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Ausgabe:

1986

Spalte:

693-696

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schneider-Flume, Gunda

Titel/Untertitel:

Die Identität des Sünders 1986

Rezensent:

Frey, Christofer

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Theologische Litcraturzeitung III. Jahrgang 1986 Nr. 9

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Das war jedenfalls der Prozeß, aus dem die Minjung-Theologic in
Südkorea entstand. Von Chi-Ha Kim lernten die koreanischen Theologen
. ..daß es andere Mitteilungsweisen gibt als die des philosophischen
und theologischen Diskurses, andere Sprachlbrmen als die
der gehobenen westlichen bzw. chinesischem Rede, nämlich das Lied,
der Weisheitsspruch, die Legende, der krasse Witz, das volkstümliche
Schauspiel und vor allem die einfache Erzählung, in der sich das
Wissen des Volkes mitteilt - oder verbirgt". Das ist vor allem wichtig,
wenn ..die Theologie eine Funktion der Kirche" (K. Barth) und nicht
nur der Universitäten sein will. Die dortige Theologie war bis zur Entstehung
der Minjung-Thcologie von den in westlicher oder chinesischer
Begrifflichkeit geschulten Theologen beherrscht worden, was
sie zu Fremdlingen in ihren eigenen Kirchen machte, der Situation der
europäischen Theologen nicht unähnlich. Die Minjung-Theologen
haben Sprache und Vorstellungswclt der Herrscherethik aufgegeben
und dafür die Darstellungskatcgorien der gewöhnlichen Leute übernommen
. Das war nicht nur ein kultureller, sondern auch ein politischer
Entscheid. Sic haben deswegen ihren akademischen Status an
den Universitäten Südkoreas fast durchweg eingebüßt. Sie haben aber
dafür Bonhoeffers ..nicht-religiöse Interpretation" der Bibel auf eine
Weise zu Ende geführt, die den deutschen Universitätslhcologen aufgrund
ihrer sozialen Schichtung und akademischen Gebundenheit
nicht zugänglich war.

Diese Minjung-Theologen ..verwerfen die Klassentheorie, denn der
•ochlos' ist keine Klasse . . .. sondern sind Menschen .ohne jegliche
Zugehörigkeit, z. B. Knechte, Heimatlose, Wanderer. Bettler, Fremdsöldner
' (Byung-Mu Ahn). Selbst die Zöllner, die eigentlich zur Klasse
der Ausbeuter gehören, dürfen dazugercehnet werden, weil sie durch
ihren ungerechten Beruf zu den religiös Rechtlosen gehören. Dadurch
erklärt sich, daß Byung-Mu Ahn und viele andere Minjung-Theologen
das offene Streitgespräch etwa mit den südkoreanischen
Geheimpolizisten suchen, von denen sie beschattet werden, und
diesen durch Argumente die Fragwürdigkeit ihrer Menschenjagd vor
Augen führen. Schließlich gehören auch die Akademiker heute zum
■Ochlos', sofern sie sich in der Verfolgungssituation belindcn und von
ihrer akademischen Arbeit entfremdet wurden. Sind, so fragen sie, bei
der Befreiungstheologie Lateinamerikas die Nachkommen der spanischen
Eroberer (von Ausnahmen abgesehen) tatsächlich Teil des
Südamerikanischen Volkesl Wieviel Indios befinden sich unter den
Sprechern der Bcfreiungstheologic?"

Es lallt mir schwer, dieses ungemein wichtige und anregende
Büchlein sachgerecht zu rezensieren. Es enthält eine koreanische
Legende (Byung-Mu Ahn, Die Todesprozession), ein afrikanisches
Preislicd (Gabriel Setiloane, Ich bin ein Afrikaner) und einen Auszug
aus einem japanischen Roman (Shusako Endo. Der Priester und der
Abtrünnige). Diese Texte werden auf ihr Kreuz.esvcrständnis befragt.
Am liebsten möchte man das ganze Büchlein, besonders aber die
narrativen Passagen, abschreiben. Als Rezensent bin ich jedoch
gezwungen, Sundermeicrs Interpretationen zu rezensieren. Nur. wie
kann man das für Leser, die die Geschichten nicht kennen?

S. hat sich mit diesem Kaiser Traktat in ein neues Gebiet vorgewagt.
Er hat gezeigt, wie wichtig die Missionswissenschaft für unsere
europäische Theologie ist. indem er narrative Texte als entscheidende
theologische Beiträge erkannte und deutete. Die Konsequenzen dieses
Ansatzes müssen weiter bedacht werden. Ein wichtiges und anregendes
Büchlein!

Birmingham Walter J. Hollenwegcr

Praktische Theologie: Allgemeines

Schneider-Flame, Gunda: Die Identität des Sünders. Eine Auseinandersetzung
theologischer Anthropologie mit dem Konzept der
psychosozialen Identität Erich H. Eriksons. Göttingen: Vandcn-
hoeckÄ Ruprecht 1985. 140S.gr. 8'. Kart. DM 29.80.

