Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1986

Spalte:

762-764

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Titel/Untertitel:

International Calvinism 1986

Rezensent:

Backus, Irena

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

761

Theologische Literaturzeitung 111. Jahrgang 1986 Nr. 10

762

was in seinen Gottesbezeichnungen ,,Non-aliud", „Maximum abso-
lutum" und „Possest" deutlich wird, ist die Relationalität für ihn der
ontologische Grundcharakter der Geschöpfe. Die Welt ist Entfaltung
Gottes, ist Gott als Vielfalt. Im Bereich der Welt gibt es keine Grenze,
innerweltlich ist sie unendlich. Der Mensch kann die Welt nicht
genau erkennen, da er das Ganze nicht von festen Polen aufschließen
kann. Sein Wissen bleibt ignorantia, er ist auf Vermutung (coniectura)
angewiesen, doch kann sein Nicht-Wissen belehrt werden (docta ignorantia
). Der Mensch ist von Gott abhängig, aber von ihm mit vis crea-
tiva ausgestattet; in ihm hat sich Gott abbildlich nachgeschaffen; er ist
zweiter, geschaffener Gott. Sein Geist ist Abbild göttlicher Vernunft.
Und doch kann er Gott weder erfassen noch bestimmen. NvK fragt
nicht mehr, ob oder wie Gott sei, sondern wie die „Nichtwißbarkeit
Gottes angemessen auszudrücken" sei (23).

Die „schrittweise Annäherung an die nie ganz erreichbare absolute
Genauigkeit" äußert sich bei NvK in einer neuen Meßgesinnung, ausgehend
von einem Ungenauigkeitspostulat. Kein Himmelskörper
kann, weil geschaffen, eine genaue Kreisbahn beschreiben. Auch die
Erde bewegt sich und ruht nicht im Mittelpunkt der Welt, den es gar
nicht gibt. Aber der Mensch muß über ein Meßsystem verfügen, um
die Dinge in ihrer Ungenauigkeit annähernd auszumessen.

Nur an einer Stelle verfugt nach NvK der Mensch über ein sicheres
Wissen: in der Mathematik (33). Sie ist ihm Mittel zur Gottes-, zur
Selbst- und zur Welterkenntnis (57). Die mathematischen Gegenstände
haben dabei kein selbständiges Sein unabhängig vom menschlichen
Geist, sondern werden von ihm erst hervorgebracht. Er verhält
sich zu ihnen wie Gott zu seinem Geschöpf. Mathematik ist für NvK
nur Instrument des menschlichen Geistes zur Erfassung der Weltstruktur
; hier erweist sich seine Schöpferkraft, er kann zu sich selbst
finden.

Vf. geht darauf ein, daß NvK sich in 11 Schriften mit der Kreisquadratur
beschäftigt hat, die, das weiß er, mit der überlieferten Mathematik
nicht zu lösen war. Gerade hier will er seine Lehre von dereoin-
cidentia oppositorum für den Entwurf einer neuen mathematischen
Methode nutzbar machen. Dabei beschreibt er zum ersten Mal den
Weg infinitesimaler Betrachtungsweisen, auch wenn er das Ziel, „aus
der Koinzidenz der Gegensätze die Vollendung der Mathematik zu
gewinnen", nicht erreicht hat (De mathematica perfectione; vgl. 62f).
Dabei lernt er, „daß die Lösbarkeit eines mathematischen Problems
von den zugrundegelegten, selbstgesetzten Prämissen abhängen kann"
(66). In „De staticis experimentis" liegt „ein erster Versuch vor,
Mathematik und Naturbeobachtung als Instrumente der Naturerkenntnis
methodisch zu vereinigen". Ziel ist eine scientia experi-
mentalis(83).

Den 2. Teil widmet Vf. dem „Weiterwirken der Ideen des Cusanus"
und behandelt die Aufnahme seiner mathematischen Gedanken vom
15.-18. Jh.. wobei er darauf hinweisen kann, daß die Gedanken des
NvK vielen Fachleuten bekannt und von ihnen verbreitet worden
Waren. Regiomontan hat sie kritisch untersucht. Zweifel an ihrer
Schlüssigkeit geäußert und so für manches negative Urteil Späterer
gesorgt. Hat NvK seine mathematischen Untersuchungen letztlich
deswegen angestellt, „um so die Stärke der Koinzidenzen durch einen
Versuch mit bisher Unbekanntem auch für theologische Untersuchungen
zu empfehlen" (De math. perf; vgl. 101). so fassen Stifel
u. a. sie rein wissenschaftlich auf. NvK ist Lcibniz zuerst als Mathematiker
, erst später als Kirehcnpolitiker und Theologe bekannt
geworden.

Vf. geht auch auf den cusanischen Einfluß auf das naturwissenschaftliche
Denken in England ein. Der Begriff "experimental
science" wird von J. Dee unter ausdrücklicher Berufung auf NvK in
England eingeführt.

