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Ausgabe:

1986

Spalte:

732-733

Kategorie:

Allgemeines

Titel/Untertitel:

Biographisches Lexikon für Schleswig-Holstein und Lübeck. Band 7 1986

Rezensent:

Haendler, Gert

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Theologische Literaturzeitung 111. Jahrgang 1986 Nr. 10

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Volksschriftsteller stets, „in der kleinen Welt das Große. Allgemeine,
Göttliche darzustellen" (234). Zu den durchgängigen Tendenzen
gehört auch „der Gegensatz zwischen dem .gesunden, natürlichen'
Landleben und der entfremdeten Existenz in der Stadt" (235). „Alte
Zeit und neue Zeit" (237-240) heißt ein weiteres Gegensatzpaar, wobei
sich die christlichen Volksschriftsteller selbstredend auf der Seite
der Vergangenheit befanden. Ereignisse und Strömungen der Zeitgeschichte
(240-262) werden vom Standpunkt „der reaktionären bzw.
nationalistischen Politiker" aus beurteilt und folgerichtig „alle .umstürzlerischen
' Bestrebungen, vor allem die Revolution von 1848 . . .
als Satanswerk mit unerbittlichem Haß verfolgt" (262). Sozialistische
und kommunistische Bestrebungen werden fast nur als Ausfluß der
Sünden gegen den Dckalog (vor allem 6.-10. Gebot) interpretiert. Auf
die sozialen Schäden (Armut. Alkoholismus) reagieren die Autoren
mit der Aufforderung, zur alten Frömmigkeit und einer davon erwarteten
Sozialharmonie zurückzukehren; die Freiheitskriege und
der Krieg 1870/71 werden religiös verklärt. Für die Darstellung der
Familie und des Geschlechterverhältnisses (262-271) ist das 4. Gebot
ausschlaggebend: „Gehorsam gegen die Eltern. Gehorsam gegen die
Obrigkeit, Gehorsam gegen Gott: das sind die Grundpfeiler der .Erzählungen
für das Volk'" (265). Desgleichen ist der „xenophobische
Affekt... ein unübersehbares Charakteristikum" (271) dieser Literatur
. Neben Franzosen, Polen, Türken und Zigeunern werden vor
allem die Juden (279-290) aufs Korn genommen (279: „Vom Antisemitismus
sind fast alle unsere Autoren - mit Ausnahme Casparis und
in etwa Frommeis-geprägt"). Insgesamt werden in Gottlosigkeit und
Kirchenfremdheit die Ursachen der bedauernswerten zeitgenössischen
Verhältnisse erkannt. Lk 15,11-32 dient als Interprctament für
die Gegenwart: „Unsere Autoren betrachten die .böse Zeit' in der sie
lebten, überhaupt als eine Zeit des verlorenen Sohnes, bevor er .in sich
schlug'" (266). In der Zeitkritik und im retrospektivischen Denken
erschöpfte sich jedoch das Wollen dieser Autoren nicht. „Nationalistische
, antidemokratische, antisozialistischc, antisemitische Tendenzen
waren den Volksschriftstellern fast immer nur Mittel zum Zweck:
Rückführung zu Gott" (291). In einem längeren letzten Abschnitt
lenkt M.-S. die Aufmerksamkeit des Lesers auf formale und stilistische
Besonderheiten der „Erzählungen für das Volk" (293-334), auf
die Rolle des Erzählers, seine stilistischen Mittel, u. a. Qucllenfiktion,
Lescranreden, Rückgriffe und Vordeutungen. Rühreffekte, aber auch
die Verwendung von Volkslied, Sprichwort. Bibel und Gesangbuch
sowie typisierende Figurenzeichnungen und das Überwiegen eines
glücklichen Ausgangs. Der Autor setzt sie ein, um seinen Lesern „das
Bild eines tröstlich gerechten, allumfassenden Zusammenhangs gegen
die auflösenden Tendenzen der Zeit" zu vermitteln. „Der große
Erfolg dieser Werke beruhte auch auf dem unbestreitbaren Bedürfnis
der Adressaten nach Sinngebung und Führung." (310)

Abschließend (335-342) weist M.-S. daraufhin, daß die „Erzählungen
für das Volk" von der Zielstellung her „als ein letztlich vergebliches
Rückzugsgefecht" einzustufen sind. Allerdingsdürftcn dennoch
„der konsolatorische Effekt der Volksschriften und ihre Funktion als
Lebenshilfe . . . nicht unterschätzt werden". Daneben hat diese Literatur
auch „mitgewirkt an der Befestigung einer Haltung, deren unheilvolle
Auswirkungen bis ins Dritte Reich zu verfolgen sind" (335). obgleich
die Nachauflagen im wesentlichen nach dem Ende des Kaiserreichs
verebbten. Literaturgeschichtlich ordnet sie M.-S. als „gegenaufklärerische
Untcrhaltungslitcratur" ein, da sie „Unterhaltung und
Belehrung in pädagogischer Absicht zu vereinen sucht" (341). Das
Verschwinden des Terminus „Volksschriftstellcrei" belegt, daß „die
Spezies der belehrenden Unterhaltungsliteratur im Dienste der Volksbildung
" an ihren historischen Ort (Aufklärung - Gegenaufklärung)
gebunden waren und es sich somit „um einen historisch abgeschlossenen
Komplex" handelt (341 ff

