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Ausgabe:

1986

Spalte:

599-601

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Fichtenau, Heinrich

Titel/Untertitel:

Lebensordnungen des 10. Jahrhunderts 1986

Rezensent:

Haendler, Gert

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599

Theologische Literaturzeitung III. Jahrgang 1986 Nr. 8

600

Blomberg. Tradition and Redaction in the Parables of the Gospcl of Thomas,
177-205.-D. F. Wright, Apocryphal Gospels: The .Unknown Gospcl' (Pap.
Egerton 2) and the Gospel of Peter. 207-232. -D. A. Hagner, The Sayings of
Jesus in the Apostolic Fathers and Justin Martyr, 233-268. -J. Draper, The
Jesus Tradition in the Didache, 269-287. -G. H. Twel ftree, Jesus in Jewish
Traditions. 289-341. - M. J. Harris, References to Jesus in Early Classieal
Aüthors, 343-368. - R. Bauckham, The Study of Gospel Traditions outside
the Canonical Gospels: Problems and Prospects, 369-403. - R. Bauckham,
A Bibliography of Recent Work on Gospel Traditions outside the Canonical
Gospels, 405-419.

• T. H.

Kirchengeschichte: Mittelalter

Fichtenau, Heinrich: Lebensordnungen des 10. Jahrhunderts. Studien
über Denkart und Existenz im einstigen Karolingerreich. 2 Halbbände
. Stuttgart: Hiersemann 1984. IX, VII, 614 S. gr. 8" = Monographien
zur Geschichte des Mittelalters, 30, 1 u. 2. Lw. je
DM 198,-.

Der Wiener Historiker formuliert in der Einleitung: „Fernziel wäre
eine vergleichende Gesamtdarstellung der Zustände in jenen Ländern,
die gerade aus der Gemeinschaft des Karolingerreiches entlassen
waren und ihre Eigenständigkeit zu entfalten begannen. Vorerst mag
es genügen, Problemstellungen und Ergebnisse der deutschen, französischen
und italienischen Forschung zusammenzustellen . . . Hier
sollen Versuche gezeigt werden, das menschliche Dasein und vor
allem die Beziehungen zur Umwelt einer strengen und dauernden
Ordnung zu unterwerfen." Kirchengeschichtliche Zusammenhänge
spielen eine große Rolle und sollen in der Rezension hervorgehoben
werden. Fichtenau ordnet die Fülle seiner Beobachtungen unter sechs
Begriffe.

Das Stichwort „Ordo" (11-110) betrifft viele Zusammenhänge in
Städten und Kirchen, Synoden und Klöstern: „In der Sprache unserer
Zeit könnte man von einer hochgradigen Ritualisierung des Sozialverhaltens
reden, die in Cluny ihren Höhepunkt erreichte, aber schon in
der Regel des heiligen Benedikt ihre Grundlage hatte" (36). Dazu
gehören soziale Gesten: Gnade und Ungnade, Erniedrigung und
Kniefall, Lehens-, Friedens- und Versöhnungskuß, Lobpreis für
Schenkende und Totcnklage, Buße und Barfüßigkeit, der Bischofsstab
und ähnliche Symbole. Das „Entgegenkommen . . . war einst die
wichtigste Form der Ehrung" (76). Huldigung und Gefolge kam dem
Herrscher zu, doch war auch der Klerus „gewiß nicht frei von
Prestigedenken und der Freude an einem zahlreichen Gefolge" (81).
Kirchengebäude und Liturgie sollten kultisch repräsentieren, oft
wurde „das Kreuzesholz zum triumphalen Symbol und Herrschaftszeichen
des Gottkönigs Christus" (108). Dagegen kamen asketische
Tendenzen nicht an. Erst im 12. Jh. „wird die Idee der Armut und
Schlichtheit des wahren Christentums, auf den Kult und seine
Objekte bezogen, zu einer Realität gestaltet" (109). Das Wort
„Familie" betrifft u. a. Eheverbote, Zölibat und das Problem der
Priesterkinder. Die Klosterfamilie hatte „einen Vater und Brüder,
aber keine Mutter" (165). Gebetsbruderschaften waren wichtig (177),
Das Patenamt in der Taufe begründete geistliche Verwandtschaft

(178) . Ein Bischof war mit seiner Kirche „verheiratet", der Übergang
zu einer anderen Kirche konnte als „Ehebruch" angegriffen werden

(179) . - Das 3. Stichwort „Nobilitas" (185-323) nennt einzelne
Adlige, die mönchischen Idealen folgten. Meist kam es jedoch zu
frommen Stiftungen, „denn der Stifter und seine Familie standen zuoberst
im Rang der Empfanger von Gebetshilfe" (204). Das Königtum
war weithin sakral begründet, man spricht von einer „französischen
Königsmystik" (222). Zur Nobilitas gehörten die Bischöfe, die fast
ausschließlich aus dem Adel stammten (248). „Je mehr weltliche
Wirkungsbereiche dem Bischof zuwuchsen, um so wichtiger wurde
seine Idoneität auf diesem Gebiet" (261). Große Bischofskirchen
„steigerten das Prestige des Bischofs nicht nur gegenüber König und
Amtskollegen, sondern auch bei jenen Schichten, aus denen sich die

