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Ausgabe:

1986

Spalte:

758-759

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Paulsen, Henning

Titel/Untertitel:

Die Briefe des Ignatius von Antiochia und der Brief des Polykarp von Smyrna 1986

Rezensent:

Strecker, Georg

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Theologische Literaturzeitung 111. Jahrgang 1986 Nr. 10

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Material in zwölf Hauptkapiteln, deren Haupt- und Zwischen-
Überschriften eher problem- denn sachorientiert sind, gleichwohl mit
den vertrauten kirchengeschichtlichen Topoi in zumeist verlaufs-
geschichtliehcr Zeichnung der Linien aufwarten. So enthält Kapitel I
"Limited Options" eine Schilderung der kirchlichen Implikationen
des Stein/Hardenbergschen Reformwerkes, des Protestantismus in
den Befreiungskriegen und der Unionspolitik in Preußen. Kapitel XII
"Foundational Collapse" bietet einen Überblick über Phänomene
religiöser Desozialisation in den Jahrzehnten vor dem ersten Weltkrieg
, Beispiele für den Richtungsstreit protestantischer Theologie auf
dem Hintergrund des modernen Kulturlebens und schließlich die protestantische
Sammlung um die einigende Kricgsflagge. In der tour
d'horizon durch das 19. Jh. kommen Erweckungsbcwegung und Spätrationalismus
. Sehlciermaeher, Hegel, theologische Junghegelianer,
vormärzlicher Liberalismus und die Revolution von 1848 ebenso zur
Sprache wie die konservativen Theoretiker des preußischen Staates
seit den 1840er Jahren, der deutsch-österreichische und -französische
Krieg nebst Rcichsgründung. Kulturkampf, Industrialisierung und die
politischen und Sozialbewcgungen des Protestantismus im Kaiserreich
.

Wer sich neue historische Erkenntnisse von diesem Buch verspricht
, bleibt unbefriedigt. Mag es für den amerikanischen Leser
einen willkommenen geschichtlichen Überblick bieten, so muß es in
deutsehen Augen als ein durchgängig aus der Sekundärliteratur zusammengestelltes
Werk erscheinen, dem eine Reihe kaum zu versehmerzender
Gravamina anzulasten sind. Über die zahlreichen nicht
nachgewiesenen Zitationen mag man angesichts des in die Breite
zielenden Anliegens der Studie zur Not noch hinwegsehen können,
ebenso über das Fehlen von Indiccs zu Personen und Sachen und weitere
technische Mängel wie verschriebene Namen u. a. Sehr schwer
verständlich ist jedoch die Nichtberücksichtigung neuerer und neuester
Literatur. Dieses Manko schlägt unmittelbar für die Bewertung
von Vorgängen, Personen und Konzeptionen zu Buche, ganz einfach
auch deshalb, weil die Arbeit an den Quellen nicht ausgleichend hinzugetreten
ist. Bei den Deutschkatholiken und den Lichtfreunden
wird auf eine amerikanische Dissertation von 1954 (C. M. Holden)
und einen Aufsatz in Church History29, 1976, 42-55 verwiesen,
nicht aber auf die Arbeiten von J. Brederlow und F. W. Graf oder den
instruktiven TRE-Aufsatz von A. Kuhn. Bei der Erweckungsbcwegung
wäre ein Hinweis auf den Forschungsbericht von M. Grcschat in
JVWKG 1973, 97ITm. E. indiziert gewesen. Bei Schleiermacher und
Hegel ist der Anschluß an die Forschung gänzlich verpaßt, ebenso bei
der Romantik, speziell bei der Berliner und Jencnser Frühromantik.
Derartige Monita ließen sich zu einer seitenlangen Liste perennie-
rcn.

Angesichts solcher Defizite muß sieh das Interesse um so mehr auf
den Interpretationsansatz des Vf. konzentrieren. Er läßt sich in der
mit nicht nachlassendem Brio vorgetragenen These von der „ungeschriebenen
Charta" zwischen Staat und Kirche zusammenfassen, die
der inneren und äußeren Entwicklung des deutschen Protestantismus
im verflossenen Jh. ihren kritikwürdigen Stempel aufdrückte. "What I
have discovered about German Prolestants in this Century? They were
Willing partners in an unwritten agreement with the states or State
governments. The agreement provided that the Protestant churches
would serve as the states' chief modcl for the larger society; the aeeep-
ted paradigm. 'freedom within authority'. mutually benclitted them
and the states. I have called this eonsensus between churches and
states the 'unwritten Protestant Charter", or 'religious chartcr'. While
cireumstanees and cvcnls modilicd the unicodified agreement, its
earlydesign persisted throughout the Century . . ."(XI).

