichte der Kirche
in Lateinamerika, deren hermeneutischer Bezugspunkt der durch
politische (Herr-Knecht), erotische (Herr-Frau) und pädagogische
(Vater-Sohn) Herrschaftsstrukturen unterdrückte und ausgebeutete
„Arme" ist, basiert auf einer Auffassung von Welt, Geschichte und
Sein, wie sie von der lateinamerikanischen Dependenztheorie und der
daraus folgenden Betrachtungsweise der Welt in „Zentrum" (nordatlantische
Länder) und „Peripherie" (hier Lateinamerika) eröffnet
wird. Unter Aufnahme dieser Dependenztheorie analysiert und kritisiert
Dussel die sozioökonomischen, politischen und kulturellen Ent-
fremdungs-, Ausbeutungs- und Unterdrückungsstrukturen in ihrem
internationalen (Zentrum-Peripherie), nationalen (Bourgeoisie-
marginalisierte Volksmassen) und zwischenmenschlich-familiären
Erscheinungsformen (Sexualität, Ehe, Erziehung) und versucht sie
auch auf den philosophisch-theologischen Bereich anzuwenden,
indem er die dominierende Totalität der diese Unterdrückungsstrukturen
legitimierende Philosophie des Zentrums als europäische und
nordamerikanische Herrschaftsideologie entlarvt. Diese anzuprangern
und zu überwinden ist nach Dussel die prophetische und eschato-
logische Aufgabe und Verheißung der lateinamerikanischen Kirche,
die die Probleme und Nöte Lateinamerikas und ihre Aufhebung zu
ihrem Hauptthema macht und die in einer neuen Sicht und Bewertung
der „Theologie der Befreiung" sowie in einer neuen Interpretation
der Geschichte der Kirche in Lateinamerika ihren Niederschlag
findet.

Eine in dem hier vorgegebenen Rahmen nicht durchführbare kritische
Würdigung dieser neuen Geschichte der Kirche in Lateinamerika
müßte bei der ihr zugrundeliegenden Geschichtsphilosophie
und Theologie ansetzen und in extenso vor allem folgende Aspekte
der Dusselschen Gesamtkonzeption einer Interpretation und Kritik
unterziehen: Die Propagierung eines die Armen mystifizierenden proletarischen
Messianismus, gegründet auf dem Prinzip der Identifizierung
Jesu mit den Armen. 2. Die utopische Konzeption Lateinamerikas
, auf besondere Weise schicksalhaft zu einem Land des Sieges des
Guten, der Liebe und der Gerechtigkeit berufen zu sein. 3. Die durch
die Erfahrung der Exteriorität und Alterität bestimmte Grundverfaßt-
heit des lateinamerikanischen Menschen, dessen Leben futuristisch
als Verheißung für die ganze Menschheit angesehen wird. 4. Die verabsolutierende
Verallgemeinerung des Politischen als konstitutives
Element des menschlichen Daseins. 5. Die soziopolitische Option
einer Befreiung des Menschen im Zuge eines Aufbaus einer neuen sozialistischen
Ordnung in Lateinamerika (hierzu R. Fornet-Betancourt:
Annäherung an Lateinamerika. Frankfurt a. M. 1984, S. 20-34).

Da bei der großen Materialfülle kaum auf inhaltliche Detailfragen
eingegangen werden kann, sei hier nur ein Kritikpunkt besonders hervorgehoben
: Auffallend ist die fast völlige Ignorierung präkolum-
bischer Kulturen (79, 86), deren ursprüngliche Religionen und Philosophien
, auch in ihrer Bedeutung für die Entwicklung von Mission
und Kirche, von Mischkulturen, von einheimischen Theologien etc.
überhaupt nicht gewürdigt (80) oder auf eine, neueren wissenschaftlichen
Forschungen zufolge, unzulängliche Weise (119-128) dargestellt
werden (hierzu R. Nebel: Altmexikanische Religion und
christliche Heilsbotschaft. Immensee 1983).