Mit einem Anhang „Zur Literaturgeschichte des Problems im 19.
und 20. Jahrhundert", mit Literaturverzeichnis, Siglenverzeichnis
und Namenregister beschließt Vf. seine Arbeit.

Für den Theologen liegt der Wert der Untersuchung deutlich in
ihrem ersten Teil. Das Neue des cusanischen Denkens wird hier hervorgehoben
. Wohl ist schon lange bekannt und vielfach dargelegt worden
, wie NvK mathematisches Denken für seine Gott-, Welt- und
Selbsterkenntnis gebraucht, sie ist jedoch hier knapp zusammengefaßt
dargestellt. Den Mathematiker und Wissenschaftshistoriker werden
stärker seine Äußerungen zur Quadratur des Kreises und zur Wirkungsgeschichte
seiner mathematischen Gedanken interessieren. Hier
hat Vf. viel verstreutes Material zusammengetragen, gesichtet und >
übersichtlich vorgelegt.

Dabei hat Vf. überzeugend dargestellt, daß NvK an den Anfang
bzw. zu den Mitbegründern der modernen Wissenschaft gehört.

Freiberg Karl-Hermann Kandier

Kirchen- und Konfessionskunde

Prestwich, Menna [Ed.]: International < alvinism 1541-1715. Oxford:
Clarendon Press 1985. X.403 S.gr. 8°. Lw.£ 35.-.

* Dieser zum 350jährigen Jubiläum der Revokation des Edikts von
Nantes erschienene Band enthält dreizehn Beiträge von verschiedenen
Autoren sowie eine Einleitung von der Hgn. Alle Beiträge beschäftigen
sich damit, die Wirkung des Calvinismus in Nordeuropa und in
Nordamerika zu erklären. Der Terminus a quo (1541) bedeutet Calvins
Rückkehr nach Genf und die Anfänge seiner reformatorischen
Tätigkeit. Der Terminus ad quem (1715) bezeichnet die Erneuerung
der Französischen Reformierten Kirche (von Antoine Court) und die
Konsolidierung der Calvinistischen Kirchen in Nordamerika.

In ihrer Einleitung versucht die Hgn., Calvinisrpus näher zu bestimmen
. Er wäre also vor allem von der Lehre der doppelten Prädestination
geprägt, sowie von der unumschränkten Autorität der Heiligen
Schrift und von der Überzeugung, daß das Alte und das Neue Testament
gleichwertig sind [!]. Sie weist ferner daraufhin, daß Calvinismus
zur Gründung von vielen neuen Akademien und Hochschulen
führte, und von Anfang an durch den Geist der internationalen Solidarität
gekennzeichnet war. Die Frage des Verhältnisses zwischen
Calvin und Calvinismus ist zwar von der Vfn. aufgeworfen worden,
ohne daß sie jedoch eine klare Antwort darauf gibt.

Der Einleitung folgt eine kurze Calvin-Biographie von Richard
Stauffer (t 1984). (Eine längere deutschsprachige Version dieser Biographie
ist schon im Jahre 1981 im 6. Band der Gestalten von Kirchen
geschickte, hg. M.Greschat, erschienen). Dieser Beitrag ist in
zwei Teile gegliedert: die Lebensbesehreibung und die Darlegung der
Lehre des Reformators gemäß der lnstitutio. Einige Einzelheiten sollten
dabei korrigiert werden: das Glaubensbekenntnis von 1537 wurde
zweifellos von Farel und nicht von Calvin verfaßt. Calvins Abhängigkeit
von Augustin ist mit Recht erwähnt (S. 29); der Autor präzisiert
aber nicht, ob die Lehre von der ereatio continuata, die eine wichtige
Rolle in der lnstitutio spielt, auch Augustin entnommen ist. Es hätte
sich auch gelohnt zu präzisieren, daß Calvins Lehre der Erbsünde dem
späten Augustin zugeschrieben werden sollte.

Der zweite Beitrag, von Gillian Lewis, beschäftigt sieh mit dem
Calvinismus in Genf zur Zeit Calvins und Bezas (1541-1605). Die
Vfn. behauptet, daß Genfs Bedeutung "was by 1600 little more than
symbolic". Bei der Untersuchung dieses Phänomens erwähnt sie aber
nicht die eventuelle Wirkung der Tridentinischen Reformdekrete, die
im vor kurzem erschienenen Buch von R. Stauffenegger erforscht
wurde. Die Frage des Krieges zwischen Genf und Savoyen ist auch
übergangen. Außerdem unterschätzt die Vfn. die Wichtigkeit des indirekten
Einflusses der Genfer Theologie, den sie z. B. auf die Übersetzer
der englischen "Authorised Version" ausübte, da diese das
Neue Testament von Beza als Hauptautorität betrachteten.

Der dritte Beitrag, von Menna Prestwich, handelt von dem
französischen Calvinismus in den Jahren 1555-1629. Nach der Vfn.
wären der Calvinismus und der Katholizismus nach 1598 in Frankreich
ganz voneinander getrennt. Weiter in diesem Band (S. 294) wird
dieser Behauptung aber teilweise von Frau Labrousse widersprochen: