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Ausgabe:

1986

Spalte:

527-528

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Greschat, Martin

Titel/Untertitel:

Die neueste Zeit. I u. II 1986

Rezensent:

Meier, Kurt

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Seite 1

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527

Theologische Literaturzeitung III. Jahrgang 1986 Nr. 7

528

Dies jedoch verdeutlicht, daß Wcsleys "Works" auch für die nicht-
methodistischen Kirchen ihre Bedeutung haben, Seine Verkündigung
ist nach wie voraktuell, und möglicherweise begegnet uns in ihr der
Ton. die Sprache und das Christentum, durch die sich auch der
Mensch (oder wenigstens ein Teil der Menschen) des ausgehenden
20. Jh. angesprochen fühlen.

Werdau KarlZehrer

Greschat. Martin [Hg.]: Die neueste Zeit, I. u. II. Stuttgart-Berlin
-Köln-Mainz: Kohlhammer 1985. 360 S.. 20 Taf. u. 332 S..
20 Taf. gr. 8° = Gestalten der Kirchengeschichte. 9.1 u. 2. Lw. je
DM 98.-.

Das Projekt ..Gestallen der Kirchengeschichte" nähert sieh relativ
rasch seinem Abschluß. Die hier anzuzeigenden Bände ..Die neueste
Zeit: Von der Französischen Revolution bis zum Ersten Weltkrieg"
decken sich mit einem Hauptlbrschungsgebiet des Hg. (vgl. M. Greschat
: Das Zeitalter der Industriellen Revolution. Das C hristentum
vor der Moderne. Stuttgart 1980; vgl. ThLZ 108. 1983. 513-515).
Eine längere Einleitung im Band 9.1 (S. 7-42) dient der Charakterisierung
des Zeitraums, den die 43 biographisch konzipierten Beiträge
repräsentieren. Die Darstellung über Adolf Stoecker stammt vom Hg.
selbst (II. S. 261-277).

Die Auswahl der Exponenten der neueren Christentumsgeschichte
im 19. und beginnenden 20. Jh. versteht sich als sozialgeschichtlich
vermittelte Kirehengeschichtsschreibung. wobei der dominierende
europäische Horizont singulär überschritten wird (vgl. Beitrag über
A. Lincoln). Dem Leitbild kulturgeschichtlich integrativerSichtweise
verpflichtet ist die betonte Einbeziehung von sozial reformerisch relevanten
Persönlichkeiten der Kirchengeschichte (bes. im Bd. 2: Weitling
, Wichern, v. Ketteier. Kolping. Livingstone, Chr. Blumhardt d. .1.
u. a.). Den ökumenischen Aspekt läßt die ausgewogene Auswahl
evangelischer, auch anglikanischer und römisch-katholischer Gestalten
erkennen. Der russisch-orthodoxe Bereich ist - kullur- und
literarhistorisch akzentuiert - in Dostojewski und Tolstoi präsent.

Theologiegeschichtlich werden Schleiermacher, Tholuck, F. Chr.
Baur, Richard Rothe, A. Ritsehl und M. Kahler berücksichtigt; hier
teilweise Nachdruck von bereits in der Publikation M.Greschats
„Theologen des Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert" (Urban
-Taschenbücher. Bde. 284 u. 285. Stuttgart 1978) dargestellter
Universitätstheologen. Philosophiegeschichtlich wird eigentlich nur
Hegel vorgestellt; D. Fr. Strauß und Kierkegaard sind in ihrer theologiehistorischen
Vermittlung berücksichtigt. In der Regel ohne Anmerkungen
(Zitate sind nicht nachgewiesen) erweisen sich die bibliographischen
Hinweise am Ende der einzelnen Beiträge als forschungs-
rclcvant und können auch im akademischen Bereich Quellen- und
Literaturorientierung bieten. Biographische Gestaltung der Kirchengeschichte
wie hier hat den Vorteil, daß die Beiträge vornehmlich an
Spezialisten vergeben werden können. Naturgemäß läßt sich eine
methodisch-konzeptionelle Konformität des Ganzen so nicht voll erreichen
. Doch gewinnen die Beiträge durchweg - obschon hier auf
Einzelbesprechung verzichtet werden muß - repräsentative
Signifikanz.

Die christentumsgeschichtliche Konzeption des Hg. vermißt im
19. Jh. eine einheitliche Entwicklungslinie. Das ist ihm schon durch
den länder- und konfessionsübergreifenden Ansatz seiner Geschichtsbetrachtung
verwehrt. Er sieht vielmehr „Niedergang und Aufstieg.
Entkirchlichung und Entchristlichung sowie die Festigung der Kirchlichkeit
und die Intensivierung der Frömmigkeit" (S. 7) als Trends, die
„nicht einfach parallel", sondern „erheblich differenzierter und auch
komplizierter" verliefen (S. 7). Dabei sieht M. Greschat - als heuristisches
Prinzip zur Erfassung der Integrationsbemühung des neuzeitlichen
Christentums im 19. Jh. verstanden - Programmatik und Tendenz
einer umfassenden Rcchristianisierung am Werke. Trotz neuer