M.-S.s Arbeit ist eine herausragende Leistung, außerordentlich gut
lesbar geschrieben und mit guten Registern (371-382) versehen. Der
Autor bereichert mit ihr mehrere wissenschaftliche Disziplinen, die
Literaturwissenschaft genauso wie die Buch- und Bibliotheksge-

schichtc. Selbst die Kirchengeschichtsschrcibung kann ihr wichtige
Einsichten entnehmen. Natürlich- wirft die vorliegende Arbeit auch
Fragen auf. Am gewichtigsten scheint die nach der Eingrenzung der
Autoren auf die Gruppe der evangelischen Pfarrer zu sein. Die hierfür
genannten Gründe (14, 1910 überzeugen nicht recht, zumal M.-S.
selbst darauf aufmerksam macht, daß einige (z. B. Nähe zum Land-
völk) auch auf die Volkscrzählungen aus der Feder von Lehrern (194 f)
zutreffen. Überprüft werden müßte ebenfalls, ob der für diese Aulo-
renauswahl beobachtete christliche Konservatismus für die Volkserzählungen
insgesamt güllig sein kann. Höchstwahrscheinlich liegt
die große Geschlossenheit in der Auffassung von Glauben, Mensch.
Politik u.a. in der Auswahl der Autoren begründet. Bei allem Verständnis
lür die historische Position der Autoren verführt M.-S. ab
und zu die Gabe des flüssigen Stils zu recht gewagten Formulierungen,
so wenn er z. B. behauptet, der Rezensent des Volksblattes lobte an
Glaubrechts .Leiningen' „besonders die Verklärung der Armut durch
den Glauben" (1 53). Nicht immer kann M.-S. seine Ironie zurückhalten
(166, 218. 2210. Heutiger Pädagogik fremd anmutenden Zügen
wird allzu schnell ein sadistisches Gottesverständnis unterstellt (216.
264), wobei die biblischen Bezüge außer acht bleiben. Wenn es M.-S.
gelingt, an Rudolf Schcndas bekannter These vom Volk ohne Buch
„eine kräftige Korrektur" anzubringen (I 16), so muß er doch zugestehen
: „Welches Publikum die Volksschriftstellcr tatsächlich erreicht
haben, ist im einzelnen schwer zu sagen." (120) Hier könnten
Nachforschungen in Pfarrarchiven genauere Anhaltspunkte zutage
bringen. In Krummenhennersdorf, einem kleinen sächsischen Ort bei
Freiberg von ca. 900 Einwohnern, gründete der Orlspfarrer mit finanzieller
Unterstützung der Bezirkshauptmannschaft 1877 eine Volksund
Kirchfahrtsbibliothek, die nach 3 Jahren 306 Bde zählte und
3 149 Ausleihungen zu verzeichnen hatte. An der Lektüre waren
166 Familien beteiligt. 1907 waren 573 Bde vorhanden, unter denen
die Volksschriftstellcr besonders häufig (Horn 68, Franz Hoffmann
56, Nieritz 42, Ferdinand Schmidt 26, Glaubrecht 9. von
Schmidt 6, Caspari 3, je2}Stöber, Wildermulh, Ahlfcld, Frommet,
Funcke) vertreten waren. Diese Dorlbibliothek ist eine der zahlreichen
seit 1876 mit staatlicher Unterstützung gegründeten sächsischen
Volksbibliothckcn, deren Geschichte noch ungeschrieben ist
(vgl. RE 3,J 192). Auf dieses u.a. Desiderate im Umfeld der Volksschriftstellcr
des 19. Jahrhunderts aufmerksam gemacht zu haben, ist
ebenfalls eins der Verdienste von M.-S.s Arbeit.

Druckfehler: 25: Emil Frommcl; 149 Schönefeld bei Leipzig.

Berlin Siegfried Brauer

Biographisches Lexikon für Schleswig-Holstein und Lübeck. Hg. im

Auftrag der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte
und des Vereins für Lübeckischc Geschichte und Altertumskunde.
Band 7. Neumünster: Wachholtz 1985. 357 S„ 8 Taf. gr. 8'. Lw.
DM 54,-.

Die in loser Folge erscheinenden Bände sind nicht weit im voraus
festgelegt. Dadurch können die Hgg. auch Personen vorstellen, „deren
Bedeutung erst neue Forschungen ans Licht bringen". Zuletzt sollen
„alle Personen, die als Schleswig-Holstciner oder für Schleswig-Holstein
Bedeutendes geleistet haben, in diesem Lexikon zu finden" sein
(Vorwort). Aus den 134 Artikeln dieses Bandes seien folgende genannt
: Friedrich Breckling (tl7ll), ein Pietist, der an Gottfried
Arnolds Unparteiischer Kirchen- und Kelzerhistorie mitgearbeitet
hat; Nicolaus Bulow (t 1548?), ein katholischer Theologe, Arzt und
Übersetzer; die Rabbiner Joseph und Salomon Carlebach (t 1942
bzw. 1919); Nicolaus Esmarch (t 1719). Pastor und Dichter; Christian
Flor(t 1697), Organist und Komponist; Friedrich I.. König von
Dänemark (t 153.3). der für die Reformation Bedeutung hatte; der
Dichter Emanucl Gcibcl (+ 1884) und sein Vater, der Pastor Johannes
Geibel (t 1853); die Brüder Julius und Theodor Kaftan (t 1926 bzw.
1932), als Berliner Theologieprofessor bzw. als Generalsuperinten-