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Ausgabe:

1986

Spalte:

41-44

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Klaassen, Walter

Titel/Untertitel:

Michael Gaismair 1986

Rezensent:

Bräuer, Siegfried

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Theologische Literaturzeitung 1 1 I.Jahrgang 1986 Nr. 1

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luta praesuppositio omnium etc.). Der wahrhaft weise Mensch ist vor Es war zu erwarten, daß Michael Gaismair im Zusammenhang mit
Gott der Ungebildete, der Nichtwissende, der sich demütig idiota dem Bauernkriegsjubiläum 1975 erneut die Aufmerksamkeit der For-
nennt. (Sollte man deshalb nicht lieber „idiota" statt mit „Laie" mit schung auf sich ziehen würde, nachdem bereits ein Jahrzehnt früher
„Einfältiger" übersetzen? NvK definiert ihn eingangs als „pauper Josef Macek eine Neubewertung des Tiroler Bauernführers eingeleitet
quidam". wobei pauper doch wohl auf die Schulweisheit bezogen ist.) hatte. Maceks teilweise einseitige Quellcnintcrprctation bedurfte der
Der idiota, der Einfältige bildet sich nicht aufsein vieles Wissen etwas Korrektur. Nach der Arbeit von Aldo Stella (La rivoluzione contadine
ein und kann doch gerade ohne Schulweisheit das Tiefste an mensch- del 1525e l'utopia Michael Gaismayr. Padova 1975) erschienen fast
licher Einsicht klar und einfach in einer Unterredungstheologie („ser- gleichzeitig die beiden anzuzeigenden Monographien. Die Beiträge
mocmalis theologia") fassen und ausdrücken, also in sokratischer der Gaismair-Tagung von 1975 wurden erst mit beträchtlicher Verweise
. Im „Idiota de mente" haben wir „eine erste Kritik der reinen spätung veröffentlicht (Die Bauernkriege und Michael Gaismair.
Vernunft" (E. Bohnenstädt): hier erscheint (in cap. XI) unsere mens Hrsg. von Fridolin Dörrer. Innsbruck 1982. = Veröffentlichungen des
als Einheit, Gleichheit der Einheit und Verknüpfung beider. Diese Tiroler Landesarchivs, 2).

Dreiheit sieht NvK als identisch mit der Trinität Gottes. Im „Idiota de Die Monographie des Tübinger Dozenten Jürgen Bücking wurde

staticis experimentis" kann man „eine erste Grundlegung der ver- bereits 1975, kurz vor dem frühen Tod des Autors, abgeschlossen,

schiedenen Erfahrungswissenschaften auf menschlich-schöpferischer, Bücking war durch seine früheren Arbeiten zur Tiroler Geschichte

aul mathematischer Grundlage" sehen (E. Bohnenstädt). und zum Bauernkrieg für neue Erkenntnisse zur Gaismair-Thematik

Die Idiota-Büchcr wurden erstmals 1937 durch L. Baur in den Opc- prädisponiert. Er stellte sich die vierfache Aufgabe: I. Soziale und

ra orr|nia ediert. „De sapientia" und „De mente" wurden nunmehr rechtliche Analyse des Hochstiftes Brixcn. 2. Ablauf der entscheiden-

von R. Steiger völlig neu bearbeitet, wobei sie sämtliche bekannten den Jahre 1520/1532 unter strukturgcschichtlichcm Ansatz. 3. Dar-

Handschriften verglichen und den Quellcnapparat beträchtlich erwei- Stellung der Gaismairrezeption als Beispiel der politisierenden Ver-

Ier"1al- Wertung der Geschichte. 4. Durch eine vergleichende religionssozio-

Der Edition gehen ausführliche Vorworte voraus. R. Steiger stellt logische Studie in Anlehnung an Max Weber die Religion als Legitimst
, daß wir nicht genau wissen, ob NvK die drei Schriften mit dem mationsfaktoraufweisen.

Namen „Idiota" verbunden hat, da uns ein Autograph fehlt und er sie Bücking sieht den Bauernkrieg wesentlich mit in den vorangehende
so zitiert. Aber in den ältesten Codices von 1451 schon ist er in den den sozialökonomischen Veränderungen (16: „tiefgreifende Ecudal-
Titeln enthalten. Die Codices und ihre Überlieferung,werden eben- krise") begründet. Die Konturen dieser Veränderungen im Stift
so Deschriebcn (mit Stemmata) wie die frühen Drucke. R. Klibansky Brixen, d. h. dessen am Eisack gelegenen Teil, zeichnet er unter Aussteuert
zwei Anhänge bei („De memoria librorum Idiotae", „De dia- wertung neu erschlossener Quellen im I.Teil seiner Arbeit nach
°gis de vera sapientia Francisco perrarcae addictis"), worin er sein (15-57). Entscheidender Faktor war der Schwazer Silberbergbau. Die
großartiges Wissen wieder beweist. C. Bormann und H.-G. Senger wirtschaftliche Lage der Bauern verschlechterte sich. Zwischen den
leten eine kurze Erörterung über das seinerzeitige Vorwort von Oberschichten (Klerus und Adel) und den bürgerlich-bäuerlichen
• Baur zu seiner Edition von „De staticis experimentis" und zeich- Mittelschichten trat eine Entfremdung ein.
nen so für ihren Abdruck in dieser jetzt vorliegenden Edition verant- Im 2. Teil, in dem Gaismairs Entwicklung dargestellt wird, kann
wortlich. Bücking ebenfalls durch Auswertung von Archivalien das bisherige