Die europäische kirchengeschichtliche Forschung und Lehre - die
spanische einmal davon ausgenommen - hat über Jahrhunderte hin
die religiösen, kulturellen, sozialen und politischen Prozesse des
lateinamerikanischen Kontinents zumeist aus einer sehr eurozen-
tristischen Sicht beurteilt oder überhaupt weitgehend außer acht
gelassen. Die Erforschung der lateinamerikanischen Kirchengeschichte
ist deshalb nicht zuletzt angesichts der Auseinandersetzung
um die Theologie der Befreiung (hierzu N. Greinacher, Hg.: Konflikt
um die Theologie der Befreiung. Zürich, Köln 1985) nötig und
aktuell. Dussels grundlegendes Werk wird die Kritik seiner europäischen
Kollegen herausfordern, es wird sicherlich auch zur Erweiterung
des Horizonts der europäischen Kirchengeschichtsschreibung
und -lehre beitragen sowie neue kritische Zugänge zur europäischen
Kirchengeschichte im Lichte ihrer lateinamerikanischen (und philippinischen
) Wirkungsgeschichte eröffnen. Schließlich bildet es gleichsam
das Fundament und Programm der auf 11 Bände angelegten und
zum Teil bereits erschienenen Kirchengeschichte der Interkonfessionellen
Studienkommission für Lateinamerikanische Kirchengeschichte
(CEHILA, gegr. 1973), deren Mitbegründer E. Dussel richtungsweisende
philosophische, theologische und historische Vorarbeiten
geleistet hat.

Bayreuth Richard Nebel

Neuner, Peter: Kleines Handbuch der Ökumene. Düsseldorf: Patmos
Verlag 1985. 184 S. 8'. Kart. DM 24,80.

Hervorgegangen aus Kontaktstudium-Vorlesungen an der Universität
Passau legt der Fundamentaltheologe N., zugleich Ökumene-
Beauftragter der Diözese Passau, eine Einführung in die Geschichte
und Gegenwart der Ökumene vor. Gewidmet ist sie den „unruhigen
ökumenischen Kreise[n]", die „allgemein als unbequem empfunden
[werden], weil sie sich mit den Antworten, die wir auf die durch die
Kirchenspaltung gestellten Probleme formuliert haben, nicht zufriedengeben
, . . . weil sie nicht so tun, als sei alles in guter Ordnung, wie
weithin die Fachtheologen und die Kirchenleitungen" (10). So will
dieses Handbuch nicht nur informieren - das tut es in guten, allgemeinverständlichen
Durchblicken -, sondern auch zu ökumenischem
Denken und Handeln motivieren. Allerdings bleibt leider unerörtert,
was es denn nun bedeutet, daß die Bemühung um Einheit „aus der primären
Verantwortung der Theologen in die der Kirchenleitungen und
Gemeinden übergehen" muß (170).

Im 1. Teil führt N. in „das ökumenische Problem" ein (11-27). Das
Nebeneinander der Kirchen wird hinterfragt. „Auch eine jahrhundertelange
Geschichte vermag nicht zu legitimieren, daß Kirchen sich
gegenseitig ausschließen, die Gemeinschaft des Wortes und des Sakramentes
verweigern, sich im Grunde also ex-kommunizieren. Das weiß
die Theologie: Eine ungerechte Exkommunikation schädigt nicht den
Betroffenen, sondern den, der sie verhängt und an ihr festhält, in
seinem Heil" (18). Die gegenwärtigen Grenzen ökumenischer Bemühungen
werden kurz angesprochen.

Teil 2 behandelt „die großen Kirchenspaltungen und ihre Bedeutung
für die ökumenische Idee der Gegenwart" (29-81). Die antiökumenische
Haltung der katholischen Kirche vor dem II. Vaticanum
wird darin ebenso ehrlich benannt wie die gegenwärtige „Mahnung
zur Vorsicht", die „deutlicher zu hören [ist] als die Bereitschaft zum
mutigen Schritt" (80). Dennoch signalisiert N. Hoffnung. „Was sich
hier innerhalb von wenig mehr als zwanzig oder dreißig Jahren als
möglich erwies, verbietet das Urteil, die katholische Kirche sei unfähig
, über manches, was heute beengt, hinauszuwachsen, und darum
sei an eine fortschreitende Einigung nicht zu denken" (81).

Den „Einigungsbemühungen" wendet sich der 3. Teil zu (83-140).
Hier wird vor allem ein Abriß der Geschichte des ÖRK und ein Überblick
über die multi- und bilateralen Dialoge gegeben. Die Problematik
der in die verschiedensten Richtungen geführten Dialoge wie der
gegenwärtigen ökumenischen Beziehungen überhaupt enthüllt die
Warnung vor zu starker „Konzentration der offiziellen römischen
Ökumene auf die Kirchen des Ostens". Es „könnte sehr fatale Konsequenzen
nach sich ziehen, wenn die konkreten Möglichkeiten gegenüber
den Kirchen der Reformation, mit denen wir zusammenleben
und die uns von ihrem Denken her vertraut sind, vagen Hoffnungen
auf eine Annäherung an die Orthodoxie geopfert würden" (135).