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Ausgabe:

1986

Spalte:

512-513

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schmithals, Walter

Titel/Untertitel:

Die Briefe des Paulus in ihrer ursprünglichen Form 1986

Rezensent:

Schenke, Hans-Martin

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Theologische Literaturzeitung III. Jahrgang 1986 Nr. 7

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Wie sehr dasselbe martyriologische Modell auch das Selbst"
Verständnis des leidenden Apostels Paulus und sein Verständnis von
Gemeinde als "suffering Community" bestimmt, zeigen die beiden
Schlußkapitel 'Pcrsecution and the Apostle' (93-107) und 'Persecu-
tion and the Church' (107-118) an drei Aspekten auf: Gal6,17;
2Kor 6 und 1 1: Phil 1.20 weisen die Verlblgungsleiden des Paulus "as
evidenee of zeal for the Lord" aus (93), die seine apostolische Autorität
untermauern: entsprechend ist das Leiden der Gemeinde nach
IThess 3.1-4: Phil 1.29 "proof of their zeal for the Lord" (107).
"evidenee that they were devoted to the Lord Christ" (108). Das Leiden
des Paulus ist nach 1 Thess 2.18: 1 Kor 15.32. das der Gemeinde
nach IThess 3,5: Phil 1,27 Teil des kosmischen Kampfes. Schließlich
weist die cschatologische Perspektive der Apostclleiden (v. a. nach
Phil 1.23: Kol 1.24) wie des Leidens der Gemeinde (v. a. nach
IThess 4) auf die Märtyrertheologie zurück. Bei alledem ist Christus
der "protomartyr" (95). das Leiden des Paulus wie das der Gemeinde
"imitationofChrist"(106.109).

Die Stärke und das Recht des Buches liegen m. E. vor allem darin,
daß es die in der Exegese (und Verkündigung) allzuoft verdrängten
martyriologischen Aspekte der pln. Theologie sehr nachdrücklich in
Erinnerung ruft: In der Tat betrachtet Paulus sein Leiden und das
seiner Gemeinden primär unter dem Aspekt der angefeindeten
Zeugnisexistenz für Christus und scheut sich keineswegs, diese als
mimesis des Gekreuzigten zu identifizieren, der in seinem Leiden
selbst gehorsam den Zeugnisweg Gottes ging. Daneben bietet P. eine
ganze Reihe interessanter exegetischer Beobachtungen und Einsichten
. Andererseits nötigen Durchführung und Ergebnisse der
Untersuchung aber auch zu etlichen kritischen Rückfragen:

So ist m. E. schon die Kost legung auf die .jüdische Märtyrcrthcologic' als Traditionshintergrund
problematisch, ist diese doch (wenn man sie überhaupt als
feste Größe ansehen kann) nur ein Ausschnitt aus dem breiten Spektrum der
atl.-jüd. Leidensdeutungen, auf das Paulus zurückgegriffen hat. Schon die (von
P. kaum beachteten) vielen Zitate aus einschlägigen Texten des AT lassen es
geraten erscheinen, die zwischenteslamcntlichen Texte nicht von ihrem atl.
Traditionsboden, besonders der in den Psalmen verwurzelten Tradition vom
.leidenden Gerechten', zu isolieren. Hier wäre dilferenzierter zu untersuchen
und zu urteilen, auch im Blick auf die an Jes 53 orientierten Exegesen, gegen die
P. seine martyriologische Deutung mehrfach als Alternative ausspielt, m. E. zu
un recht.

Auch die ntl. Exegesen leiden m. E. an einer gewissen Engführung: Nur leiten
werden die Kontexte der Einzelstellcn berücksichtigt, vor allem aber verstellt
die Vorgabe des martyriologischen Modells oft den Blick für die Komplexität
der Texte wie des pln. Leidensverständnisses insgesamt. So bleibt 2Kor4.7ff
ganz, außer Betracht, obwohl gerade hier das Verhältnis von Christus- und
Apostclleiden besonders intensiv bedacht wird: für Rom 3.25 wird die alte
Deutung von hilasterion im Anschluß an 4Makk 17 ungeachtet aller Gegenargumente
der neueren Lorschung durchgehallen; äußerst fragwürdig erscheint
mir auch, wie P. Rom 8.32 zum Beleg für Jesu Märtyrertod macht (68f), ja sogar
daraus schließt: "his martyrdom Continus Jesus as the Son of God" (78). Man
gewinnt den Eindruck: Außer für den martyriologischen Gedanken bleibt hier
für kaum einen anderen mehr Raum.

Von hier aus ist dann auch P.s Schlüsselthese kritisch zu prüfen:
Hat wirklich erst und .nur die martyriologische Deutung eine positive
Wertung des Kreuzes ermöglicht? Oder hat nicht vielmehr die Begegnung
mit dem Auferstandenen die .U'mwertung der Werte' bei Paulus
bewirkt, die er dann in ihren verschiedenen Aspekten unter kritischer
Aufnahme der ihm vertrauten Traditionen zur Sprache brachte? In
diesem Fall würden wir nicht die gesamte Kreuzestheologie über
den einen martyriologischen Leisten zu schlagen brauchen (was eine
verhängnisvolle Reduktion vor allem der Christologie bedeutet), sondern
könnten die von P. in vielen Fallen treffend herausgearbeiteten
martyriologischen Züge differenziert wahrnehmen und zur Geltung
bringen als einen Aspekt der Kreuzestheologie, der nicht zuletzt für
die Frage nach dem Sclbstvcrständnis und der Praxis christlicher Gemeinde
heute von entscheidender Bedeutung ist.