Der Apparat ist dreigeteilt. Der erste gibt alle Abweichungen des Wissen ergänzen oder präzisieren (z. B. Nachweis als Sekretär des

Angelegten Textes an, der zweite weist die von NvK zitierten bzw. ge- Bischofs von Brixen ab März/April 1524). Er entwickelt die These

nannten Schriften und Meinungen nach, der dritte gibt die Parallel- vom revolutionären Lernprozeß Gaismairs, die im Untertitel seines

stellen aus seinen eigenen Schriften an. Im Vergleich zur Edition von Buches angedeutet wird. Dieser Lernprozeß sei durch „die Doppcl-

•-De venatione sapientiae" und „De apice theoriae" fehlt damit deren züngigkeit des Hofrates und dessen Unterstützung durch die oberen

v'ertcr Apparat, der die Wirkungsgeschichte belegte. In der Edition Schichten" eingeleitet worden (61). Die Innsbrucker Gefangenschaft

v°n „De staticis experimentis" sind der zweite und dritte Apparat zu- im September 1525 sei zu seinem Damaskus geworden. Gaismairs

^ntrncngcfaßt ur|d wesentlich kürzer als der zu den anderen beiden Mentalität und Verhalten sei von diesem Zeitpunkt an durch „die

• c nften. Merkmale eines .Sozialrebellcn'" geprägt gewesen (78). Die Radikali-

Die Indices enthalten die von NvK genannten Namen, die im Ap- sierung fand in den schriftlichen Entwürfen einer Landesordnung

Parat zitierten Autoren und deren Werke, die Codices und wiederum ihren Niederschlag. Bücking demonstriert das durch einen Vergleich

e,n ausführliches Wortregister. Versehen und Druckfehler wurden der in einer Abschrift wiederentdeckten Statuten, die Gaismair am

'ur wenige bemerkt. 14. Mai 1525 vor der Neustiftcr Schmiede den Aufständischen

^Diese kritische Edition reiht sich würdig in die Reihe der bisherigen Bauern vortrug (Abdruck: 149-152). von Bücking „der Einfachheit

erke der Opera omniacin und ersetzt nicht nur die längst vergriffene halber" als I. Landesordnung bezeichnet (63). und der eigentlichen,

°n 1937, sondern übertrifft sie bei weitem. Der Hcrausgeberin und d. h. 2., Landesordnung. Es fand ein Wandel von „einem lünktional-

en am Erscheinen dieses Bandes Mitwirkenden sei dafür herzlich arbeitsteiligen monarchischen Ständestaat ... zu einer nach egalitärgedankt
, christlichen Grundsätzen gelenkten, agrarischen Bauernrepublik"

Freitv-r,, „ iii „ „ statt (820. Bücking charakterisiert diesen Wandel auch in Wcber-

icincrg Karl-Hermann Kandier "

sehen Kategorien: Von traditional-ständischer zur charismatischen
Herrschaft (92). Die Phase von 1526-1532 wird als Epilog bezeichnet
und dementsprechend knapp dargestellt.

Nachdem Bücking im 3. Teil Gaismair deutlich konturiert als Bei-
spiel politisierender Verwertung von Geschichte vorgeführt hat, ver-
U^ nR- Jürgen: Michael Gaismair: Reformer-So/ialrebell- gleicht er im 4. (religionssoziologischen) Teil u. a. die Landesordnung
evolutionär. Scine Ro||e jm Tiro|er „Bauernkrieg" (1525/32). mjt den Zukunftsentwürfen der Sozialutopisten. Wichtige Exkurse bewahrt
: Klett-Cotta 1978. 190 S. m. Abb. gr. 8" = Spätmittel- schljcßen dje Arbej(: Zuf Sozialgeschichte der Familie Gaismair. Ab-
s=hungn5 S dmN54 -****** "* ° druck der Statuten („I. Landesordnung"), Abdruck der 2. Landesord-

nung, unter Verwertung aller drei Textversionen (leider nahezu ohne

Klaassen. Walter: Michael Gaismair. Revolutionary and Reformer. Verifizierung der biblischen Bezüge), Übersicht zu Gaismairs Einfluß

Leiden: Brill 1978. X, 156 S. gr. 8' = Studics in Mcdieval and Rcfor- auf die Tiroler Bauernprogramme, Magdalena Gaismairs Brief an den

•Pation Thought.cd. by H. A.Oberman, XXIII. Lw. hfl. 44,-. Senat von Venedig. Übersichten zur Lohn- und Preisstruktur in Tirol

Kirchengeschichte: Reformationszeit