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Ausgabe:

1986

Spalte:

687-689

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Lévinas, Emmanuel

Titel/Untertitel:

Wenn Gott ins Denken einfällt 1986

Rezensent:

Keil, Günther

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Theologische Literaturzeitung III. Jahrgang 1986 Nr. 9

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stehungsgeschichte hat der Hg. die Konsecjuenz gezogen und auf diesen
Zusatz verziehtet. Wie sehr die Anstrengungen für die neue
Ockhamausgabe die Kenntnisse über die Textüberlieferung vertiefen,
wird daran deutlieh, daß Philotheus Bochner bis 1939 für die „Sum-
mula philosophiae naturalis" sieben Handsehrilten ausfindig machte,
die vorliegende Ausgabeaber zwölf hinzuziehen konnte.

Die ..Quaestiones in libros Physicorum Aristotelis" enthalten den
Ertrag von Disputationen, die sieh meist auf Themen der Physik des
Aristoteles erstrecken, aber auch andere philosophische und einige
theologische Probleme erörtern. Der Hg. zeigt, wie sie mit dem Londoner
Generalstudium zusammenhängen und zwischen 1321 und
1324 entstanden sind. Er nimmt an. daß Oekham diese quaestiones
nach der jeweiligen Disputation aufzeichnete, und bewertet sie als re-
tractationes früherer Äußerungen. Unter diesem Gesichtspunkt erhalten
diese hier erstmals gedruckten quaestiones für das Verständnis der
Naturphilosophie Ockhams eine herausragende Bedeutung.

Die drei Handschriften unterschieden sieh in der Zählung der
quaestiones. Obgleich aus Verweisen Ockhams geschlossen werden
muß. daß mindestens zwei quaestiones-vermutlich nach der quaestio
59 - fehlen, hat der Hg. lückenlos durchgezählt und sieh nicht von der
vatikanischen Handschrift heirren lassen, die nach 75 mit 78 weiterzählt
und zweimal 123 verwendet, SO daß sie schließlich bei 151 quaestiones
auf I 52 kommt. Drei quaestiones. die die Wiener Handschrift
zusätzlich enthält, unterscheiden sieh nach Umfang und Aulbau so
stark von den übrigen, daß sie nicht mit aufgenommen wurden, sondern
in den "Franeiscan studies" erseheinen sollen.

Leipzig I lelmar Junghans

Levinas. Emmanuel: W enn Gott ins Denken einlallt. Diskurse über
die Betroffenheit von Transzendenz. Ubers, von Th. Wiemer. Mit
einem Vorwort von B. Caspcr. Freiburg—München: Alber 1985.
287 S. 8' = Alber-Broschur Philosophie. Kart. DM 54,-.

Gott, die Transzendenz (als das theoretisch nicht zu Denkende und
darum nicht in die Welt hinein zu Synthetisierende) lallt in der Ethik
durch das ..Antlitz des Anderen" ins Denken ein. Dieses Denken ist
dabei passiv, ,,passiver als passiv" (ein Ausdruck, der immer wiederkehrt
), weil es auf das radikal Andere als es selbst angewiesen bleibt; es
ist deshalb primär Frage und nicht Antwort, Suchen und nicht Finden
, weil Antwort und Finden schon eine Synthese mit dem Sein der
Welt eingehen müßten. Lediglich im Antlitz, des Anderen tritt das/der
Andere (im Französischen ein Ausdruck) = Gott an uns heran. Aber
das Antlitz des Anderen ist verwundbar. Schon dadurch, daß ich eine
Stelle im Sein einnehme, entziehe ich diese Stelle dem Anderen. Folglieh
muß ich mich dem Anderen ganz zur Geisel geben, um mich Gott
ganz zur Geisel zu geben; nur in dieser Ethik, ganz dem Anderen (dem
Nächsten und Gott) zu gehören, in dieser Hetcronomie des ethischen
Gehorsams (263). in dieser „Liebe ohne Konkupiszenz" (256) hören
wir Gottes Wort. Dann verstehen wir. daß Leben nicht primär Sein,
sondern Altern ist. Altern unserer menschlichen Endlichkeit auf die
Unendlichkeit = Andersheit Gottes hin. Dann gilt nicht: „Einzig das
Nichts droht im Tod" (86). wie Heidegger meint, sondern: „Vielleicht
bedeutet das Wort .Herrlichkeit', das ich soeben gebraucht habe, als
ich vom Antlitz sprach, ebendieses Jenseits von Sein und Tod" (255).
Freilieh darin weist dann die Philosophie auf die Religion weiter:
„Die Religion weiß viel besser Bescheid ... Ich glaube nicht, daß die
Philosophie trösten kann. Das Trösten ist eine völlig andere Funktion
; es ist eine religiöse Funktion" (107).

