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Ausgabe:

1986

Spalte:

698-700

Kategorie:

Kirchenrecht

Titel/Untertitel:

Lehrfreiheit und Lehrbeanstandung 1986

Rezensent:

Winkler, Eberhard

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697

Theologische Litcraturzeitung III. Jahrgang 1986 Nr. 9

698

lliissc auf die religiöse Erziehung. Die ersten drei Kapitel entfalten
diesen Grundvorwurf einer lebensfeindlichen Einstellung der katholischen
Kirche, weitere drei Kapitel variieren ihn an einigen Standardthemen
kirchenkritischer Literatur, der Auloritätsproblcmatik
(Kap. 4), der Einstellung zur Sexualität (Kap. 5) und am ..Verhältnis
des Christentums zu Krieg und Frieden" (Kap. 6). Die beiden Schlußkapitel
bieten ..Tiefenpsychologische Erwägungen zum Religionsunterricht
" und ..Konsequenzen für die Erneuerung des kirchlichen
Lebens".

Hilfreich zum Verständnis dieser Arbeit ist das biographische
Material, das die Verlässer von sich zur Kenntnis bringen: Ringel und
Kirchmayr versuchten „vor mehr als zehn Jahren an der Wiener
katholisch-theologischen Fakultät, angeregt von dem bedeutenden
Konzilstheologen Ferdinand Klostcrmann", eine Ausbildungsmöglichkeit
in Tiefenpsychologie für Theologen einzurichten: der
Versuch „scheiterte jedoch an der Engstirnigkeit einiger Professoren
und Herren im Erzbischöflichen Ordinariat. Bedauerlicherweise gibt
es in dieser Hinsicht eine oft unfaßbar große Psychologiefeindlichkeit
" (206). Diese administrativen Maßnahmen der Amtskirche
verdichteten sich den Autoren mit Beobachtungen aus ihrer psychotherapeutischen
Praxis zu einer herben Diagnose: Es sei die Krankheit
der Kirche, daß sie „als Institution in weiten Bereichen selbst neurotisch
ist . . . und ausgesprochen starke krankmachende Tendenzen im
Sinne der Neurotisierung aufweist" (12). „Vielfach und auf mannigfaltige
Weise wirkt die Kirche auf ihre Mitglieder nicht nur nicht
befreiend, begeisternd und Icbcnscntfaltcnd, sondern lebenshemmend
, verknechtend und unterdrückend. Diese negativen Einflüsse
können dann sowohl zum Religionsverlust als auch zur Vergiftung
und Entartung des religiösen Lebens führen (13)."

Als Leitbild ihres eigenen, therapeutischen Handelns entwickeln
die Autoren demgegenüber naturalistische Vorstellungen von einer
Ganzheit des Menschen an Leib und Seele und von gelingendem
Leben. Ungestörte Sclbstfindung und Selbstcntfaltung des Individuums
gilt den beiden Ärzten als Heilsweg. ja sogar als zeitgemäße
Gestalt der katholischen Gnadcnlchre: „Die alte theologische These,
daß die Gnade Gottes auf der Natur aufbaut und sie vollendet, muß in
der kirchlichen Religionsvermittlung endlich wieder spürbar werden.
Denn ohne Entfaltung der natürlichen Kräfte des Menschen bleibt
auch das religiöse Leben ohne Echtheit. Natürlichkeit und Ausstrahlungskraft
. Daher muß jede Form von Supranaturalismus radikal
überwunden werden. Denn dieser verbreitete Kult des Übernatürlichen
steht in engstem Zusammenhang damit, daß der Mensch nicht
Hl seiner Ganzheit ernst genommen wird, daß er in Leib und Seele zerteilt
wird . . . daß Geistigkeit und Sinnlichkeit gegeneinander ausgespielt
werden - zum Schaden für die Mcnsch-Wcrdung" (223). Daß
sie die Bedingungen der Möglichkeit solcher Selbstcntfaltung verbessern
wollen und können, steht Für die Autoren außer Frage, und
obwohl sie sich „als Psychotherapeuten bezüglich der Schnelligkeit
von Veränderungen keinen Illusionen hingeben", halten sie sich nicht
an ihr eigenes Plädoyer für eine „Strategie der kleinen, aber energischen
Schritte in Richtung der Veränderung", sondern fordern „die
Uberwindung eines Schwarz.wciß-Dcnkens, das Erkennen des Guten
neben allen Defekten, die Aufwendung aller unserer Kräfte und
Bescheidenheit, welches Wort nicht zufällig etwas mit .Bescheid wissen
'zu tun hat" (222).

Bei allem Verständnis für Engagement und Betroffen heil im Umgang
mit psychischem Leid, hätte man gerade von Tiefenpsychologen
in einer so wichtigen Frage mehr emotionale Abstinenz und analytische
Distanz zur eigenen Biographie erwarten dürfen: denn sprengt
schon die Polemik vielfach den Rahmen eines Sachbuchs, so reproduzieren
die Autoren in ihrer unablässigen Berufung auf Autoritäten
ein Argumentationsmustcr. das sie selbst der Amtskirchc zum Vorwurfmachen
, die autoritative Berufung auf die Tradition, in diesem
Lall auf die Tradition der Aulklärung und Religionskritik.

