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Ausgabe:

1986

Spalte:

30-34

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schnelle, Udo

Titel/Untertitel:

Gerechtigkeit und Christusgegenwart 1986

Rezensent:

Harnisch, Wolfgang

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Theologische Literaturzeitung III. Jahrgang 1986 Nr. 1

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Zu den Past. stellt der Vf. die Frage, ob die Ethik noch im Kerygma
verankert sei oder sich zunehmend verselbständigt habe, ob die verstärkte
Bedeutung der Ethik die Folge einer bereits verblassenden
Naherwartung sei, ob die Amtsentwicklung in den Past. eine legitime
Entwicklung oder frühkatholischer Abfall gegenüber Jesus und Paulus
sei. ob das Amts-Charisma tatsächlich die übrigen Charismen in
der Gemeinde verdrängt habe und ob die Ansätze zu Recfitsbildungen
eine unnötige Einengung der ursprünglichen christlichen Freiheit
seien (S. 16). Der Vf. geht von der nichtpaulinischen Verfasserschaft
der Past. aus (jedoch ein unmittelbarer Paulusschüler) und bestimmt
die Reihenfolge ihrer zeitlichen Entstehung in Anknüpfung an den
Kommentar Hermann von Sodens (1891) folgendermaßen: 2. Timotheus
, Titus. I. Timotheus. Er geht davon aus, daß die Ethik, die
Anfänge der Ämter und des Rechtes von der konkreten historischen
Situation her zu beurteilen seien: Die Bürgerl ich keil der Past. sei in
hohem Maße eine Reaktion auf das Schwärmertum der Irrlehrer
(S. 30).

Er gibt eine sog. Bürgerlichkeit der Past. also durchaus zu. wertet sie
aber nicht negativ im oben charakterisierten Sinne, sondern positiv als
berechtigte Abwehrhaltung angesichts von vorhandener Irrlehre.
Diese Vorentscheidung für die Interpretation hat natürlich zur Folge,
daß die bisherigen kritischen Einwände der Forschung gegen die Past.
als Dokumente eines beginnenden Frühkatholizismus weitestgehend
entschärft werden: So werden die Tugenden der Past. nicht als stark
verbürgerlicht angesehen, sondern angesichts der Situation der Ketzerbekämpfung
lediglich als alternativer Lebensstil zu dem der Irrlehrer
und als eine werbende Lebensführung gegenüber den Außenstehenden
(S. 97). Die Amtsträger sollten sich gerade durch Bewährung
in den alltäglichen Dingen vom Verhalten der Irrlchrer abheben
(S. 83).

Das Problem der Parusieverzögerung klinge in den Past. nicht an,
denn Aussagen von einer längeren Zeitdauer gehörten lediglich zu den
Personalnotizen. Die Entwicklung einer Ethik für das alltägliche
Leben habe seine Ursache nicht in der Preisgabe der Naherwartung,
von der zwar nicht explizit die Rede sei. aber es gebe doch eschatolo-
gischc Begriffe und Wendungen mit einer esehatologischen Motivierung
der Paraklese (S. 1070- Der Vf. setzt die Ethik der Past. weitgehend
in Parallele zur alttcstamentlichen Weisheitsliteratur und
nennt drei Ursachen für die hier relativ breite Entfaltung der Ethik:
Das Denken des Autors in hellenistischer Umwelt, die Frontstellung
gegen die Irrlehrer und die fortgeschrittene Situation gegenüber Jesus
und Paulus mit einer jetzt notwendigen Auseinandersetzung mit den
bestehenden Ordnungen, wobei die Familien-Ethik zwar eine Akzentverschiebung
, aber keinen Gegensatz, gegenüber Jesus und Paulus
bedeute (S. 1201).

Im Amtsverständnis sieht der Vf. zwar einen größeren Unterschied
zwischen den Past. und den echten Paulinen (S. 1360, lehnt es aber
auch hier ab, von Abfall oder Verbürgerlichung zu sprechen (S. 131),
weil es mehrere Gründe für die legitime Weiterentwicklung gebe: Das
Aussterben der Erstverkündiger und die Notwendigkeit der Suche
nach neuen Gewährsmännern, den verstärkten Kampf gegen die Irr-
'ehre und die Institutionalisierung als soziologische Notwendigkeit
infolge der Vergrößerung der Gemeinden (S. 140). Käsemanns These,
der Gebrauch des Charisma-Begriffes zeige, daß ein der Gemeinde
gegenüberstehendes Amt zum eigentlichen Geistträger geworden sei,
w'fd vom Vf. abgelehnt, da der Sache nach alle Charismen z. B. aus
R°m 12,6-8 auch in den Past. vorkämen (S. 142, Anm. 6t). Somit
dürften die Past. nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Verwendung
des Begriffes Charisma gelesen werden. Zwar stehe das Amt in verstärktem
Maße der Gemeinde gegenüber, aber nicht in der Absicht.
sie zu entmündigen, sondern zur Verteidigung der „gesunden Lehre"
(S. 147).