Das etwa sind die Grundzüge der Philosophie Emmanuel Levinas,
die sieh hier in Form einer Aufsatzsammlung präsentiert (in unserer
Kurzdarstellung dieser Philosophie oben haben wir überall dort, wo
Gedanken immer wiederkehren, auf Nennung einzelner Stellen verzichtet
). Levinas Werk ist in Deutsehland bisher weithin unbekannt
geblieben, was wohl auch auf fehlende Ubersetzungen aus dem Französischen
zurückzuführen sein dürfte (sein Hauptwerk «Totalite et

Inlini» soll erst in deutscher Übersetzung erseheinen, lediglieh „Die
Spur des Anderen" [Freiburg 1983] ist außer der hier besprochenen
Aufsatzsammlung in deutseh bisher greilbar). Erst neuerdings gewinnt
es auch bei uns immer mehr an Aufmerksamkeit. Dabei ist die Originalität
dieses von Husserl und Heidegger herkommenden (aber auch
von diesen sieh absetzenden) Denkers eine hochnotwendige Abwendung
vom weithin immanentistisehen und (zumindest latent) atheistischen
Denken unserer Gegenwart. Eine Ethik (eine praktische Vernunft
), die nicht im Sein und in einer der praktischen gegenüber vorrangigen
theoretischen Erkenntnis gründet, sondern in der Hingabe an
den Anderen, der zugleich als „Anderer" die Transzendenz (die Seinsund
Erkenntnistranszendenz) ist. fuhrt weiter in die Religion, in die
Theologie: Lesinasist Philosoph (er ist seit 1962 Professor für Philosophie
) und gläubiger Jude, der aber gerade in der Nächstenliebe, der
Liebe ohne Konkupiszenz (319) und ohne Reziprozität und im Denken
gerade über das Sein der Welt hinaus sieh mit gläubigem Christentum
eng begegnet. Es ist deshalb nur zu begrüßen, daß der Verlag
Alber von seiner christlich-katholischen Ausrichtung her sieh Levinas
im deutsehen Sprachbereich annimmt (obwohl Lewinas Gedanken
vom absolut Anderen = der absoluten Transzendenz mindestens ebenso
gut evangelischem Denken nahekommen). Sa ist es denn auch das
„Des-inter-esse", das „Herausstehen aus dem Sein der Welt'' /auch
dieser Ausdruck kehrt immer wieder), das Levinas mit Kierkegaard
(und vielleicht auch mit Bultmann), aber rar allem mit einem Christentum
verbinde!, das mit seinem Denken die Immanenz der Welt
überschreiten möchte. Daß das ein Philosoph sagt, ist vielleicht der
interessanteste. instoß dieses Buchesfiirdie Theologie.

Freilieh bleiben auch einige Fragen, besonders an die Denkmethode
Levinas: Sein Denken möchte sieh primär weder am Sein noch an der
Identität orientieren (Sein und Identität sind für ihn ein und dasselbe,
weil nur etwas, was sieh identisch setzt - auch in der Abfolge der Zeit -
ein Seiendes ist, wobei der Seinsbegriff von vornherein vom Werden
und Anderswerden abgesetzt wird), sondern primär b6i der Ethik ansetzen
. Aber ist Denken ohne Identität überhaupt möglieh? Schon die
Behauptung, daß die Identität des Seins nicht für es primär bestimmend
sei. muß selbst eine Behauptung sein, die ihre Identität im Abfluß
der Zeit durchhalten muß. Indessen ist Levinas nicht so kurzsichtig
, das nicht zu sehen, er stellt sieh dieser Frage mit seinem
Schlußaufsatz „Wie man so sagt" (266IT) ausdrücklich. Aber kann ein
Denken, das zwar bei der Identität ansetzt, aber dann für das Andere.
Nichtidentische passiv offen sein soll, im Bereich des Nichtidentischen
noch ein Denken sein (zumal es selbst als Denken des Nieht-
identisehen wiederum mit sieh selbst identisch sein müßte)? Bedarfes
hier nicht doch noch einer tieferen Problemstellung, als Levinas sie
gibt? Haben die Griechen, die er trotz, aller Achtung in ihrem Seinsund
Identitätsdenken überwinden möchte, nicht doch das traglähigcrc
Fundament, das schließlieh auch Levinas Denken noch in seinen
Grundz.ügen mit aufnehmen könnte?: Bezeichnend ist hier die Auseinandersetzung
mit Plotin (229ff), dem Levinas gerade Festhalten am
identisch Einen als dem letzten Sein als letztem Sinn vorwirft, während
doch das Eine (wobei das „Eine" selbst nur noch Metapher ist)
bei Plotin (noch deutlicher bei Proklos) ganz im Sinne Levinas gerade
das alles Sein noch Transzendicrende ist. gerade das „Des-inter-esse"
aus allem Sein und seinshaften Sinn, das nur in der Ethik und schließlich
in der Ekstase (von „Emphase" spricht Levinas) „ins Denken einbricht
"? Herrseht hier nicht zuviel „Griechenfurcht", die der Klarheit
des philosophischen Denkens nicht gerade förderlich ist? Aber wie
dem auch sei. bezeichnend bleibt, daß Levinas Denken an den entscheidenden
Durehbruehsstcllen auf die Transzendenz hin merkwürdig
unscharf und stammelnd bleibt (vergleiche dafür als Beispiel
den Absatz 21 1-212). Vom Philosophen erwartet man, daß er zumindest
die Notwendigkeit eines Denkens an Transzendenz scharf aulweist
(wie z. B. Jaspers das durch Antinomien tut), auch wenn man
dann inhaltlich von Transzendenz nur stammelnd sprechen kann

.....in einer Sprache, die ihr Gesagtes unablässig selbst widerruft, die

andeutend sagt und sieh darin schon zurückzieht" (171).