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Ausgabe:

1986

Spalte:

622-623

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Elert, Werner

Titel/Untertitel:

Die Lehre des Luthertums im Abriß 1986

Rezensent:

Petzoldt, Martin

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Theologische Literaturzeitung 111. Jahrgang 1986 Nr. 8

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Preis erheblicher Vereinfachungen zu erfüllen ist. Der Vf. ist sich
dessen bewußt und macht auf den experimentellen Charakter seiner
Darstellung aufmerksam.

Im ersten Hauptteil (Kap. 2-5) skizziert T. drei bezeichnende Phänomene
der neuzeitlichen Geistesgeschichte, die das neue Interesse an
Jesus Christus beeinflußt haben: die Hervorhebung menschlicher Erfahrung
, die das Interesse am historischen Jesus geweckt hat, die Erfahrung
des Bösen in der Geschichte (Weltkriege, Nazismus), die das
Interesse an der Apokalyptik und an der politischen Verantwortung
der Christen hervorrief, und die „Globalisierung" der Geschichte, die
den Dialog mit anderen Philosophien und Kulturen inspirierte. Zu einem
wirklichen Dialog zwischen dem christlichen Glauben und der
Umwelt ist nach T. nur die „zentristischc" Christologie (ein Begriff
von Raymond Brown) fähig, die den Fundamentalismus auf der einen
und die ausschließlich innergeschichtliche Auffassung Jesu auf der
anderen Seite vermeidet. In diese Kategorie gehört dann wohl eine
sehr breite Palette von Theologen, von den katholischen Modernisten
bis zu der dialektischen Theologie oder von Adolf von Harnack bis zu
Urs von Balthasar. •

Was die Methode der Untersuchung christlicher Texte betrifft, hält
T. besonders die Interpretationstheorie von P. Ricceur (und
D. Tracy) für hilfreich, weil sie sowohl der inneren Struktur des
Textes als auch seiner Beziehung zu der in ihm erzählten Geschichte
(referential funetion) entspricht. Diese Theorie ist fähig, auch die anderen
kritischen Untersuchungsmethoden zu respektieren. Was die
historische Erforschung der Evangelien betrifft, stützt sich T. auf die
Regel, die E. Käsemann in seinem Aufsatz „Das Problem des historischen
Jesus" (ZThK 1954) formulierte.

Der zweite Hauptteil (Kap. 6-8) ist den eigentlichen Problemen der
neutestamentlichen Christologie gewidmet. Zunächst klassifiziert T.
die literarischen Gattungen des Neuen Testaments: Die zentrale Rolle
spielen die „proklamativen" (Paulus, z. T. Johannes) und die narra-
tiven Texte (bes. die Synoptiker); die Apokalyptik und die früh-
katholischen Texte (mit der Hervorhebung des Amtes, mit den Haustafeln
usw.) haben eine eher korrektive Funktion. Das Reich Gottes,
das Jesus als ein wandernder Charismatiker verkündigte, stellt u. a.
ein soziales Modell der Solidarität mit den Armen und Unterdrückten
, ein Modell des Lebens in der Harmonie mit der übrigen
Schöpfung und in der Abhängigkeit von Gott dar. T. betont auch, daß
die nachösterliche Verkündigung des Stellvcrtretercharakters des
Todes Jesu Anhaltspunkte im Sendungsbewußtsein Jesu hat
'Kap. 7B), wenn er auch die diesbezüglichen Arbeiten von H. Schürmann
nicht zitiert. Mit der „zentristischen" Christologie hält T. an
der grundlegenden Rolle der Osterereignissc für die Entstehung der
Christologie fest, wobei er mit Recht die These von den miteinander
konkurrierenden Christologien relativiert. - T. unterstreicht bei
Paulus die Kontinuität seiner Theologie mit den älteren Bekenntnissätzen
, und am Schluß dieses Abschnittes weist er auch nach, daß die
Soteriologie (Jesus als Erlöser) und die Christologie (Jesus als Offenbarer
des Willens Gottes) eng zusammenhängen (Kap. 8). In diesen
Abschnitten ist es dem Vf. gelungen, die Beziehung zwischen den zwei
Brennpunkten des Neuen Testaments - der Reich-Gottes-Vcrkündi-
gung bzw. dem Armenevangelium Jesu und dem Osterkerygma, bzw.
der paulinischen Rechtfertigungslehrc - selbständig und überzeugend
zu formulieren.

Der dritte Teil behandelt in den Kapiteln 9-15 Jesus im nach-
neutestamcntlichcn Denken und Handeln. T. stellt in groben Umrissen
die christologischen Auseinandersetzungen der ersten vier Jahrhunderte
der Kirchengeschichte dar und charakterisiert die entstehende
Kirche als eine soziale Größe neuer Art. die jedoch leider
nicht fähig war, der Gefahr des Triumphalismus zu widerstehen. Die
monastische Bewegung und die Reformation haben versucht, die kon-
stantinischc Struktur zu durchbrechen und das Reich Gottes durch
Verkündigung des Gekreuzigten und durch Nachfolge zu vergegenwärtigen
. Es ist ihnen jedoch nicht gelungen, die Kirche aus der Bindung
an die staatliche Macht zu befreien. In seinen Ausführungen

über die Kirche kommt T„ ohne es zu wissen, dem ekklesiologischen
Modell nahe, das die tschechische Reformation schon in den Vier
Präger Artikeln (1420) geprägt hat.