Sieht man von diesen keineswegs bloß äußerlichen Gcstaltungs-
fragen ab. so bleiben noch genug Sachprobleme übrig:

1. Einerseits wird ein problemorientierter Religionsunterricht
positiv beurteilt (192). andererseits aber vor einer „rationalistischen
Religionsvermittlung" gewarnt (226). eine begriffliche Verhältnisbestimmung
findet sich nicht.

2. Die Eltern sollen nicht belastet werden (44). sie werden aber
doch mit Vorwürfen und Anforderungen verschiedener Art überhäuft
, z. B. daß sie sich nach 1945 von der Wcrtvcrmittlung zurückgezogen
hätten (96). daß sie die seelischen Erschütterungen der
Kriegs- und Nachkriegszeit durch materiellen Aufstieg zu kaschieren
suchten (960. daß es ihnen immer noch nicht gelänge, auf angemaßte
Autorität ihren Kindern gegenüber zu verzichten (80f) und daß sie
noch immer der Gefahr erlägen, ihre Kinderzu ihrem Lebensinhalt zu
machen: „Es ist (zwar) unvermeidbar, daß die Eltern durch ihre eigene
Persönlichkeit, durch ihre Wünsche und Ängste ihre Kinder vom
ersten Tag der Existenz an bewußt und unbewußt beeinflussen, formen
und verformen, aber es kommt aufden Grad dieser Beeinflussung
an. Was im Extremfall herauskommt, drückt Kafka pointiert so aus:
.Erst stampfen sie das Kind aus dem Boden heraus und dann stampfen
sie es in den Boden hinein", weil sie das Kind nicht so lassen können,
wie es sich selbst entwickeln will" (44lj. Daß in diesem Zusammenhang
auch Tilman Moser als Kronzeuge der Anklage aufgeboten wird
(102-1 1.3). überrascht nicht, eine Auseinandersetzung mit der These
Mitschcrlichs von der „vaterlosen Gesellschaft" findet hingegen nicht
statt.

3. Inwiefern die „unerträglich übersexualisierte Welt" ein Zeichen
der Verdrängung der Sexualität sei (117). wird nicht weiter erläutert
, obwohl dazu die tiefenpsychologische Betrachtung sicher erhellende
Argumente liefern könnte.

4. Eine Einsicht in die .Dialektik der Aufklärung' lassen die
Autoren nicht erkennen. Es wäre doch aber im Rückblick auf über
acht/ig Jahre tiefenpsychologischer Arbeit und Religionskritik die
Frage wenigstens zu stellen, welchen Beitrag zum Religionsrer/int
eine analytische Arbeit leistet, die sich auf die Erklärung des Phänomens
Religion und seiner Fehlformen zu beschränken behauptet,
zugleich aber die Psychotherapie als Heilswcg zu besserer Einsicht
und gelingendem Leben durch Selbstverwirklichung empfiehlt (227
u. ö.).

Nach Form und Inhalt geurteilt, muß man befürchten, daß dieses
Buch sein Ziel nicht erreicht, den Dialog zwischen Tiefenpsychologen
, Seelsorgern. Eltern und Lehrern auf einer sachlichen Argumentation
- und Vertrauensbasis zu (ordern.

Tübingen Reinhard Schmidt-Rost

Kirchenrecht

Härle. Wilfried, u. Heinrich Leipold [Hg.]: Lehrfreiheit und Lehr-
beanslandung. I: Theologische Texte. 2: Kirchenrechtliche Dokumente
. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn 1985.
20.3 S. u. 237 S. gr. 8' = Reader Theologie. Basiswissen - Querschnitte
-Perspektiven. Kart. DM 19,80 u. Kart. DM 22.80.

„Der Intention der Herausgeber zufolge sollen die beiden Bände
zwei Funktionen erfüllen: 1. als Textgrundlage für systematisch-
theologische, kirchcngeschichtlichc und kirchenrcchtliche Lehrveranstaltungen
in der 1. und 2. Ausbildungsphase; 2. als Text- und
Quellcnsammlung für die an Kirchenrechtsfragen Interessierten oder
mit ihnen beruflich Befaßten, also z. B. für Pfarrer, theolog. Studicn-
leitcr, Pfarrkonferenzen sowie für andere kirchliche Gremien, die
Lehn crantwortung wahrnehmen." (1.8)

Bd. 1 beginnt mit Auszügen aus Luthertexten sowie aus CA XXVIII
(Teil A). Für die Frage nach Gewaltanwendung gegen Irrlehrcr sind
Abschnitte aus drei Predigten über Mt 13. 24-30 wichtig, darunter
aus Luthers vorletzter Predigt, in der sich zeigt, daß der Reformator
bis zuletzt Bedenken gegen die gewaltsame Bekämpfung von Irrlehrern
hatte. Im Teil B folgen auf acht Auszüge aus Calvins Institutio