Tübingen Karl Theodor Kleinknccht

Sehmithals, Walter: Die Briefe des Paulus in ihrer ursprünglichen
Form. Zürich: Theologischer Verlag 1984. 191 S. gr. 8' = Zürcher
Werkkommentare zur Bibel. Lw. sfr. 45.-.

Ist es schon soweit, und wie real ist eigentlich eine Theorie? Ist die
Litcrarkritik der kanonischen Paulusbriefe - ohne daß es mancherorts
bemerkt worden wäre - wirklich schon so weit gediehen und sind ihre
Ergebnisse in einem solchen Maße konvergierend, daß es sich wirklich
nahelegt, die Quellen unseres Corpus Paulinum. d. h. die mutmaßlich
vielen, meist kurzen Briefe, wie Paulus sie wirklich geschrieben
und abgeschickt hat und wie sie wirklich bei den Empfängern angekommen
sind, so darzustellen, wie etwa die Synoptikerforschung
die Logienqucllcn darzustellen liebt. Ist die bisherige Flaltung so vieler
, die mit Sch. an demselhen Strang ziehen, etwa falsch gewesen,
wenn sie die innere Freiheit des literarkritischen Experimentierens an
den Paulusbricfcn aus der Gewißheit bezogen, daß ihr - anderen ja
suspektes - literarkritisches Ringen um das bestmögliche Verständnis
des Textes als eine ..Gedankenoperation" dem Text, wie er nun einmal
vorhanden ist, keinen wirklichen Schaden zufügen kann, weil er
ja nach der Operation genau derselbe ist. der er vorher war?

Nach dem ersten Schock - nicht über die Sache, sondern, wie durch
das ..Proömium" angedeutet, über die Direktheit, in der sie hier angeboten
wird - möchte ich persönlich jedenfalls den von Sch. vorgelegten
furchtlosen Versuch bejahen und begrüßen. Warum denn eigentlich
nicht! Und es liegt wohl auch im Zuge der Zeit, exegetische Hypothesen
auf solche Weise auch einem großen Kreis interessierter Bibel-
lescr nahezubringen. Man sollte auch der an sich berechtigten Sorge
vor dem naheliegenden Mißverständnis, das eine wissenschaftliche
Hypothese lürdie Wirklichkeit schlechthin nimmt, keinen zu großen
Raum geben. Anderenfalls dürfte man gar nicht mehr reden und
schreiben; denn was kann nicht mißverstanden werden?

Wenn aber schon die Probe aufs Exempcl der Litcrarkritik der
Paulusbriefe gemacht werden soll, dadurch daß man sich selbst und
den anderen das, was dabei herauskommt, plastisch vor Augen stellt,
so ist keiner dazu besser legitimiert als eben Seh. Denn er hat hier
mehr gearbeitet als sie alle. Ich kenne Jedenfalls keinen Fächkollegen,
der sich intensiver und umfassender mit diesem Aspekt der Paulusbriefe
beläßt hat.

Was Sch. in dem vorliegenden Buch der sludienwilligen Bibelleser-
gemeinde bietet, ist ein Stück ..Neues Testament mit Erklärungen" /'//
Verfremdung. Paulus einmal ganz anders! Es handelt sich um eine
moderne Übersetzung aller Paulusbriefc der sog. Haupt- und Nebensammlung
(das ist einerseits: 1 Kor, 2 Kor. Gal. Phil. I Thess. 2Thess,
Rom; andererseits: Eph. Kol. Phlm) Wort für Wort und Satz für Satz -
nur daß das Arrangement nicht das gewohnte ist. sondern der von Seh.
erarbeiteten und vertretenen Theorie von der historischen Abfolge der
ursprünglichen echt paulinischen bzw. deutcropaulinischen (redaktionellen
) Einheiten entspricht. Dieses ..Vorzeichen" ist im Vorwort
deutlich genug gesetzt: Es werde .....ein Ergebnis der literarkritischen
Analyse des Corpus Paulinum vorgelegt, das den
eigenen . . . Einsichten des Verlässers entspricht" (S. 9). Der Leser, der
über Sch.s etwas apodiktischem Stil - aber man kann ja schließlich
nicht jeden Satz mit ..wahrscheinlich" anfangen - dieses Vorzeichen
vergißt, ist selbst daran schuld. Innerhalb der Grenzen, die ihm der
Rahmen der Werkkommentare steckt (und der z. B. direkte Bezugnahmen
auf die wissenschaftliche Diskussion verbietet, so daß der
„Unterbau" nur im abschließenden Literaturverzeichnis
[S. 189-191 ] sichtbar werden kann), bringt Sch. ein Maximum an Information
, worunter auch vieles ist. das selbst dem Fachkollegen neue
Einsichten und Anregungen zu vermitteln vermag. Schon die Übersetzung
in die Hochsprache der Gegenwart, die der Zielsprache das gleiche
Recht wie der Ausgangssprache gewährt, ist ein Genuß. Jeder der
als ursprünglich angesetzten Einzelbriefe bekommt in einer knappen
Einleitung seinen historischen Ort angewiesen und wird durch kurze
Zwischenbemerkungen sowie durch eine Fülle von (meist impliziten)
Verweisen am Rande erläutert. Größere redaktionelle Zusätze werden