bischöflichen Vasallen rekrutierten" (274). Dem Tod eines Bischofs
kam große Bedeutung zu (288-292). Domkapitel waren immer
wieder reformbedürftig. Es gab durchaus geistliche Anforderungen,
„aber sie traten zurück hinter einem Lebensstil, der auch dem Edlen
wohl anstand. Hier war nicht Demut die Hauptsache, sondern Gehorsam
, nicht Armut, sondern das Maßhalten im Gebrauch der irdischen
Güter" (302). Adlige Klosterdamen haben geheiratet; möglicherweise
bestand kein Gelübde, so daß „ihnen jeder Gewissenskonflikt erspart
blieb" (305). Sie haben sich mitunter viel herausgenommen, weil sie
wußten, „daß ihre Sippe hinter ihnen stand" (307). Die Grenze
zwischen Laien und Mönchen war nicht streng. Streitigkeiten
zwischen Äbten und Bischöfen führen F. zu dem Satz: „Auf beiden
Seiten regierte ein Herrentum, das seinen ihm zukommenden Platz
reklamierte, mit Mitteln des Rechts und wenn nötig auch mit Gewalt"
(323).

Der 2. Halbbd. beginnt mit dem Begriff „Religio". Dieses Wort
bedeutete oft „das Ordensleben nach der Regel, das Gesetz für die
Lebensform der Gebundenheit an Gott, an das Gebot des Abtes, an
einen Ort und einen streng geregelten Tagesablauf" (327). Es gab
Eremiten und Reformer, Konservative und Ritualisten. Als Ergebnis
formuliert F.: „Das Experiment einer alternativen Lebensordnung
hatte seine natürlichen Grenzen . . . Nach Benedikt von Nursia und
Benedikt von Aniane war die Reformbewegung des 10. Jahrhunderts
der 3. große Aufschwung, ein Ziel zu erreichen, dem man nur in gewissem
Maß nahekommen konnte" (346). Problematisch war oft das
Verhältnis des Klosters zur Außenwelt. „Benedikt von Nursia hatte
seinen Mönchen eingeschärft. Fremden gegenüber gastfreundlich zu
sein, wie wenn Jesus Christus selbst zu ihnen gekommen wäre, und ein
besonderes Empfangszeremoniell vorgeschrieben. Er hatte kaum
daran gedacht, daß einst ganze Kalvakadcn von Hochgestellten
erscheinen würden, Männer und Frauen. Das ließ sich durch keine
Reform ändern, nicht in Burgund und noch weniger in den Ländern
königlicher Kirchcnhcrrschaft" (363). Die vorgeschriebene Handarbeit
wurde oft „zur traditionellen Geste" (367). Bücher waren kostbar
: man war „darauf angewiesen, fast alle benötigten Texte im
Kloster selbst herzustellen" (382). Florilegien und Kurzfassungen
waren wichtig, antikes Bildungsgut sollte weitergegeben werden, die
artes liberales behielten ihre Bedeutung (390-396). Insgesamt wertet
F. den Bildungsstand positiv und verweist auf die Gefahr: „Es hätte zu
einem frommen Analphabetentum kommen können ähnlich jenem
mancher Eremiten. Da war es doch wohl besser, daß es Klosterschulen
und den Lehrgang der artes gegeben hat" (396). - Das 5. Stichwort
„Vulgus" setzt mit dem Volksglauben ein: Volksbildung. Unglaube
und Aberglaube, Gottesurteile und Teufelserscheinungcn kommen in
den Blick. Germanische Gottheiten lebten weiter (413IT). Die Beachtung
wunderbarer Erscheinungen war kirchlich zulässig (419). „Die
Grenzen zwischen schwarzer und weißer Magie" waren llicßcnd
(423). Ausführlich geht F. auf Heilige und Reliquien ein (425-436).
noch ausführlicher auf „Bäuerliche Existenz" (437-471) sowie
„Schichtung und Mobilität" (472-496). - Stichwort 6 „Confusio"
geht aus von Nachrichten über schlechte und perverse Menschen
(501). Es gab Konflikte und Normen. Exkommunikation. Anathem
und Interdikt wurden angewandt (512-519). Die Quellen sind leider
„zu wortkarg, als daß sie uns Einblicke in das Seelenleben unsicher
gewordener Menschen eröffnen würden" (522). Vereinzelt hören wir
von Ketzern, mitunter auch von Übertritten zum Judentum. Der Abschnitt
,,Lüge und Betrug" geht davon aus, daß einerseits Heiligen-
viten oft „Wundersames" erzählen, andererseits Fälschung und Lüge
streng verurteilt wurden (527). Es gab Eidbruch und Meineid, aber
auch Selbstverfluchung für solchen Fall. „Man setzte immer wieder
sein Seelenheil zum Pfand oder andere hohe Güter" (539). Der
Abschnitt „Unrechte Gewalt" erörtert Krieg und Fehde, Mord und
Totschlag sowie einen Hinweis auf den Gottesfrieden (564-566). Ein
Ausblick geht in das I 1. Jh., das mehr Bewegung brachte: „Neuartig
war der Aufschwung aller Kräfte, eine Art geistiger Rodungsbewegung
nach langen Zeiten der Stagnation und Bewahrung traditioneller