Initiativen und wahrnehmbarer Aktivitäten frömmigkeitsmäßiger,
auch theologischer und besonders sozialrclörmcrischer Art. die regional
unterschiedlich, mitunter auch übergreifend beobachtbar sind
(Äußere und Innere Mission. Erweckung. Vereinsbildung usw.). bleiben
diese Rechristianisierungsbemühungen konzeptionell weitgehend
retrospektiv besetzt und geraten angesichts einer zunehmend divergenten
Bewegungsrichtung von Kirche und Gesellschaft in mannigfache
Frustrationen. Das Dilemma ergibt sich gerade auch dort, wo
christliche Gesellschaftspioniere entweder kirchlich isoliert oder aber
für die Arbeiterschaft sozialrcformerisch uninteressant wurden
(S. 40). Geschichtskritisch wird letztlich auf das Problem hingewiesen
, daß die tendenziell pluralistische Entwicklung des europäischen
und nordamerikanischen Christentums im 19. Jh. nicht in
einer angemessenen Weise auf die Erfordernisse der Zeit einzugehen
vermochte. Die Frage, ob der Aufweis einer dekompositorischen Tendenz
der neueren Christentumsgeschichte, der gegenüber die Rc-
christianisierungskonzeption der Kirchen und christlichen Gruppen
selbst in ihren führenden geistigen Repräsentanten unwirksam oder
gar illegitim erscheint, nicht letztlich doch einer verfallsgeschicht-
lichen Interpretation des Säkularisationsprozesses verhaftet bleibt,
muß gestellt werden. Wenn „intellektuelle Mannigfaltigkeit und geistiger
Reichtum" (S. 42) durch die „Gestalten der Kirchcn-
geschichtc". die die beiden Bände repräsentieren, zum Signum dieser
Epoche gehören, dann müßte die „Rechristianisierung der Gesellschaft
" (vgl. auch die Beurteilung Sloeckers) gewiß als überholtes
Modell religiöser Sinnvermittlung gelten und die dort und sonst oft erstrebte
Volkskirchlichkeit zunehmend an soziologischen Defiziten
scheitern, wie sie der modernen Kirchlichkeit eigen sind. Das braucht
aber nicht schlechthin als religiöser Funktionsverlust des Christentums
verstanden zu werden.

Die weitreichende Pluralität der Christentumsauflassungen, wie sie
in den biographischen Beiträgen zum Ausdruck kommen, spiegelt die
Mannigfaltigkeit des religiösen Spektrums dieser Phase wieder und
muß historisch als Ausdruck der gesamtgeschichtlichen Differenzierungakzeptiert
werden. Aufmerksamer Lektüre und interessiertem
Vergleich der verschiedenen kirchen- und kulturgeschichtlichen Beiträge
erschließt sich die neuere Kirchengeschichte als ein Vorgang
einer vielschichtigen indirekten, also bloß mittelbaren Beeinflussung
des geschichtlichen Prozesses durch das Christentum. Insofern ist sie
nur sehr bedingt als religiöser Wirkungsverlust zu interpretieren.

Zur Orientierung des Lesers folgt hier eine Liste der Autoren und
ihrer Beiträge:

Bd. 9.1: Martin Greschat: Die neueste Zeil: Von der Französischer] Revolution
bis zum Ersten Weltkrieg. Einleitung; W. R. Ward: John Wesley: G.
Schwaiger: Johann Michael Sailer; F.W. Kantzenbaeh: Baron Hans
Ernst von Kottwitz; H.-J. Birkner: Friedrich Schleiernlacher; Gl. Frey:
Georg Friedrich Wilhelm Hegel: J. Köhler: Johann Adam Möhler: R.
Lcucnberger: Alexander Vinct: St. J. Brown: Thomas Chalmers; L. Le
Duillou: Felicitc de Lamennais; K. E. Bugge: Nicolai Frederic Severin
Grundtvig: K. G. Steck: Ferdinand Christian Baur; R. Postel. Amalie
Sieveking: H. Berding: Ernst Ludwig von Gerlach: D. Rössler: Richard
Rothe: V. C otize m ins: Ignaz von Döllinger; H.-W. K r u m wiede : August
Ci. Tholuck; A. G lade n : Theodor Fliedncr; J. Kcnt: John Henry Newman;
W. BuUmann: Friedrich Julius Stahl: G. Schäfer: Johann Christoph
Blumhardt. - Bd. 9.2: KG. Robb ins: Henry Edward Manning; J. F. Sand-
berger: David Friedrich StrauU: W. von Moritz: Wilhelm Wcitling: H.
Ta la z ko : Johann Hinrich Wichern: R. C. Wa llon : Abraham Lincoln: (i.
Müller: Wilhelm Löhe: E. Iscrloh: Wilhelm Emanuel von Kettelet". J.
Slok: Söa-n Kierkegaard: A. (Huden: Adolf Kolping: A. F. Wa 11 s: David
Livingstone; F. W. Graf: Johannes Rongc; U. Busch : Fjodor Dostojewsky:
W. Trillhaas: Albrecht Ritsehl: X. de Monlclos: Charles Lavigeric; U.
Busch: Leo Tolstöj; F. Christ: Henry Dunant; W. R. Ward: William
Booth: H. Lehmann: Friedrich von Bodelschwingh; M. Greschat: Adolf
Stoecker; F. M i Iden be rge r: Martin Kahler; C. Augustijn: Abraham
Kuypcr.W R.Ward: Dwight L. Moody:Ch.Gremmcls: Christoph Blumhardt
d. .1. Die Bände sind vorzüglich mit Porträts ausgestaltet. ■

Leipzig Kurt Meier