Viladesau, Richard: The Reason for mir Hope. A Theological Anthro-
pology. New York - Ramsey: Paulist Press 1984. XII, 240 S. gr. 8°.
Kart.S 10.95.

Zwei so unterschiedliche Ansätze zu theologischer Anthropologie
zugleich zu besprechen hat seinen besonderen Reiz. Die zuerst
genannte Arbeit sucht sich die Psychoanalyse, die zweite eine „Transzendentalphilosophie
" zum Gesprächspartner.

G. Schneider-Flumes Buch stellt eine in Tübingen angenommene
Habilitationsschrift dar. Die theologische Ausrichtung wird
daran deutlich, daß die Vfn. sofort auf den Sündenbegriff zielt
(I. Kap.). ihn mit Aussagen Luthers präzisiert (2. Kap.). dann erst
Eriksons Idcntitätskonz.ept aufgreift (3. Kap.). um zuletzt ihr Ergebnis
festzuhalten (4. Kap.). Ihr Anliegen ist es. die psychoanalytisch formulierte
Ich-Identität als einen Zwang, sich als Ganzheit darzustellen
(S. 112), zu verstehen. Demgegenüber sollen die .Geschichte Gottes'
und die Lebensgeschichtc des Sünders .zusammen erzählt' werden
(30).

Diese Geschichten - die Geschichte der jeweiligen menschlichen
Biographie einschließend - sucht der Leser eigentlich in diesem Buch
vergeblich - vorausgesetzt, das Programm eines Vorgehens nach Maßgabe
.konkreter Theologie' (126) stimmt.

Wer Eriksons Veröffentlichungen studiert hat, wird sich erinnern,
daß seine psychoanalytische Begrifflichkeit im Dienst oft sehr
bewegender Beobachtungen weit über die eigene Kultur hinaus steht.
Sie hat analytischen Sinn, wird aber von der Vfn. als normativ beurteilt
(die Theorie der Identität sei zu einer normativen Lebens-
geschichte geworden, S. 60 - die Vfn. meint wohl, die Theorie sei als
Anweisung zur Lebensführung gelesen worden). Darum ist es sehr zu
bedauern, daß E. auf sein Identitätskonzept wie auf ein nacktes
Theorem festgelegt wurde, obwohl er es doch in immer neuen Anläufen
an Lebensläufen konkret machen wollte. Wahrscheinlich
wollte die Vfn. das Problem umgehen, Sünde ebenso lebensgeschichtlich
bezeichnen zu müssen. (Von der weitgehend apologetischen
Behandlung der Eriksonschen Lutherstudie sehe ich hier ab.)

Das Identitätskonzept wird plakativ besetzt und verwertet: Verbunden
mit unerschütterlichem Glauben an die Güte des Menschen
(16) gibt es nur eine Schuld: sich selbst niehl zu verwirklichen
(17. 61). Die Epigencse der Identität entspricht einem Leistungsmodell
(73, 79), auch Transzendenz wird geleistet (83). So bin ich. was
ich aus mir mache (84). Wüßte der Leser nur. was .Leistung' bedeuten
soll und was Subjekt dieser Leistung ist! Weil das .Ich' laut Erikson ein
Ergebnis der ersten Lebensphase darstellt, kann es höchstens Teilsubjekt
sein. Hätte die Vfn. deutlicher die Struktur der Lebenszeit und
ihre Kontinuität in den identitätsbildendcn Phasen herausgearbeitet,
so wäre sie auf das von Ricceur (den sie gelegentlich positiv heranzieht
) an Freud exemplifizierte Problem einer „Synthese nach vorn"
(und auf die Frage der Hoffnung) gestoßen. Das hätte eher ein
Gespräch mit Erikson ergeben.

Ebenso formelhaft und blaß bleiben die „Geschichte Gottes" und
die ..Sünde". Sünde sei kein Phänomen unmittelbarer Erfahrung
(103); darum bestimmt die Vfn. mit vielen Luther-Zitaten die Sünde
jenseits irgendwelcher moralischen Fixierung. Der in reformatorischer
Theologie Bewanderte wird zustimmen, weil er die Spitzensätze
-so oder ähnlich - bereits kennt. Aber hat Luther nicht auch gepredigt
und seine Theologie in Lebensvollzügcn ausdrücken können?

Theologische Anthropologie sei Beschreibung des Menschen, der
Sünder würde (38, vgl. 51 0- Diese „Geschichte" müßte ein Psychoanalytiker
irgendwie an Lebensläufen nachvollziehen (nicht etwa
beweisen!) können. Und wenn die theologische Anthropologie von
einer Identität sprechen soll, die einem zukommt (80), oder von einem
(objektlosen!) Sichverdanken des Lebens (57), dann wäre beides ohne
große Mühe dem .Urvertraucn', das Erikson als Gewinn (nicht als Leistung
!) der ersten Lebensphase ansieht, zu unterlegen. Die von der
Vfn. gezogene theologische Grenze wird über ein weitgehend leeres
Terrain gelegt und läßt Theologie irgendwie irrelevant werden.