Nur mit Vorbehalt möchte der Vf. von „Recht" im Zusammenhang
m't konkreter Weisung sprechen. Wohl gebe es einzelne Anordnungen
, aber keine unmittelbar damit verbundenen Sanktionen bei deren
Übertretung (S. I49f). Im Neuen Testament gebe es kein geschlossenes
Rechts-Corpus, sondern konkrete Anweisungen nur in paräne-
tischem Kontext: Somit sei „Recht" nur Teil der Paränese mit fließendem
Übergang (S. 150). Es gebe im Neuen Testament keinen
Gegensatz von Geist und „Recht", sondern das „Recht" diene der
Erhaltung des rechten Geistes, indem es die Einhaltung von Anordnungen
verlange, die bewußt gegen den betreffenden Ungeist gerichtet
seien (S. 170).

Es ist nach Meinung des Rezensenten zwar ein Verdienst des Vf.,
daß er den in der Forschung der letzten Jahrzehnte übermäßig stark
akzentuierten Gegensatz zwischen den echten Paulinen und den Past.
als in dieser Schärfe nicht begründet aufgewiesen hat, aber er ist doch
wohl auch der Versuchung erlegen, die zweifellos vorhandenen
Gegensätze allzu sehr zu glätten. Dabei wäre es auch nötig gewesen,
das Motiv der Abwehr von Irrlehre duch die Past. stärker zu reflektieren
. Der gebrauchte Irrichrebegriff bleibt ungeklärt bzw. lehnt sich
anscheinend ganz an den der altkirchlichen Kirchenväter an. Es hätte
auch gefragt werden müssen, ob die so scharfe Ablehnung anderer
Lehre durch die Past. wirklich so berechtigt war und ob nicht auch die
Ketzerei berechtigte Anliegen zur Geltung bringen kann, die von der
Rechtgläubigkeit vernachlässigt werden. Weiter macht der Vf. zwar
darauf aufmerksam, daß eine Reihe von Regelungen innerhalb der
römisch-katholischen Kirche, die heute wieder auf ihre Berechtigung
hin befragt werden, nicht durch die Past. gedeckt werden können, weil
ihre Anweisungen durch die damalige Situation bedingt gewesen
wären und nicht auf heutige Verhältnisse übertragbar seien (S. 177):
Das Wiederverheiratungsverbot für Diakone. der Zölibat der Priester,
die kirchlichen Regelungen für Geschiedene und Wiederverheiratete,
der Akolythendienst der Frau u. a. Zwar greift er damit in die gegenwärtige
Diskussion ein, kann sich zu den angesprochenen Problemen
angesichts des zur Zeit wieder verstärkt konservativen Zuges in der
römisch-katholischen Kirche aber nur zurückhaltend und vorsichtig
äußern.

Berlin Joachim Rohde

Schnelle, Udo: Gerechtigkeit und C'hristusgegenwart. Vorpaulinische
und paulinischc Tauftheologie. Göttingen: Vandenhoeck &
Ruprecht 1983. 279 S. gr. 8' = Göttinger theologische Arbeiten, 24.
Kart. DM 53,-.

Die von G. Strecker angeregte Göttinger Dissertation fragt nach der
Bedeutung der urchristlichen Tauftraditton für Entwicklung und
Anliegen der paulinischen (pln) Theologie. Vf. sucht nachzuweisen,
daß sich der Gesamtentwurf pln Denkens einer Reflexion der Tauferfahrung
verdankt. Nur wenn dieser Zusammenhang bedacht wird
(so die These), tritt die einheitliche Signatur pln Theologie zutage.
Dann begegnet der Apostel nicht als „Mystiker" (A. Schweitzer),
„Gnostiker" (R. Reitzenstein) oder christlicher „Apokalyptikcr"
(E. Käsemann), sondern er gibt sich als ein Exeget der Taufe und insofern
als Pneumatiker im erkennen: „Auch Paulus verstand sich als ein
vom Geist Ergriffener, der den Geist besitzt und nach der Maßgabe des
Geistes lebt und handelt. Für ihn ist die Taufe Primärdatum christlicher
Existenz, und die mit der Taufe und damit mit dem Geistempfang
verbundenen Anschauungen bilden den durchgehenden
Denkhorizont seiner Theologie. Diese Schlußfolgerung ergibt sich,
wenn man den unauflöslichen Zusammenhang zwischen Taufe und
Geistverleihung bedenkt, beachtet, daß die ev Xptaxtp-Vorstellung als
das Kontinuum paulinischer Theologie überhaupt ursprünglich mit
der Taufe verbunden ist und wenn man schließlich die . . . große
Bedeutung der Taufe für die paulinische Soteriologie, Ethik und
Ekklesiologie berücksichtigt. Taufe und Geistempfang gehören somit
für Paulus zu den Urdaten seines Denkens als christlicher Theologe"
(164f). Demgegenüber erscheint die Rechtfertigungslehre des Gal und
Röm als ein situationsbedingtes Spätprodukt pln Theologie. Durch
die besondere Gesprächslage einer thcol. Kontroverse (Gal) erzwungen
, übernimmt sie in erster Linie kritische Funktion. Sie versteht sich
primär als ein „neues Argumentationsmittel für eine neue Situation".