In diesen etwas ausführlicher zitierten Sätzen ist der hermeneu-
tische Kanon des Autors beschlossen. Kernpunkt ist die Aussage, der
Staat habe die soziale (politische, kulturelle, religiöse, pädagogische)
Rolle der Kirche nahezu durchweg nach seinen eigenen Erfordernissen
determiniert und ihr. wie allen anderen Institutionen auch.
Freiheit lediglich innerhalb der (autoritären) Staatszwecke zugeordnet
. Indem die Protestanten aus Privilegierungs- und anderen
Gründen hierzu iTire Zustimmung gaben, verabsäumten sie die Ausarbeitung
einer eigenen gcsellschafts- und sozial innovativen Position.
Für den Autor besteht diese offenbar in einem staatsunabhängigen
Kirchenwesen, das nicht kraft Zuordnung zum Staat einem gesellschaftlichen
und politischen Konservatismus erliegt und damit zu
jener Ballastmasse wird, die in konservativen Augen das Schiff von
Staat und Gesellschaft erst im Gleichgewicht hält und auf Kurs
bringt - bei Strafe des Verlusts der eigenen Identität und Freiheit.

Respekt ist dem Autor und seinem Engagement nicht zu versagen,
zumal ihm bittere lebensgcschiehtliehe Erfahrungen in der Lutherischen
Kirche der USA (Missouri-Synode) die Feder getührt haben.
Hervorgehoben soll werden, daß die These des Autors manchen bekannten
Vorgang in ein neues Licht zu tauchen vermag, etwa im Blick
auf die differenzierte staatsintegrative Strategie in Preußen im Kampf
um Union und Agende. Problematisch freilich bleibt ein Verfahren,
das die an Widersprüchen und theologischen wie gesellschaftlichen
Verwerfungen so reiche Geschichte des deutsehen Protestantismus im
19. Jh. unter eine einzige These zu zwingen versucht, immer.

Leipzig Kurt Nowak

Bicistein. Roman: Alfred Dclp und der 20. Juli 1944: Ergebnisse aus neueren
Forschungen (ZKG 97,1986,66-78).

Brodersen, Arvid: Widerstand in Norwegen [1940-1945] (EK 19. 1986.
95-97).

Dokumentation zum Kirchenkampf in Hessen und Nassau. Bd. 4.2/hg. von
Hofmann, Martin; Lenz. Hans Friedrieh; Schäfer. Paul Gerhard; Flechsen haar.
Günther und Sames. Ernst (JHKGV 36.1985.307-635).

Dufort. Jean-Marc: Lcdiscours social recent descvcquesdu Canada: analyse
theologique(ScEs38. 1986,49-79).

Kbeling. Gerhard: Die theologische Verantwortung und ihre institutionelle
Wahrnehmung(ZEvKR 31, 1986, 1-26).

Herbert. Karl: Der Rufer zur Sache. Karl Barths Rolle im Kirchenkampf
(LM 25, 1986.2"l 3-220).

Honecker, Martin: Geschichtliche Schuld und kirchliches Bekenntnis. Die
sogenannte Stuttgarter Schulderklärung (ThZ 42. 1986.132-158).

Nowak, Kurt: Sehlciermaeher als Prediger am Charite-Krankcnhaus in Berlin
(1796-1802). Ein Beitrag zu seiner Jugendbiographic (ThZ 41. 1985.
391-411).

Dogmen- und Theologiegeschichte

Paulsen. Henning: Die Briefe des Ignatius von Antioehia und der Brief
des Polykarp von Smyrna. 2.. neubcarb. Aufl. der Auslegung von
Walter Bauer. Tübingen: Mohr 1985. VI, 126 S. gr. 8° = Handbuch
zum Neuen Testament, 18; Die Apostolischen Väter II. Kart.
DM 24,80.

Es ist sehr willkommen, daß nach 45 Jahren Walter Bauers Kommentar
zu den Ignatiusbriefen und zum Brief des Polykarp an die
Philipper in neuer Bearbeitung aufgelegt wird. Wenn man auch fragen
mag, ob es wirklich ein Vorteil ist. daß die Zweiteilung der Anordnung
(Übersetzung und Auslegung jeweils auf derselben Seite) aufgegeben
worden ist. so ist doch durch die deutlichere Hervorhebung der Zwischenüberschriften
ein klareres Schriftbild gewonnen.

Auf Einzelheiten der neuen Kommenticrung, die sich in Nuancen
von der Bauers unterscheidet, kann hier nicht eingegangen werden.
Unverändert ist, daß der griechische Text nur in Stichwörtern zitiert
wird und so der Leser auch in Zukunft den griechischen Text gesondert
zu Rate ziehen muß, wie dieser in den Ausgaben von J. B. Light-
foot oder F. X. Funk-K. Bihlmcycr oder auch durch die griechischdeutsche
Ausgabe von J. A. Fischer zur Verfügung steht. Hervorstechend
ist das gründlieh überarbeitete Literaturverzeichnis, in dem
ältere durch neuere Titel begründet ersetzt wurden. Natürlich ist der
subjektive Charakter solcher Aufstellungen nicht zu vermeiden. Von
den Arbeiten, die sich auf den kleinasiatisehen Raum beziehen, hätte