In den Kapiteln 12 und 13 versucht T., die integrative Rolle von
Jesus Christus in dem Dialog mit der Philosophie und mit den Weltreligionen
nachzuweisen, und die letzten zwei Kapitel (14-15) sind
den gegenwärtigen gesellschaftlichen und ökologischen Konsequenzen
der Christologie gewidmet. Hier beginnen die Ausführungen T.s
fraglich zu werden. Neben genauen Schlußfolgerungen und sachlichen
Hinweisen wie z. B. der Betonung der sozialen Verantwortung
der Kirche, der Ablehnung der atomaren Rüstung im Sinne der Erklärung
der amerikanischen Bischöfe und des Weltkirchenrates, begegnen
wir bei der Behandlung sozialer Fragen Urteilen, die durch ein
grobes Mißverstehen der Probleme gekennzeichnet sind. Auf der
einen Seite nennt er zwar die Theologen, die sich für radikale soziale
Reformen (z. B. J. Moltmann) oder für den Sozialismus (z. B.
G. Gutierrez) engagieren, aber am ausführlichsten schildert er das
politische Programm von Michael Novak, der in den Vereinigten
Staaten den Kapitalismus als Bedingung für eine pluralistische Gesellschaft
verteidigt. Theologisch ist T. vielleicht durch eine berechtigte
Angst vor einer Theologie der Genitive motiviert, und das Stichwort
Pluralismus soll signalisieren, daß es sich hier um die Überwindung
des konstantinischen Zeitalters handeln kann. Das ist jedoch nur die
Oberfläche. Praktisch ist heute die Ökonomie zum Hauptinstrument
der Macht geworden. Und die pluralistische Theorie Novaks ist lediglich
gegen eine Kritik am Kapitalismus eingestellt. Die mehrfachen
Zitate von Eric Voegelin, der jede Kritik der westlichen Gesellschaft
für eine ideologische Verseuchung hält, zeigen, daß T. im Banne einer
recht ausschließlichen Ideologie geblieben ist, obwohl er gerade dies
theologisch überwinden und die Kirche aus der Abhängigkeit von
Macht befreien wollte. Ohne eine Analyse des Zusammenhangs zwischen
Ökonomie und Politik und ohne das Gespräch mit Kirchen und
Theologen, die in den nichtkapitalistischen Ländern leben, kann man
nicht über die christologisch motivierte wirtschaftliche Verantwortung
der Kirche sprechen. - Die Verteidigung der feministischen Bewegung
, die im Rahmen der katholischen Kirche zweifellos revolutionär
klingt, und die ökologischen Ausführungen können das Defizit
einer zu breiten und zu einseitigen Applikation der theologischen
Ausführungen nicht verdecken.

Prag Petr Pokorny

Eiert, Werner: Die Lehre des Luthertums im Abriß. Mit einem Geleitwort
von Gerhard Müller. Nachdruck der 2. Aufl. Erlangen: Martin
Luther-Verlag 1978. XIV, 158 S. 8°. DM 16,-.

Als Nachdruck der 2. Aufl. von 1926 wurde das 1924 ursprünglich
erschienene kleine Werk erneut vorgelegt. Es ist ein Dokument der
Bemühung um zeitgenössische Sprache in den wichtigsten Fragen der
Systematischen Theologie. Eiert gibt eine äußerst prägnante Skizze,
die durchaus die Sprache der zwanziger Jahre in das dogmatische
Überlegen einbezieht. Mag dem heutigen Leser dadurch manches
fremd erscheinen, so zeigt sich doch, daß das Erbe des Neuluthertums
besonders im Gespräch zeitgenössischer Ansätze mit Aussagen
Luthers besteht. Das ist um so bemerkenswerter, als die zeitgleich entstehende
Luther-Renaissance zunächst ein stark repristinatorisches
Interesse zeigte. Elerts Skizze ist also weder eine „Theologie Luthers",
noch ein altprotestantisches „Compcndium locorum theologico-
rum", aber auch keine „Lehre der Lutherischen Kirche". Es ist die Bemühung
, die wichtigsten systematisch-theologischen Fragen im besten
Sinne zeitgemäß auszusagen, ohne die Strenge des Gedankens
preiszugeben. Die wesentlichen Eckpfeiler dazu waren für Eiert der
Ausgangspunkt bei den Nöten der Menschen seiner Zeit, des Menschen
„Kampf mit Gott", die „Versöhnung" und die „Freiheit". Daß
Eiert durch den ungewöhnlichen Aufbau ebenso Aufsehen erregte,
wie durch seine Entscheidung, die Rechtfertigungsbotschaft nicht
uninterpretiert zu lassen, verwundert uns Heutige nicht mehr: Den